Stiftung Freiräume

ABSTIMMEN UND ENTSCHEIDEN

Manipulationen bei Abstimmungen


1. Entscheidungen: Vermeiden, dezentralisieren, losen
2. Methoden zur Entscheidungsfindung
3. Manipulationen bei Abstimmungen
4. Links

Entscheidungsfindung von oben bedeutet, dass irgendeine Instanz Entscheidungen trifft, die dann für alle bzw. eine definierte Gruppe über die Zustimmenden hinaus bindende Wirkung haben. Für diese Definition ist es unerheblich, ob die Instanz ein zentrales Plenum oder ein zentraler Apparat (Vorstand, Koordinationskreis, Regierung, Steuerungsgruppe, Gericht u.ä.) ist. Unerheblich ist auch, welches Abstimmungsverfahren (Mehrheit, qualifizierte Mehrheit, Konsens usw.) verwendet wird. Entscheidend ist, dass überhaupt entschieden wird mit einer Bindung für alle. Eine Entscheidung erhebt sich dabei erst dann über den Appell oder die freie Vereinbarung, wenn sie mit Durchsetzungsmitteln verbunden ist - in politischen Gruppen z.B. mit dem Hausrecht, dem eingeschränkten und kontrollierten Zugang zu Informationen, Ressourcen, Geld, Verteilern usw. Alle Abstimmungsverfahren mit bindender Wirkung für alle stellen ein hierarchisches Element dar, weil durch und über sie Dominanz ausgeübt wird.
Abstimmungen aller stellen also per se einen Vorgang von Hierarchie dar. Dazu bedarf es keinerlei zusätzlicher Machtausübung mehr. Allerdings ist das kombinierbar bzw. bedarf sogar der Kombination. Machtausübung ist regelmäßig verbunden mit Abstimmungen oder, als Sonderfall, Wahlen. Nur durch sie sind ungleiche Handlungsmöglichkeiten formalisierbar. Abstimmungen verbinden die internen Hierarchien mit denen der bürgerlichen Gesellschaft, denn deren Durchsetzungsorgane reagieren auf formale Zuständigkeiten. Wer Hausrecht hat, als Vorstand oder GeschäftsführerIn, DemoleiterIn u.ä. agiert, kann Polizei, Justiz, Behörden usw. für interne Auseinandersetzungen einsetzen oder zumindest damit drohen.
Hinzukommt, dass die Abstimmung einen Legitimationsgewinn für diejenigen schafft, die eine Abstimmung gewonnen haben. Sie können mit Verweis auf die Abstimmung agieren. Das gilt allerdings vollständig nur für diejenigen, die auch den herausgehobenen Zugang zu Ressourcen und formalen Möglichkeiten haben. Wie z.B. die Rauswürfe von AktivistInnen beim Castor-Widerstand im November 2002 gezeigt haben (www.projektwerkstatt.de/aktuell/castor/castor_lueneborg.html), nützen selbst Plenums-Entscheidungen denen, die weder über Hausrecht noch über irgendeine andere formale Macht verfügen, wenig. Die Eliten, die mit diesen Rechten ausgestattet sind, ignorierten zweimal Plenumsbeschlüsse und verboten bereits abgestimmte Veranstaltungen. Abstimmungen stärken daher vor allem die bestehenden Hierarchien, denn ...
  • sie konstruieren ein Kollektiv: Alle stimmen ab, dadurch wird das "alle" erst konstruiert als Einheit und Rahmen der Entscheidung. Autonomie- und vielfaltsorientierte Organisierungsmodelle werden durch Abstimmungen immer plattgewalzt.
  • bei den Abstimmungen haben die dominanten Kreise deutliche Vorteile kraft Zugang zu Informationen, Steuerung der Diskussion in ihrem Sinne, Geschäftsordnungstricks, oftmals Bestimmung der Moderation, Benennung scheinbarer Sachzwänge usw.
  • die Personen mit Erfahrung in Organisierungsfragen haben oft eine bessere Übung in der Vorbereitung und Manipulation von Abstimmungsverfahren (siehe unten).
  • eine gewonnene Abstimmung bedeutet eine zusätzliche Legitimation für das, was die dominanten Kreise ohnehin wollen.

Entscheidungsfindung von unten bedeutet daher den grundsätzlichen Versuch, auf Entscheidungen mit allgemeingültigen Charakter zu verzichten. Entscheidungen gelten für die, die gemeinsam eine Entscheidung treffen wollen (z.B. eine konkrete Gruppe, die etwas Konkretes zusammen plant). Größere Zusammenhänge organisieren sich dagegen als vielfältiges Miteinander, genauer: als autonome Teilbereiche (offene Plattformen u.ä.) in freier Vereinbarung (Kooperation der Teilbereiche ohne übergeordnete Gremien und Entscheidungen).

Zusätzlich ist aber noch wichtig, dass nicht nur das Entscheiden mit Bindungswirkung für alle ein Akt der Hierarchie ist, sondern auch jedes Verfahren der Entscheidung umfangreiche Möglichkeiten der Manipulation bietet. Somit sind zentrale Entscheidungen (also die mit Durchsetzungsanspruch gegenüber allen bzw. zumindest einigen, ohne deren Einverständnis für diese Art der Entscheidung zu haben) doppelt dominanzfördernd. Neben Alternativen für solche Entscheidungsfindung ist ein kritischer Blick auf die Manipulationsmittel wichtig, um Dominanz zu entlarven und angreifen zu können. In vielen Fällen wird dabei aber deutlich, dass Manipulationsmöglichkeiten immer mit Abstimmungen verbunden sind - also die Überwindung der Probleme nur mit der Abschaffung solcher Entscheidungen möglich ist. Andere Manipulationen können auch einzeln abgewendet werden.

Verkürzung der Fragestellung
Entscheidung bedeutet immer die Reduzierung von Möglichkeiten - nicht nur im Ergebnis, sondern schon in der Formulierung. Denn es ist nicht möglich, über viele Vorschläge, Varianten derselben oder gar Kombinationen aus einigen abzustimmen. Umfangreiche Abstimmungsverfahren versuchen, das wenigstens teilweise zu berücksichtigen, z.B. wenn bei mehreren Alternativvorschlägen zuerst die Vorschläge mit den wenigsten Stimmen ausscheiden. Aber selbst das ist nur eine geringfügige Verbesserung, denn mehr als 10 Alternativvorschläge würden selbst bei einfachen Fragestellungen bereits die Übersichtlichkeit der Abstimmung gefährden. Zudem bleiben Kombinationen sowie Veränderungen während des Abstimmungsverfahrens unmöglich. Die Formulierung der Fragestellung verkürzt also die Diskussionsinhalte beträchtlich. Am deutlichsten ist das bei reinen Ja-Nein-Fragen, wo also nur ein Vorschlag angenommen oder abgelehnt wird. Diese Extremform der Reduzierung von Möglichkeiten ist die häufigste Abstimmungsform, gefolgt von der Abstimmung zwischen zwei Alternativen. Das bedeutet, dass Abstimmungen fast immer eine Reduzierung auf sehr wenige Möglichkeiten bedeuten.

Manipulation über die Fragestellung
Entscheidend zumindest bei Ja/Nein-Abstimmungen ist die Formulierung der Frage. Schon bei Mehrheitsabstimmungen ist der suggestive Gehalt bei der Frage wichtig - angefangen von den platten Formen "Will etwa jemand ...?" bis hin zu den nicht so offensichtlichen Tricks.
Beispiel: Bei einer Volksabstimmung in Tschechien im Jahr 1998 ging es um die Frage der Privatisierung von wichtigen Unternehmen. Die Frage, die den WählerInnen vorgelegt wurde, lautete geschickterweise: "Sollen strategisch wichtige Unternehmen nicht privatisiert werden?". Denn nun zählte jede Enthaltung und Nichtabstimmen für die PrivatisierungsanhängerInnen, ein Wahlboykott reichte. Das Ergebnis: 84 Prozent aller Abstimmenden votierte gegen die Privatisierung, aber nur 44 Prozent beteiligte sich. Damit war der Entscheid abgelehnt, eine Nicht-Privatisierung fand nicht statt - es wurde als privatisiert! (Quelle: ZfDD 4/01, S. 11)
Noch klarer ist diese Manipulationsmöglichkeit bei Konsensentscheidungen. Hier kommt es wegen des Vetorechtes darauf an, die Frage so zu stellen, dass entweder niemand ein Veto wagt oder umgekehrt das Veto (dann auch aus den "eigenen Reihen" der FragestellerInnen möglich) zum gewünschten Ziel führt.
Beispiel: Wer will, dass nicht geraucht wird, stellt die Frage taktisch umgekehrt und legt dann ein Veto ein (bzw. lässt Verbündete in dieser Frage ein Veto einlegen, damit es nicht so auffällt). Auch umgekehrt denkbar, um Rauchen durchzusetzen.

Einschränkung von Vielfalt, Kooperation und Unterstützung
Debatten, die auf eine Entscheidung hinauslaufen, führen zu vereinheitlichten Ergebnissen und auch zu vereinheitlichtem Denken. Wenn dagegen die Debatte so geführt würde, dass viele Möglichkeiten offen sind und auch hinterher verwirklicht werden können, aber es eher darauf ankommt, diese in Einklang zu bringen (dass sie sich nicht aufheben, bekämpfen, behindern ...), so wird eine ganze andere Diskussion entstehen. Das ist wichtig - entscheidungsorientierte Debatten sind voller Ängste (zu verlieren), Taktik, Bündniskonstellationen usw. Debatten ohne Entscheidung können dagegen offen und angstfrei organisiert werden. Das bietet selbst dann erweiterte Möglichkeiten, wenn es um Kritik am Verhalten von Personen oder Gruppen geht. Steht eine Entscheidung an, so regiert die Angst - z.B. vor Ausgrenzung. Die angegriffene Person oder Gruppe wird sich meistens taktisch verhalten. Fehler einzugestehen, selbst Kritik zu formulieren, Lösungsvorschläge jenseits von Raus oder Nicht -Raus (schwarz ?weiß!) einzubringen, wird immer eine taktische Note haben. Debatten mit anschließender Entscheidung sind Sieg-Niederlage-Debatten. Wie bei Podiumsdiskussionen wirkt sich das auf den Stil aus. Die Menschen sind nicht mehr authentisch, sondern zumindest auch taktisch (viele nur!). Die Verklärung durch das Abstimmungsverfahren Konsens, bei dem behauptet wird, es sei nicht mehr so, ändert daran nichts. Immer dann, wenn eine Entscheidung ansteht, wird die Debatte taktisch geprägt sein.

Durchsetzungsmittel
Entscheidungen machen nur Sinn, wenn es Durchsetzungsmittel gibt - von Zwangsmitteln bis zu Gruppendruck, von Hausrecht bis zum kontrollierten Zugang zu Ressourcen, Geld, Räumen, Informationsflüssen und mehr. Das aber verringert Selbstbestimmung und Vielfalt der Einzelnen und Teilgruppen. Zudem sind Durchsetzungsmittel, so sie erst einmal akzeptiert sind, auch immer gezielt einsetzbar als Machtmittel.

Verschleiernde Rhetorik
Abstimmungsverfahren sind Herrschaft. Um das zu verschleiern, gibt es eine beachtliche Menge an Begriffen und Diskursen, um darüber hinwegzutäuschen. Die zentralen Begriffe sind die der Demokratie einerseits (vor allem bei Mehrheitsabstimmungen und in formalisierten Strukturen) und die der Basisdemokratie plus Konsens andererseits. Letzterer ist in linken Zusammenhängen stark verbreitet. Basisdemokratie kann dabei noch stärker zentralisierend wirken wie die Mehrheitsdemokratie - nämlich dann, wenn durch den Basisdemokratie ?Diskurs (wenn alle über alles abstimmen, ist es am meisten gleichberechtigt ...) alle Handlungen im Plenum diskutiert werden und die Autonomie der Einzelnen bzw. der Teilgruppen auf Null reduziert ist. Das ist das Milieu, in dem sich Eliten wohlfühlen, weil es nichts mehr gibt, dass sich ihrer Kontrolle entzieht. Und weil diese totale Kontrolle noch Basisdemokratie heißt, in den meisten Köpfen als Gegenteil von Hierarchie begriffen. Konsens steigert diese Verschleierung. Vor allem das Vetorecht wird als Stärkung der Einzelnen beschrieben. Das steht in der Konsens ?Propaganda (die meist sehr manipulativ, aggressiv und alles vereinnahmend rüberkommt) immer ganz vorne. Tatsächlich aber ist das Vetorecht vor allem eine Absicherung der Eliten, immer die Notbremse ziehen zu können, wenn die Kontrolle entgleitet. Legen dagegen nicht ?elitäre Personen ein Veto ein, kommt es meist zu krassen psychologischen Angriffen und Ausgrenzungen. Recht häufig werden einmal eingelegte Vetos später zurückgezogen. Damit es nicht auffällt, dass damit das Dominanzmittel Konsens entlarvt wurde, wird dann das Veto als Missverständnis u.ä. beschrieben. Ganz ähnlich wird oft schon bei der Abfrage des Vetos agiert, indem dort nochmals betont wird, wie schwerwiegend ein Veto sein kann usw. Eliten kennen das Verfahren und sind davon wenig beeindruckt, aber weniger erfahrene Menschen sind oft sehr eingeschüchtert - was auch das Ziel ist.

Geschickte Abläufe im Entscheidungsfindungsverfahren
Wo entschieden wird, können auch entscheidungsrelevante Abläufe taktisch organisiert werden. So ist denkbar, dass sich Wortbeiträge aufeinander beziehen, Redezeitbegrenzungen dadurch ausgehebelt werden, dass mehrere nacheinander einen Gedanken entwickeln (z.B. regelmäßig die Elite oder die hinter einer Aktion stehende Orga-Gruppe), oder dass das Ende der Debatte geschickt so organisiert wird, dass sich z.B. mehrere aus einer Gruppe melden und dann jemand aus derselben Gruppe ein Ende der Redeliste beantragt. Dann werden die Personen aus der Gruppe als letztes sprechen können. Ebenso können sich taktisch weitgehende Vorschläge und Kompromisse so ergänzen, dass am Ende das, was eigentlich erreicht werden sollte, als Kompromiss wirkt. Es ist zwar möglich, dieses Taktieren zu durchschauen, allerdings gehört dazu ein gezielter und ständiger Blick durch die "Herrschaftsbrille", also das Erkennen von Taktiken, zusammenhängenden Eliten usw.

Moderation
Moderation ist immer Herrschaft. Sie kann zwar dazu dienen, aus eine noch dominanzgeprägtere Situation zu überwinden, dennoch muss immer klar sein, dass die moderierende Person mehr Möglichkeiten hat als alle anderen. Über die moderierende Person können Eliten oder andere die Moderation beeinflussende Kreise das Geschehen lenken. Dazu gehören viele der schon benannten Manipulationstricks, z.B. die Formulierung der zu entscheidenden Frage oder Geschäftsordnungstricks. Gehen sie von der/m ModeratorIn aus, fallen sie noch seltener auf. Psychischer Druck vor Abfrage des Vetos oder die Feststellung einer Einigung sind immer wieder Sache der Moderation.

Fazit
Alle denkbaren Abstimmungsformen bedeuten nicht nur die Entscheidungsmacht eines Teil über den anderen - auch wenn die Durchsetzungsmechanismen unterschiedlich sind, ebenso wie die Manipulationsmöglichkeiten. Daraus folgt, dass der Abbau von Herrschaft nicht über neue Methoden in Abstimmungsverfahren zu erreichen sind, sondern Abstimmungsverfahren als solches in Frage gestellt werden müssen - ganz oder zumindest als Instrument zur Beherrschung auch derer, die gegen eine abgestimmte Lösung sind bzw. an der Abstimmung nicht teilnehmen. Das Gegenmodell ist die gewollte Vielfalt selbstbestimmt ("autonom") handelnder Personen und ihrer freien Zusammenschlüsse sowie die freie Kooperation zwischen all diesen. Vernetzung, Treffen aller usw. dienen dann nur noch dazu, diese Vielfalt weiterzuentwickeln und Kooperationen zu fördern.

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