Stiftung Freiräume

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

Von Verbrechen und wie man sie verarbeitet


1. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
2. Von Gewalt, Kriminalität und was davor geschieht
3. Von Schuld und Verantwortung
4. Von Verbrechen und wie man sie verarbeitet
5. Von Sündenböcken und fragwürdigen Ursachen
6. Das Recht – wessen Recht?
7. Ich will nur das Beste für dich!
8. Von Rache und Gerechtigkeit
9. Die alles entscheidende Frage
10. Von Reformen und wie es sein sollte

Von diesem Standpunkt aus gesehen müsste eigentlich jedes einzelne Verbrechen in einer ganz anderen Art angegangen werden. Das Verbrechen müsste man als ein Auswuchs sozialer Missverhältnisse und somit als ein gesellschaftliches Problem betrachten. Durch die Tatsache aber, dass man Kriminalität bestrafen kann, braucht man sich nicht weiter um diesen Hintergrund zu kümmern. Strafe verhindert eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Problemen, Strafe verhindert Kommunikation und schiesst dadurch auch am Ziel vorbei, Gewalt zu mindern.

Ich möchte dies mit vier Beispielen veranschaulichen. Alles Verbrechen die im Jahr 2006 in den Medien starke Aufmerksamkeit erregten. Sie haben aber noch eine weitere Gemeinsamkeit: bei allen handelt sich um ein Sexualverbrechen an Kindern. Also allgemein ein sehr emotionales und überaus heikles Thema in der Öffentlichkeit. Die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe für „Kinderschänder“ wird immer populärer und spätestens seit der Annahme der Verwahrungsinitiative im Februar 2004[1] ist das Klima für Sexualstraftäter ganz allgemein sehr rau geworden. Das erste ereignete sich im August 2006. Im österreichischen Strasshof, in der Nähe von Wien, konnte die achtzehnjährige Natascha Kampusch ihrem Peiniger Wolfgang Prikopil entfliehen, nachdem sie acht Jahre lang in einem Kellerzimmer festgehalten wurde. Das Drama wurde in den Medien spektakulär bearbeitet. Der österreichische TV-Sender RTL strahlte ein Interview mit der jungen Frau aus und machte damit Millionengewinne.[2] Die Ereignisse wurden äusserst dramatisch dargestellt und die Situation des Opfers bis aufs äusserste beleuchtet. Die allgemeine Reaktion der Bevölkerung war totales Unverständnis für eine solche Tat. Hätte er sich nicht bereits vor einen Zug geworfen, man hätte nach dem Tod oder zumindest nach lebenslanger Sicherheitsverwahrung für den Entführer Prikopil geschrieen.

Das zweite Ereignis war im Oktober des Jahres in den Medien, als der Prozess gegen Mario M. eröffnet wurde. Er entführte Anfang des Jahres die vierzehnjährige Stephanie in Dresden (D) und hielt sie während fünf Wochen in seiner Wohnung gefangen, wo er sie mehrfach sexuell misshandelte. Mit der Eröffnung des Prozesses wurden die Gefühle der Bevölkerung wieder aufgemischt und der Prozess zu einem Justizskandal erklärt, weil der bereits vorbestrafte Täter nicht hart genug angegangen wurde.[3] Eines war klar: Die Bevölkerung wollte den Mario M. nie mehr ausserhalb der Knastmauern sehen.

In diesen beiden Fällen ist eindeutig die Forderung nach einer möglichst harten Strafe zu erkennen. Die gesellschaftliche Moral, das Rechtssystem verlangte die Bestrafung der Täter. Über die Gründe einer solche Tat und darüber, wie sich ähnliche Geschehnisse in Zukunft vielleicht vermeiden lassen könnten, wurde in keinem einzigen Medium ein Wort verloren.

Juni 2006. Aus Rhäzüns im Kanton Graubünden kommt die Meldung von einem fünfjährigen Mädchen, welches von zwei elf- und fünfzehnjährigen Buben vergewaltigt wurde. Knapp fünf Monate später kommt ein Fall aus Steffisbrug (BE) in die Medien. Sieben 15-18Jährige haben eine dreizehnjährige Mitschülerin mehrfach vergewaltigt. Keine Woche später liest man von einer ähnlichen Tat, diesmal in Zürich Seebach: eine Gruppe von 13 15-18jährigen Jungs vergewaltigen über eine Woche hinweg mehrmals die dreizehnjährige Freundin eines Kumpels und filmen die Tat mit ihren Mobiltelefonen. Soweit so dramatisch. Es tauchen plötzlich immer mehr ähnliche Fälle auf.

Der aktuelle Zürcher Fall, in dem eine Gruppe von Jugendlichen ein schweres Sexualdelikt begangen hat, steht nicht allein: Im Februar 2005 vergewaltigten in Felsberg im Kanton Graubünden drei Knaben im Alter von 12 und 13 Jahren ein 12-jähriges Mädchen aus ihrer Klasse. Im Juni 2006 vergewaltigten zwei Buben im Alter von 11 und 13 Jahren in Rhäzüns ein 5-jähriges Mädchen. Und diesen Montag teilte die Kantonspolizei Bern mit, dass in Steffisburg bei Thun sieben zwischen 15 und 18 Jahre alte junge Männer dringend verdächtigt werden, in den letzten Wochen mehrfach und in unterschiedlicher Zusammensetzung eine 14-jährige Schülerin vergewaltigt zu haben. Eine Studie der Zürcher Fachstelle für Kinder- und Jugendforensik über sexuelle Straftaten von Jugendlichen kam 2002 zum Schluss, dass das Durchschnittsalter der Täter bei rund 14 Jahren lag. Beim Grossteil der praktisch ausschliesslich männlichen Täter soll es sich um "unauffällige, schulschwache Adoleszente aus in der Regel intakten, nach Schweizer Normen sozialisierten Familien" gehandelt haben. Laut Studie war die Hälfte der Täter Schweizer. Vergewaltigungen wurden vor allem in Gruppen begangen.[4]

Die Emotionsküche der Bevölkerung brodelt. Aber es gibt ein Problem: Jugendliche sind bekanntlich unmündig. Sie tragen nicht die volle Verantwortung für ihre Tat. Man kann sie nicht voll zur Rechenschaft ziehen und so liegt auch die Höchststrafe bei nur einem Jahr Gefängnis. Das Problem muss also anderswo gesucht werden. Und siehe da: plötzlich kommen die Jugendarbeiter, Psychologen und Sozialforscher zu Wort. Man spricht von einem gestörten Rollenverhältnis junger Männer und einer schädlichen Konfrontation mit Porno- und Gewaltfilmen über das Internet. Plötzlich sucht man nach Ursachen, beleuchtet die Hintergründe unserer Gesellschaft, die solche Taten hervorbringt. Sobald die Strafmethode an ihre Grenzen stösst, findet man die andere Art wieder, um mit Verbrechen umzugehen: die Verantwortung.

Eigentlich gibt es keinen Grund, eine solche Analyse nicht auch bei Wolfgang Prikopil oder Mario M. zu machen. Schliesslich werden sie auf genau die selbe Art mit einer dramatischen gesellschaftlichen Situation konfrontiert, die sich schliesslich in ihren Taten manifestiert. Dennoch umgeht man hier diese Analyse. Es ist einfacher, auf eine Moral, auf ein Recht, ein festgelegtes Schema von gut und böse zurückzugreifen, als sich mit den Ursachen einer dermassen schrecklichen Tat zu befassen.

In einem strafenden System wäre eine solche Betrachtung des „Verbrechens“ nämlich völlig kontraproduktiv. Anders gesagt, sie würde unsere Gesellschaftsstruktur radikal verändern. Man hat also ein Interesse, das Verbrechen auf einem anderen Weg anzugehen, respektive zu beseitigen. Dafür legt man jeder Justiz ein Recht zugrunde, vergleichbar mit einer Moral. „Gut“ und „Böse“ werden pauschal festgelegt. Diese Moral verändert sich über die Jahre hinweg – ihre Funktion bleibt dieselbe. Sobald ein Verbrechen geschieht, wird dieses Recht, diese Moral angewendet. Aufgrund dieses Rechtes wird entschieden, ob eine Tat gut oder böse ist, ob eine Tat bestraft oder belohnt werden soll. Es wird nicht, wie man erwarten würde, ein Verbrechen analysiert, nach Ursachen gesucht und dafür geschaut, dass solche Verbrechen nicht mehr geschehen. Oder nur soweit, um als Recht nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

[1] www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/themen/sicherheit/ref_gesetzgebung/

ref_lebenslange_verwahrung.html

[2] de.wikipedia.org/wiki/Natascha_Kampusch

[3] www.super-illu.de/aktuell/superstory_58707.html

[4] NZZ vom 17.11.2006

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