Stiftung Freiräume

WIDERSTAND ALS UTOPISCHES FELD

Widerstand ... ohne sich an Machtkämpfen zu beteiligen


1. Einleitung
2. Emanzipatorische Organisierung und Strategie
3. Widerstand ... ohne sich an Machtkämpfen zu beteiligen
4. Und was heißt das praktisch?
5. Wer schafft den Wandel?
6. Links

Christoph Spehrs symbolträchtiges Bild des Aliens als Handlungsmuster in uns, das uns immer wieder zur Akzeptanz und zur Reproduktion der "Norm"alität bringt, schuf ein Symbol für die Mischung aus Hierarchie, Diskurs und sozialer Zurichtung, die alle Menschen durchschüttelt und den Willen zur Veränderung immer wieder erlahmen lässt. Spehr selbst ist dem von ihm beschriebenen Code längst verfallen und macht heute Karriere bei der Partei Die Linke - umso entschlossener, je mehr diese an emanzipatorischen Inhalt verliert und an Macht gewinnt. Viele aus den ehemals herrschaftskritischen Kreisen, die wichtige Bücher zur Kritik der Nachhaltigkeit und moderner Herrschaftsregime verfasst haben, gehen mit ihm die Stufen der Etablierung hinauf.
Dieses personalisierte Einzelbeispiel ist charakteristisch für politische Bewegung. Außer einem wenig zusammenhängenden Haufen meist jüngerer Menschen, die ihre Dagegen-Kultur als Gruppenidentität aufbauen, aber statt selbstorganisierter Gegenkultur ihren Protest in einer Phase die (verständliche) Angewiderheit ausdrückender Gleichgültigkeit ausleben, gibt es nur wenige, verspenkelte und oft von sonstigen politischen Bewegungen isolierte Grüppchen, die sich an den Spielen um Macht und Beteiligung an Ressourcen nicht beteiligen. Überall anders herrscht kapitalistische Geist. Mit immer perfideren PR-Gags werden Proteststimmungen erzeugt und dann in nutzbare Ressourcen (Spenden, Mitglieder, WählerInnenstimmen) gewandelt. Wer glaubt, in den Apparaten von NGOs und Bewegungsagenturen würden idealistische Ziele verfolgt, täuscht sich. Da sitzen vor allem VerbandsegoistInnen und BetriebswirtschaftlerInnen, die Aktionen und Inhalte nach ihrer Wirkung auf die benannten Ressourcen auswählen. Das Personal ist längst austauschbar geworden, denn Marketingstrategien können an Universitäten oder im Selbststudium erworben werden. Die wenigen verbliebenen IdealistInnen können die NGOs dann gut verkraften oder zu Imagegründen in die Kameras halten.
Protestlabel sind wie Coca-Cola-Schriftzüge: Sie sollen innere Werte, Vertrauenswürdigkeit und mitunter weitere Qualitäten vermitteln. Wie bei anderen Marken auch kommt es nur auf den Ruf, nicht auf die dahinterstehenden Realitäten an. Das ist Marketing wie in anderen Firmen auch. Von den - fast überall nur noch hauptamtlichen - MitarbeiterInnen werden Effizienz und gewinnorientiertes Arbeiten verlangt. Der politische Erfolg gerät in den Hintergrund oder dient als Mittel zu neuen Akquise von Spenden und Zuschüssen bzw. als Förderung für den eigenen Markennamen. Nicht anders steht es um die Binnenstrukturen. Die müssen kapitalistische Effizienz hervorbringen. Experimentieren für eine bessere Welt ist woanders.

Alternativen aufbauen, ohne im Bestehenden hängen zu bleiben
Wenn NGOs und Bewegungsagenturen Proteste initiieren, anheizen oder nutzen, um die dort entstandene Energie in für ihren Selbsterhalt nützliche Ressourcen zu wandeln, so werden sie selbst zu einem integralen Bestandteil der Totalität von Verwertungslogik. Ihr Marktsegment ist der Protest, auf den sie die kapitalistischen Logiken anwenden. Zugespitzt könnte mensch sagen: Sie gehören zu den Gewinnern der Krisen und Zerstörungen, denn der Protest gegen Kriege, Gentechnik, Globalisierung, Atomkraft oder Stuttgart 21 wandelt sich in ihren Händen zu einem profitablen Geschäft. Wie in Konzernen auch wird das zum Selbstläufer, typisch kapitalistisch sogar zu einem, der ständig wachsen muss. Denn die sich vergrößernden Geschäftsstellen schreien nach hohen Geldeinnahmen, damit Löhne und Ausstattung weiter finanziert werden können. Die Werbeetats steigen - wie in anderen Teilen der großen Verwertungsmaschine auch.
Die Basisgruppen und Mitglieder der Organisationen, so noch welche vorhanden sind (moderne Bewegungsagenturen verzichten auf eine "Basis" und setzen nur auf hauptamtlich geführtes Management), bekommen von all dem wenig mit. Ihnen gegenüber werden Kampagnen inhaltlich begründet - so wie es den einzufangenden Mitgliedern und SpenderInnen auch präsentiert wird.
Ältere NGOs, soweit sie ihr Management nicht modernisiert haben, verharren in den üblichen Organisationsmustern der 80er und 90er Jahre. Hier waren staatliche Fördergelder eine wesentliche Basis des finanziellen Überlebens und Lobbyarbeit der zentrale Punkt politischer Einflussnahme. Für beides erschien nützlich, zumindest in den Spitzenpositionen eine hohe personale Durchdringung mit AmtsinhaberInnen in Politik und Ämtern, mitunter auch direkt in der Wirtschaft zu haben. Dieses setzte sich sogar bis in die Basisgruppen großer Verbände fort. Doch wer so finanziell abhängig und personell verstrickt ist, wird Protest nur wohldosiert abgeben können - eben als klassischer Akteur in einer herrschaftsförmig organisierten Gesellschaft. Gewerkschaften sind hier typische Beispiele, wobei die hier beschriebenen Blicke vor allem die mittel-, vielleicht auch für die nordeuropäische Protestkultur prägend sind. Je nach Geschichte von Protest und den gesellschaftlichen Bedingungen sind im weltweiten Vergleich erhebliche Unterschiede zu erwarten - gerade auch abhängig davon, wie die Staatsmacht mit Protest umgeht, sprich: abwehrt, zerschlägt oder aufsaugt.

Emanzipatorischer Protest muss sich immun machen dagegen, ausgesaugt oder selbst zu einem Abbild herrschender Verhältnisse verändert zu werden.

Aus Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): „Multitude“, Campus Verlag in Frankfurt (S. 383, mehr Auszüge ...)
Zu Beginn des dritten Abschnitts dieses Kapitels haben wir gesehen, dass Souveränität einer Wechselbeziehung zwischen zwei Parteien bedarf, nämlich zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, und dass diese Aufteilung innerhalb der Souveränität ein ständiges Krisenpotenzial in sich birgt. Zur Trennung kommt es dort, wo die Multitude als Subjekt in Erscheinung tritt und verkündet: "Eine andere Welt ist möglich", indem sie aus der Beziehung zum Souverän flieht und es sich selbst zur Aufgabe macht, diese Welt zu schaffen.

Beitrag von Stefan Meretz auf Opentheory "Alles für alle"
Aber wie bei allen Projekten besteht das Problem der Ankopplung an die Wertsphäre: Ob beim Wiki, beim Umsonstladen, bei Freier Software - irgendwie muss das gelöst werden. Wichtig finde ich, darauf zu achten, dass (a) die Schnittstelle möglichst klein ist - also nicht x Baustellen bestehen, die geldmäßig abgesichert sein müssen; (b) möglichst wenig permanenter Geldfluss erforderlich ist - etwa regelmäßige Mietzahlungen; (c) es möglichst keine Abhängigkeiten von Geldfluss und Projektinhalt gibt - etwa bestimmte Themen, die vorhanden sein müssen, um eine Förderung zu bekommen etc. In diesem Sinne ist Freie Software (um das mir vertraute Beispiel zu nehmen) günstig: Ich muss "nur" je mich über Wasser halten und in großen Abständen je mein Produktionsmittel auf meinem Schreibtisch.

Praktisch bedeutet das vieles. Unter anderem ...
  • Hierarchien müssen verschwinden, gleichberechtigte Entscheidungsfindungs- und Kommunikationsmethoden ausprobiert werden. Eine umfangreiche Methoden- und Ideensammlung bieten der Reader "HierarchNIE!" und die dazugehörigen Internetseiten.
  • Ressourcen umzuverteilen, darf nicht eine Forderung an die große Politik sein, sondern muss intern ebenfalls umgesetzt werden. Bewegung darf nicht länger in privilegierte MacherInnen und MitläuferInnen aufgeteilt bleiben. Wer mehr machen und wer eher - möglicherweise ja auch nur bei einem bestimmten Projekt - mitlaufen will, müssen die Menschen selbst entscheiden. Es darf nicht durch die Verteilung der Handlungsressourcen wie Geld, Infrastruktur, Wissen, Kontakte, Adress- und Presseverteiler gesteuert sein.
  • Verzicht auf Labels in der Außendarstellung. Das hat gleich mehrere emanzipatorische Effekte: Die Menschen werden nicht mehr, z.T. ja immer ungefragt, als Masse unter dem Einheitsbanner begriffen. Die inhaltliche Botschaft gerät mehr in den Vordergrund und die Apparate der labeltragenden Organisationen oder Parteien verlieren mehrere Möglichkeiten, eine Aktion umzuwidmen zur Jagd nach Mitgliedern, SpenderInnen oder WählerInnen.
  • Befreiung aus den Zwängen des Alltags, unter anderem der ständigen Angst vor fehlenden materiellen Ressourcen. Dazu kann der Ausgleich von Reichtumsunterschieden oder die Stärkung der Unabhängigkeit gehören. Tipps zur Selbstorganisierung geben der Reader "Selbstorganisierung" und die Internetseiten zu alternativen Quellen für Lebensmittel, Klamotten, Häuser, Mobilität usw.

Muss der Weg dem Ziel entsprechen oder heiligt der Zweck die Mittel?
Dazu laufen mitunter bizarre Debatten. Besonders innig geführt wird sie an der Gewaltfrage, die hier als Beispiel dienen soll. Heißsporne beider Lager erklären ihren Disput zum Knackpunkt von Bündnisfähigkeiten. Zudem bieten sie Medien und politische Eliten eine einfache Möglichkeit der Spaltung. Doch warum eigentlich Gewaltfreiheit oder Militanz eigentlich so viel wichtiger sein sollen als andere Fragen der Organisierung, erklären beide "Seiten" nicht. Wenn "Gewaltfreie" handgreiflich gegen Militante werden oder mit bezahlten GewalttäterInnen wie der Polizei kooperieren, stellen sich ebenso einige Fragen wie bei der Beobachtung von militanten Aktionen, die eher aus schlechter Vorbereitung und Ohnmacht folgen denn aus strategischer Befürwortung solcher Konzepte. Zudem widerlegt sich der Verweis auf die Parole "Der Zweck heiligt keine Mittel" meist schnell selbst, weil selbst bei der Verbreitung der Parole umweltzerstörend hergestellte Geräte, käufliche Software oder Atomstrom genutzt werden. Offenbar sind die Mittel doch eher eine Sache der Abwägung, d.h. einer typisch menschlichen Fähigkeit, der Dogmen widersprechen. Dann werden Persönlichkeiten zitiert, z.B. immer wieder Mahatma Gandhi. Doch das der absolute Gewaltfreiheit gepredigt haben soll, ist frei erfunden.

Ein kritischer Blick auf die sich bildenden Lager bei solchen Auseinandersetzungen zeigt aber noch etwas Anderes: Das heiß umkämpfte Thema ist vorgeschoben. Dahinter lagern schwere Kämpfe um Vormachtstellungen in politischer Bewegung. Mit ihrem Gerede von "Gewaltfreiheit" schaffen es BasisdemokratInnen (manche halten sich - trotz Unvereinbarkeit - gleichzeitig sogar für AnarchistInnen), tief in bürgerliche, sogar christliche Kreise einzudringen. Dort lagern gesellschaftliche Einflussmittel und volle Konten.

Das alles kehrt bei anderen Themen wider. Dogmen sind immer ein Mittel der Machtausübung, denn sie sollen dem einzelnen Menschen seine Selbstbestimmung rauben. Es ist wie das kapitalistische "Tu was Du willst, aber sei profitabel", nur dass hier andere Handlungsimperative benannt werden.

Typisch menschlich wäre die Abwägung in jedem Einzelfall - schon allein, weil keine Situation vorhersagbar ist. Wer Mittel auswählt oder ausschließt, ohne zu wissen, wie die Lage sein wird, beschränkt sich selbst. Die Abwägung aber ist etwas Wichtiges: Was ist angemessen? Welches Mittel erreicht welche Wirkung? Was wird dadurch im Detail und was im Allgemeinen gefördert? Kann ein Erfolg im Kleinen mit einer Verschlechterung im Großen, z.B. der Bejahung oder Verschärfung von Herrschaftsverhältnissen einhergehen?
Diese und andere Aspekte müssen beachtet werden. Aus emanzipatorischer Sicht wird immer wieder bedeutend sein, ob politisches Handeln Befreiung bringt oder Herrschaftsverhältnisse legitimiert bis stärkt. Taktische Überlegungen kommen hinzu, wieweit sich Projekte und Vorschläge aufsaugen lassen vom darin geübten demokratischen Rechtstaat, der Kritik erst ignoriert, dann bekämpft und, wenn das immer noch nicht reicht, integriert.


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