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PRODUKTIV STREITEN!

Fliegende Fetzen:  Emanzipatorische Streitkultur und die Steine im Weg dahin


1. Fliegende Fetzen:  Emanzipatorische Streitkultur und die Steine im Weg dahin
2. Konfliktbearbeitung
3. Links
4. Buchvorstellungen zum Themenbereich

"Was ist Streit? Streit ist eine sehr intensive Interaktion zwischen Menschen, eine Aus-ein-ander-setzung mit mir und anderen - die nicht per se als ,Gegeneinander' abgestempelt werden kann, wie es HarmoniesiererInnen teilweise tun."

Aus Erich Fromm, "Anatomie der menschlichen Destruktivität" (S. 71)
Liegt die Besonderheit - und das Tragische - des menschlichen Handelns nicht gerade darin, daß der Mensch versucht, sich seinen Konflikten nicht zu stellen ...

Intro
Streit und Konflikte gehören zu Gruppenprozessen von unten selbstverständlich dazu - und das ist auch gut so! Ein Blick auf die derzeitigen Bewegungszusammenhänge verdeutlicht aber schnell, dass eine emanzipatorische Streitkultur nicht existiert: Anonymisierte Schlammschlachten; Leute, die sich einfach nur anpöbeln; Mackertum und Hahnenkämpfe. Daneben gibt es eine starke Tendenz, Konflikte zu verteufeln und statt dessen zu harmonisieren bis zum Abwinken ...
In diesem Text soll analysiert werden, warum Streit in der Szene so destruktiv verläuft und warum Harmonisierung niemals eine Lösung sein kann. Im Gegenzug versuche ich zu begründen, warum Streit ein wichtiges Element unseres Zusammenlebens und einer gegen Herrschaft gerichteten Bewegung ist. Und dann noch ein paar Anregungen zur Frage, wie eine herrschaftsfreie Streitkultur denn aussehen könnte.
Um einen falschen Eindruck zu vermeiden: Bedürfnisse nach Gemeinschaft und harmonischem Zusammenleben sind vollkommen in Ordnung und sollten auch offen ausgesprochen werden - absolut gesetzt bzw. als Selbstzweck ist beides politisch und persönlich fatal.

Streit um Harmonisierung
In Teilen politischer Bewegungen gibt es eine bis heute anhaltende Tendenz zur Harmonisierung. Harmonisierung meint: Streit wird zur Bedrohung für den Zusammenhalt der Gruppe aufgebaut und verklärt, denn real sind es ganz andere Probleme, die unser Zusammenleben unerträglich machen, wie z.B. Anonymisierung, patriarchale Rollenmuster, oder fehlende Sensibilität. Inhaltliche wie persönliche Auseinandersetzungen werden einer fragwürdigen "Wir"-Identität geopfert, einem Gemeinschaftsdenken, dass von jedem emanzipatorischen Anspruch abgekoppelt wird. Konflikte werden verdeckt statt ausgetragen. Es wird ein harmonischer (Quasi-)Naturzustand konstruiert, der durch Konflikte 'verschandelt' und zerstört wird. Wer Probleme offen thematisiert, wird zum Feind des verlogenen, harmonischen Zusammenlebens, unter dessen Deckmantel sich Abzocke, Verarschung und Unterdrückung abspielen.
Dazu passt auch ein esoterischer Boom seit Mitte der 70er, spürbar auch in linken Zusammenhängen: etliche Bücher, Seminare, Workshops, die uns raten, sich mit dem "eigenen Inneren" zu beschäftigen, "inneren Frieden zu finden". Statt der Verbindung von Selbstveränderung mit sozialer Umwälzung werden die Einzelnen auf sich allein zurück geworfen. Nicht in allen, aber in den Mainstream-Esoteriken werden Aggressionen, Wut, Hass und Konflikt als "böse" definiert und verdrängt, als gehörten sie nicht zu uns. Folge ist oft eine Ent-Politisierung, der Rückzug ins Private (Zweierkiste, Familie usw.). In den 80ern entwickelte Techniken zur Harmonisierung tauchen dabei immer häufiger in allen Bereichen der Gesellschaft auf - die "linke" Szene ist da keine Ausnahme: Moderation, Mediation, Beschwichtigungsrhetorik ("Jetzt streitet euch doch nicht so") und Konsensfixierung auf Sommercamps, überregionalen Treffen und Plena. Techniken, die längst zum Repertoire moderner, demokratischer Herrschaftssicherung gehören, d.h. von staatlicher Seite bewusst eingesetzt werden, um gesellschaftliche Widersprüche und (Klassen-)Gegensätze zu entschärfen (z.B. Ausbau Frankfurter Flughafen).
Die Folgen von Harmonisierung grundsätzlich sind immer ähnlich: Aggressionen werden unterdrückt und verdrängt. Ärgernisse summieren sich. Sehr häufig kommt es dann irgendwann zum großen Knall, bei dem sich aufgestaute Wut "entlädt" und Zusammenhänge bzw. persönliche Beziehungen auseinander krachen. Die Kritik ist aber noch weitergehender:

Kritik an Harmonisierung
  • Nicht-Umgang mit Konflikten: Harmonisierung ist in jedem Fall ein Nicht-Umgehen mit Konflikten, die dämonisiert, zugekleistert und verdrängt werden - nicht aber gelöst oder produktiv ausgetragen! Indem Probleme, Aggressionen und Zoff immer wieder verdrängt, abgeschoben werden, werden sie gerade unlösbar gemacht. Konflikte, die aus dem Bewusstsein verbannt werden, verselbständigen sich, wie sich später dann in eingefahrenen Verhaltensmustern zur Konfliktbearbeitung zeigt; immer schwieriger wird ein bewußter Umgang.
  • Gemeinschaftszwang: Das ständige Überbewerten von Gemeinschaft, Einheit und Konsens erzeugt einen Anpassungsdruck auf die Einzelnen. Eigenwilligkeiten, Kreativität und kritische Positionen werden verdrängt und unterdrückt, ebenso wie Wut, Hass und Aggressionen. Und dass steht der Selbstentfaltung einzelner wie aller entgegen.
  • Verschleierung von hierarchischen Strukturen: Harmonisierung stützt Hierarchien und Herrschaft, weil sie nicht mehr thematisiert werden (dadurch logischerweise aber nicht wegfallen).
  • Ent-Politisierung: Harmonisierung kann zur Ent-Politisierung führen, wenn es nur noch abstrakt um "Gemeinschaft" geht.

Gründe für Harmoniesucht
Bei "CheckerInnen" mit heraus gehobenen Positionen stecken oft Herrschaftsinteressen dahinter: Unter Rückgriff auf das Zerrbild einer 'harmonischen' Gemeinschaft und Harmonisierungstechniken kann eine diskussionsfeindliche Atmosphäre erzeugt werden, in der sie ihre Interessen viel besser, reibungsloser von oben durchsetzten können. Die Betonung von Konsens als einzig denkbarer Entscheidungsmethode suggeriert dabei Gleichberechtigung. Bei den meisten Menschen liegen reale, verinnerlichte Ängste (z.B. vor Spaltung und Kritik) der Harmoniesucht zu Grunde. Durch Erziehung und Sozialisation haben viele von uns ein einengendes Richter- bzw. Bewertungsdenken drauf ("Was denkt der jetzt wohl über mich?"). Dieses zu überwinden ist ein Akt der Emanzipation von der Beurteilung durch andere, der jedoch nur Schritt für Schritt ablaufen kann und im Moment der Auseinandersetzung einer grundsätzlichen und mehr oder minder stark zum Ausdruck gebrachten Wertschätzung durch andere Bedarf. Bei allen Streits und Diskussionen sollte daher mitgedacht werden, dass es darum geht, konkretes Verhalten oder bestimmte Vorgänge, Abläufe usw. zu kritisieren, nicht, Menschen in ihrer Ganzheit anzugreifen - auf allen Seiten. Dazu gehört z.B. sensibles Formulieren von Wahrnehmungen statt verurteilend wirkenden Objektivierungen. Ebenso wichtig ist zu lernen, Kritik nicht als Angriff auf die eigene Person zu begreifen und deshalb "dicht" zu machen, sondern als solidarisches und konstruktives Moment des Zusammenlebens und Chance zur Selbstveränderung. Aus diesen Gründen ist es wichtig, eine freundschaftliche Atmosphäre herzustellen, zu erleben und sich gegenseitig zu vermitteln, unabhängig vom konkreten Tun "ok" zu sein. (Weiterführende Gedanken Vorschläge und Ideen finden sich im Kapitel "Kommunikation" des Organisierung "von unten"-Protokolls)

Wider der Harmonisierung: Streit ist eine Produktivkraft!
Sinnvoll wäre, sich das Motto der freien Softwarebewegung anzueignen und populär zu machen: Streit ist eine Produktivkraft! Neue Ideen und Erfindungen ergeben sich erst im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Anschauungen, unterschiedlicher Menschen. Konflikte schaffen die Möglichkeit individueller und kollektiver Weiterentwicklung, indem alte Positionen in Frage gestellt werden. Sie dienen außerdem der Klärung von Problemen und Positionen: Konflikte sind die Voraussetzung für Harmonie. Erst durch das Zusammenspiel, über die Auseinandersetzung der Menschen kann Harmonie, Einigkeit aktiv hergestellt werden - wenn mensch das denn haben möchte, was ja total in Ordnung ist! Diese Harmonie muss immer wieder neu erstritten werden ...
Ohne Streit, inhaltliche Debatte und Zoff ist keine Bewegung von unten zu machen - schon gar nicht die herrschaftsfreie Welt. Streit ist keine Bedrohung für ein nettes Miteinander, sondern ein wichtiger Teil davon - ohne den eine als "Frieden" getarnte Langeweile droht. Nun, hört sich ja vielleicht ganz nett an - doch nun ein Blick auf linke Bewegungsüberreste:

Die Steine im Weg: Wenn Linke sich streiten
Trotz aller Harmonisierung wird in radikalen Bewegungszusammenhängen zur Zeit immer noch viel gestritten. Deutlich ist aber, dass sich meist weder produktiv, noch emanzipatorisch noch freundschaftlich gezofft wird - ganz im Gegenteil. Kritik an der vorherrschenden Streitkultur ...
  • Diffamierung und Reproduktion patriarchalen Verhaltens: Lautes Reden, Drohgebärden und Beleidigungen sind auch in Bewegungszusammenhängen verbreitet, ebenso wie patriarchale Muster (z.B. Sieg-Niederlage-Logik).
  • Herrschaftsförmigkeit: In Konflikten geht es um das Absichern der eigenen (Macht-)Position in der "Szene", nicht der solidarischen Auseinandersetzung.
  • Keine direkte Kommunikation: Streit hinter dem Rücken (also typisch bürgerlich) oder / und vollkommene Anonymisierung: Debatten haben oft eine entpersonalisierte Basis (z.B. Mailinglisten, Internetforen oder Interim), wobei hier Konspirativität vorgeschoben wird, um in "Heckenschützenmanier" agieren zu können ...
  • Pädagogenmentalität und Besserwisserei: Mensch will andere von oben herab belehren (Beispiel: "Lies doch erst mal Marx!").
  • Vereinheitlichung: Unterschiedliche Standpunkte werden nicht akzeptiert. Statt dessen wird eine Angleichung an die (objektive) "Wahrheit" gefordert. Streit ist so gerade gegen Vielfalt gerichtet, die seine eigene Voraussetzung ist! Differenz wird als Bedrohung begriffen, wohingegen Begriffe wie Einheitsfront immer noch unhinterfragt positiv besetzt sind. Spaltungen sind so vorprogrammiert. (Womit nicht der Sinn gemeinsamer Organisierung in Frage gestellt werden soll.)
  • Standpunktfixierung: Es wird nicht aufeinander eingegangen, miteinander diskutiert, sondern Standpunkte reproduziert, was langweilig und nervig ist und keine Weiterentwicklung ermöglicht.

Die aufgezählten Punkte zeigen, dass nicht Streit und Konflikt an sich das Problem darstellen, sondern die gegenwärtige Form der Auseinandersetzung. Daraus ist nicht Harmonisierung abzuleiten, sondern jede Menge notwendiger Veränderungen. Andere Formen des Streitens und kreative Gruppenprozesse sind zu fördern, bewusst zu entwickeln und offensiv in Zusammenhänge zu tragen.

Grundzüge und Bedingungen für eine herrschaftsfreie Streitkultur
  • Direkte, offene Intervention: Konflikte ohne Umwege führen, Streitpunkte sofort und gegenüber den richtigen AdressatInnen ansprechen. Alles andere stärkt Institutionen (Plena usw.) und informelle, intransparente Zirkel - und staut Enttäuschung, Wut und andere belastende Gefühle bei dir ab, anstatt sie an die weiter zu geben, die sich verursachten!
  • Intersubjektivität: Das Konzept der objektiven Wahrheit über Bord werfen. Ziel ist nicht die Angleichung oder Einebnung an die eine "Wahrheit", sondern die Weiterentwicklung der unterschiedlichen Positionen und Menschen, z.B. durch gegenseitiges Bezug nehmen (statt Standpunktblabla...).
  • Prozesshaftigkeit: Diskussionen und Debatten als offenen Prozess begreifen - es gibt kein Ende, für immer feststehenden Erkenntnisse oder Standpunkte. Bewegung statt Stillstand!
  • Diskriminierungsfreie Räume: In der Gruppe und im alltäglichen Miteinander über Ängste vor Konflikten, vor Bewertung und (Zuneigungs-)Verlust reden, diese ernst nehmen und zusammen nach Lösungen suchen. Ziel ist eine Welt, in der keine mehr Angst muss, anders zu sein. Aus dieser Perspektive sind Differenz, Unterschiede und Vielfalt nicht länger Bedrohung sondern Bereicherung - womit aber keine Beliebigkeit gemeint ist.
  • Streit als "Normalfall": Davon ausgehen, dass Streit und Konflikte selbstverständlich zu einem menschlichen Miteinander gehören, und es auf den Umgang damit ankommt. Im Alltag und anderswo gilt es, der vorherrschenden, negativen Bedeutung entgegen zu treten ("Streit ist cool!"), d.h. zu vermitteln, dass Streit keine "Gefahr" für ein nettes Zusammenleben ist, sondern ein wichtiges Element davon.

Wichtig ist, auch neue Formen für Diskussionen zu entwickeln, die diesen Ansprüchen gerecht werden, z.B. Fishbowl statt hierarchischen Podiumsdiskussionen oder dominanzförderndem Plenum. Bleibt zu hoffen, dass dieser Text weitreichende Streits entfacht. Lasst die Fetzen fliegen ... für eine herrschaftsfreie, solidarische und kreative Streitkultur!

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