Stiftung Freiräume

WAS IST RECHT?

Recht ist strukturkonservativ


1. Behauptungen über das Recht
2. Recht ist das Höchste
3. Recht ist Herrschaft: Wer die Macht hat, schafft das Recht!
4. Herkunft des Rechts
5. Mythos der Freiheitsgarantie und Menschenrechte
6. Recht ist strukturkonservativ
7. Kritische Zitate zum Recht
8. Linke und AnarchistInnen für Recht?
9. Links
10. Buchvorstellungen zum Themenbereich

Recht ist per se immer Ausdruck vergangener Verhältnisse. Die Gesetzgebung dauert regelmäßig mehrere Jahre - die wenigen Ausnahmen betreffen Krisensituation und vor allem solche Gesetzesvorhaben, die geschichtlich schon mal dagewesene Zustände wieder herstellen, also das Rad der Geschichte zurückdrehen sollen, z.B. die Aufhebung von Datenschutzbestimmungen. Noch länger dauert in der Regel der Prozess, bis ein bestehendes Gesetz als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird, diese Kritik sich gesellschaftlich von einer Randmeinung zur dominanten Meinung entwickelt und dann das - nochmals meist etliche Jahre dauernde - Gesetzesänderungsverfahren anläuft. Viele der heute geltenden Gesetze stammen aus Kaiserzeit, viele wurden auch der nationalsozialistischen Reichsführung erlassen. Sie gelten bis heute - unverändert oder nur in Details überarbeitet. Die Gesetzgebung ist immer nachziehend. Die Kritik an bestehenden Gesetzen bis zur Übertretung von Recht im Rahmen des Prozesses der Veränderung geschehen immer noch in der Periode, in der das alte Recht gilt. Das erschwert den Prozess der Änderung von Recht. Recht entpuppt sich als strukturell konservativ, es hält vergangene Zeit formalisiert fest. Dabei verfügt es durch die Repressions- und Rechtsprechungsorgane über eine erhebliche Machtbasis.

Aus Andreas Anter (2007), „Die Macht der Ordnung“ (S. 168)
Jede Verfassung zielt auf dauerhafte Existenzsicherung; sie proklamiert nicht nur eine neue Ordnung, sondern versucht sie auch zu sichern und vor potentiellen Feinden zu schützen. ...
So wie jede Ordnung darauf ausgerichtet ist, ihre eigene Existenz zu behaupten, beruht auch die Wertordnungslehre auf einer elementaren Verteidigungsbereitschaft. Sie will dazu beitragen, die Ordnung zu sichern.

Aus dieser Logik ergibt sich für den Prozess der Emanzipation eine unlösbare Situation. Er muss (wie andere gesellschaftsverändernde Prozesse auch) ständig eine Veränderung fordern, wenn die alten Regeln noch gelten. Da Recht sich nicht selbst ändert, muss politische Veränderung über die Verschiebung über das Konstrukt der öffentlichen Meinung erfoglen. Diese ist zwar ebenfalls herrschaftsdurchzogen, aber nicht direkt repressiv, d.h. eine abweichende Meinung kann geäußert werden und sich auch ausbreiten, wenn sie eine starke Ausstrahlung hat bzw. durch dominante Diskurssteuerung eine entsprechende Stärke erreicht. Reine Appelle reichen dafür aber regelmäßig nicht aus, notwendig sind Beispiele und zumindest symbolisch die bestehende Ordnung brechende Aktionen. Da in diesem Prozess das alte Recht immer noch gilt, ist es in vielen Fällen unabänderlich, dieses Recht punktuell zu brechen. Der Rechtsbruch ist schlicht eine Notwendigkeit, solange Emanzipation, Fortschritt und andere Prozesse der Veränderung laufen. Die Verpflichtung aller Menschen auf Recht und Gesetz würde, wenn alle sich daran halten würden, den totalen gesellschaftlichen Stillstand bedeuten. Tatsächlich wird aber nicht nur von VertreterInnen autoritärer Staatsmodelle, sondern von der breiten bürgerlichen Mitte der Gesellschaft insgesamt genau diese Position vertreten. Um einen Vergleich zu wagen: Mensch stelle sich vor, die Software von Computern dürfte nicht verändert, d.h. auch nicht weiterentwickelt werden. Die bestehende Software würde jeweils auch die Regeln enthalten, dass genau dieser Stand beibehalten werden muss. Eine absurde Situation - aber in Bezug auf die "Software" der Gesellschaft bzw. des Rechtsstaates genau der Status Quo.

Das, was oben systemtheoretisch begründet wurde, wird noch viel deutlicher, wenn mensch es an der Geschichte und den Alltäglichkeiten misst. Mit religiösem Eifer werden in der Erziehung, in Schule und Universitäten, in Medien und Parlamenten, an den sakralen Orten des Rechtsstaates wie Gerichten immer wieder die Parolen ausgegeben, dass sich alle Menschen an das geltende Recht zu halten haben. Wer aber gleichzeitig in die Geschichtsbücher, auf Gedenktage und verehrte HeldInnen der Vergangenheit schaut, wird einen bemerkenswerten Widerspruch bemerken: Das sind alles GesetzesbrecherInnen. Sie haben ihre jeweilige Zeit verändert (noch zu Lebzeiten oder später), in dem sie die jeweils herrschende Ordnung und damit meist auch geltendes Recht einfach übertreten haben. Aus emanzipatorischer Sicht sind nicht alles HeldInnen der Freiheit - aber das ist nicht der Blickwinkel dieser Betrachung. Entscheidend ist die Feststellung: Wer etwas verändern will, muss das geltende Recht übertreten. Er wird automatisch Verfolgung ausgesetzt sein, denn die Gesetze sind Ausdruck vergangener Gesellschaftsmodelle und der Interessen aktuell Herrschender. Diese werden das bestehende Recht verteidigen, denn es ist ihre Machtbasis und sie sind zudem dafür auch in Amt und Würden gekommen. PolitikerInnen, RichterInnen, Polizei und andere dürfen gar nicht anders handeln als das Gesetz zu verteidigen und es dafür anzuwenden. Sokrates, Jesus, Martin Luther, die RevolutionärInnen der beginnenden Moderne, Georg Elser, Martin Luther King, Nelson Mandela, Albert Einstein - was sie taten (so unterschiedlich es war), richtete sich gegen die bestehende Ordnung, wurde rechtsstaatlich verfolgt und konnte trotzdem, nein: deswegen die Gesellschaft verändern.

Aus Agnoli, Johannes (1967), "Die Transformation der Demokratie", Voltaire Verlag in Berlin (S. 83)
Der allgemeine consensus (über Spielregeln, Wertkodifikationen, nationale Interessen und Freiheitsideen), von dem immer wieder als von der unerschütterlichen und unverzichtbaren Grundlage der Offenheit westlicher Gesellschaften und westlicher Staaten gesprochen wird, erweist sich letzten Endes als Grundfeste des politischen Staates und als hartes Mittel einer geschlossenen "sozialen Kontrolle": er hebt die Offenheit der Gesellschaft wieder auf**. Er kriminalisiert die mögliche Zustimmung der Massen zu einer konkreten Emanzipation, zu einer Ausweitung der Demokratie, zu einer Veränderung auch der Wertmaßstäbe und macht daraus einen Anschlag gegen Demokratie und Freiheit.
** "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" - ein rationaler Satz, wenn nicht sinnigerweise die Feinde der Freiheit bestimmt und gerichtlich anerkannt würden durch die Vertreter der Herrschaft.


Aus Kropotkin, Peter (1985): "Gesetz und Autorität", Libertad Verlag in Berlin (S. 8)
Die Anarchisten ... studieren seinen Charakter und finden als besonderes Merkmal die Unbeweglichkeit statt der fortwährenden Vorwärtsentwicklung der Menschen, die deren Lebensgesetz bildet. Sie fragen, wie sich das Gesetz erhielt, und sie sehen die Scheußlichkeiten des Byzantinismus (Unterwürfigkeit gegenüber Höherstehenden) und die Bestialitäten der Inquisition, die Torturen des Mittelalters; die durch Peitschen zerfetzte Menschenhaut, die Ketten, Feuerzangen und Henkerbeile im Dienste des Gesetzes; die finsteren unterirdischen Kerker, die Schmerzen, Tränen und Verwünschungen der Gemarterten.

Frank Zappa (laut www.astraturm.de)
Ohne Abweichung von der Norm ist Fortschritt nicht möglich.


Also: Wichtig sind nicht nur die Regeln, sondern auch die Definitionsmacht darüber, wer Regeln einhält und wer nicht. Das ergibt sich nicht aus den Sachregeln, sondern aus den Regeln zur Frage der Entscheidungskompetenz - soweit sie überhaupt bestehen und nicht einfach traditionell vergeben sind. Die Frage nach der Definitionsmacht ist immer eine Frage um die Herrschaft als solcher.


Wer die Welt verbessern will, muss das (strukturkonservative) Recht brechen

Aus Fromm, Erich (1985): "Über den Ungehorsam", dtv München (S. 10 f.)
Ebenso wie im alttestamentlichen Mythos von Adam und Eva geht auch nach dem griechischen Mythos die gesamte menschliche Zivilisation auf einen Akt des Ungehorsams zurück. Dadurch daß Prometheus den Göttern das Feuer stahl, legte er die Grundlage für die Entwicklung des Menschen. Ohne das "Verbrechen" des Prometheus gäbe es keine Geschichte der Menschheit. Genau wie Adam und Eva wird auch er für seinen Ungehorsam bestraft. Aber er bereut ihn nicht und bittet nicht um Vergebung. Ganz im Gegenteil sagt er voll Stolz: "Ich möchte lieber an diesen Felsen gekettet als der gehorsame Diener der Götter sein." ...
Alle Märtyrer der Religion, der Freiheit und der Wissenschaft mußten denen den Gehorsam verweigern, die sie mundtot zu machen suchten, um ihrem eigenen Gewissen, den Gesetzen der Menschlichkeit und Vernunft folgen zu können. Wenn ein Mensch nur gehorchen und nicht auch den Gehorsam verweigern kann, ist er ein Sklave; wenn er nur ungehorsam sein und nicht auch gehorchen kann, ist er ein Rebell und kein Revolutionär; er handelt dann aus Zorn, aus Enttäuschung und Ressentiment und nicht aus Überzeugung oder Prinzip.


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