Stiftung Freiräume

ANARCHIE

ArbeiterInnenkampf und Syndikalismus


1. Sein. Schein. Wirklichkeit: Who is who im deutschsprachigen Anarchismus?
2. ArbeiterInnenkampf und Syndikalismus
3. Graswurzelanarchismus und gewaltfreie Aktion
4. Libertäre Basisgruppen und Einzelpersonen ohne ständige (Groß-)Gruppe
5. Anarcho-Primitivismus und verwandte Richtungen
6. Anarchie als Lebensabschnittsgefährlichkeit: Lifestyle und modisches Protestdesign
7. Weitere Richtungen

Einen der - zumindest bei genauerem Hinschauen - sichtbaren Teile des deutschsprachigen Anarchismus bilden die AnarchosyndikalistInnen. In Deutschland bilden sie unter anderem die als Gewerkschaft auftretenden Freie ArbeiterInnen Union (FAU), die Mitglied in einem internationalen Verband (IAA) ist.

Im Original: Definition Anarcho-Syndikalismus
Aus dem FAU-Text "Was ist Anarchosyndikalismus?"
Der Syndikalismus (von Syndikat=Gewerkschaft) entstand als Reaktion auf den zunehmenden Reformismus der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften Ende des letzten Jahrhunderts. Unter dem Einfluss des Anarchismus entwickelte sich innerhalb des Syndikalismus eine Gewerkschaftsbewegung mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive (FAUD) und nannte sich fortan Anarcho-Syndikalismus. Der Anarcho-Syndikalismus verbindet den Kampf für den Sozialismus mit der antistaatlichen, auf Selbstverwaltung gegründeten Gesellschaftskonzeption des Anarchismus.
Die Anarcho-SyndikalistInnen lehnen die Organisation ihrer Interessen in zentralistisch aufgebauten Parteien und Organisationen ab. Gegen Stellvertreterpolitik und Parlamentarismus setzen sie die Selbstorganisation der Arbeitenden in autonomen, unabhängigen Gruppen, die miteinander auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene zusammengeschlossen sind. Zur Durchsetzung ihrer Ziele und Forderungen dienen ihnen die Mittel der Direkten Aktion. (z.B. Besetzungen, Boykotts, Streiks usw.) Sie lehnen im Gegensatz dazu "indirekte" Maßnahmen wie die parlamentarische Betätigung ab. Das Ziel des Anarcho-Syndikalismus ist die herrschaftsfreie, auf Selbstorganisation aufgebaute und auf Selbstverwaltung gegründete Gesellschaft.
Anarcho-SyndikalistInnen kämpfen für die Verbesserung der derzeitigen Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie bleiben jedoch nicht dabei stehen, sondern arbeiten für die Errichtung einer libertären und klassenlosen Gesellschaft. Dazu gehört auch die Aneignung der Fähigkeiten einmal Fabriken, Dienstleistungsbetriebe und Landwirtschaft durch die Selbstverwaltung der dort Beschäftigten übernehmen zu können. Unter anderem hierin besteht die Kreativität des Anarcho-Syndikalismus und hierdurch löst er auch die problematische Frage des Übergangs von einer libertären Revolution zur herrschaftsfreien Gesellschaft.


Wikipedia zu Anarcho-Syndikalismus
Der Begriff Anarchosyndikalismus bezeichnet die Organisierung von Lohnabhängigen basierend auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität. Ideengeschichtlich stellt der Anarchosyndikalismus eine Ergänzung des Anarchismus um den revolutionären Syndikalismus dar.
Das Hauptziel des Anarchosyndikalismus ist die revolutionäre Überwindung des Staates und der kapitalistischen Gesellschaft durch die unmittelbare Übernahme der Produktionsmittel in gewerkschaftlicher Selbstorganisation. Durch diesen Akt soll die klassen- und staatenlose Kollektivordnung entstehen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, ist der Anarchosyndikalismus bestrebt, die Arbeiterklasse in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen zu organisieren und so eine wirksame Gegenmacht zu Staat und Kapital zu bilden. Der Begriff Arbeiterklasse umfasst dabei nicht nur lohnabhängig Beschäftigte (Arbeiter und Angestellte), sondern auch andere gesellschaftliche Gruppen wie z.B. Arbeitslose, Hausfrauen bzw. -männer oder Schülerinnen und Schüler, also Gruppen, die direkt oder indirekt am gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess beteiligt sind.
Hauptaktionsfelder des Anarchosyndikalismus sind der Klassenkampf im Betrieb mit den Mitteln der direkten Aktion, möglichst breitenwirksame Agitation für seine Ziele und Aspekte der Kultur- und Jugendarbeit. Der Anarchosyndikalismus ist dabei stets bemüht, die Lebensbedingungen der Menschen konkret zu verbessern: Er fordert mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten, Gleichberechtigung und ein würdevolles Leben für alle Menschen. Sein endgültiges Ziel bleibt jedoch die soziale Revolution, weswegen reformistische Tendenzen von der Mehrheit der Anarchosyndikalisten strikt abgelehnt werden.


Aus Schmidt, Manfred G. (1995): Wörterbuch zur Politik, Kröner Verlag in Stuttgart
Anarcho-Syndikalismus, Bezeichnung für eine Allianz von Anarchismus und Syndikalismus, eine vor allem in romanischem Ländern verbreitete Spielart des Anarchismus, die insb. die Abschaffung staatlicher und klassengebundener Herrschaft und die Übernahme der Produktionsmittel durch Arbeiter-Assoziationen, insb. Gewerkschaften, zum Ziel hat, hinsichtlich der Kampfmittel vor allein auf direkte Aktion mittels Streik, Boykott und Fabrikbesetzung setzt und die parteipolitisch geleitete Konfliktführung nach Art der klassischen Arbeiterbewegung und marxistisch-leninistischer Parteien strikt ablehnt.

Rudolf Rocker: Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus
Für die Arbeiter ist der Generalstreik die logische Folge des modernen industriellen Systems, dessen Leidtragende sie heute sind; zugleich bietet er ihnen die stärkste Waffe im Kampf für ihre soziale Befreiung.

Die Definitionen beinhalten neben Qualitätsmerkmalen bereits einige Selbstbeschränkungen wie die Schwerpunktsetzung auf ArbeiterInnen und Arbeitskämpfe. Das zeigt sich auch in der Praxis und wirft verschiedene Frage auf: Steckt hinter der Schwerpunktsetzung eine Einteilung in wichtigere und weniger wichtigere Bevölkerungsgruppen, die einem egalitären Gesellschaftsbild widersprechen würde? Vergibt, wer sich nur auf Kämpfe um Arbeitsbedingungen konzentriert, nicht viele Handlungsoptionen in anderen gesellschaftlichen Feldern? Rekonstruiert die Idee des Klassenkampfes gesellschaftliche Schubladen, die einer Befreiung und Selbstentfaltung entgegenstehen?

Das Klassenmodell ist inzwischen sehr unzulänglich geworden. Selbst innerhalb der Arbeitswelt haben sich sehr vielfältige Bezüge entwickelt. Immer weniger Menschen sind ausschließlich LohnempfängerInnen. Von den großen Konzernen liegen nur noch wenige im Besitz einzelner KapitalistInnen. Die meisten Führungspersonen sind formal Angestellte der Banken, Industrien oder Holdings, in denen sie sich - meist für horrende Gehälter - im Dienste der ständigen Produktivitätssteigerung und deshalb im Dauerkonflikt mit den Interessen der Beschäftigten verausgaben, bis zum Herzinfarkt. Herrschafts- und selbst die Produktionsverhältnisse sind wesentlich komplizierter als die Einteilung in wenige Klassen suggeriert (siehe die Beschreibung von Herrschaftsformen in "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"). Folglich müssen auch die Strategien der Befreiung diese vielfältigen Unterdrückungsformen widerspiegeln und den AkteurInnen an ihren unterschiedlichen Orten und mit verschiedenen Handlungsoptionen eine Perspektive der Widerständigkeit bieten.
Völlig ist diese Erkenntnis an den anarchosyndikalistischen Lagern auch nicht vorbeigegangen. So gibt es Kampagnen und praktische Soli-Arbeit für MigrantInnen und mit der Gründung von Bildungssyndikaten eine Anerkenntnis, dass nicht nur Arbeit zählt. Allerdings bricht alles nur recht langsam auf. Diese Trägheit ist auch Folge der Binnenstrukturen, die streng basisdemokratisch organisiert sind. Entscheidungen verlaufen nach festen Regeln. Alle Gremien sollen stets der Basis gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Das soll ermöglichen, dass diese kontrolliert oder sogar abgerufen werden können. Doch das blendet die Kraft der informellen Hierarchien aus. Gremien neigen zur Verselbständigung, weil sie es selbst sind, die mit Berichten über ihre Arbeit die Wahrnehmung derselben steuern. In der FAU ist dieses Problem noch übersichtlich, weil die Organisation sehr klein ist. Innerhalb der Prinzipien von Basisdemokratie kann Rotation solchen Verfestigungen informeller Macht entgegenwirken. Das geschieht in der FAU auch - und bildet einen wichtigen Unterschied zur zweiten, an Namen und Labeln erkennbaren Strömung des deutschsprachigen Anarchismus, den Graswurzelgruppen. Denn dort dominieren seit vielen Jahre die immer gleichen Personen das Geschehen.

Zu den zentralen Säulen emanzipatorischer Organisierung, der Förderung horizontaler Kommunikation und freier Kooperation, haben FAUistas (wie sich die FAU-Mitwirkenden selbst nennen) die schon beschriebene, streng verregelte Basisdemokratie als Weg festgelegt, in der - ebenfalls durch feste Regeln - formale und informelle Hierarchien bekämpft werden sollen. Das aber bremst die freie Entwicklung von Kommunikation und Kooperation teilweise aus.

Die FAU bzw. ihr internationaler Zusammenschluss sind nicht die einzige Gruppierung im Anarchosyndikalismus. Interne Machtkämpfe haben die internationale Vernetzung mehrfach gespalten. In Deutschland existieren einige unabhängige Gruppen, die sich als anarcho-syndikalistisch verstehen, aber nicht zur FAU gehören. Ein kurzer Steckbrief des deutschen Anarchosyndikalismus könnte ungefähr so lauten:
  • Politische Schwerpunkte: Beteiligung an betrieblichen Auseinandersetzungen. Gewerkschafts-ähnlich unter Kritik der bestehenden Einheitsgewerkschaften.
  • Highlights: Unterstützung der Firmenübernahme und Produktion des "Strike-Bike".
  • Medien: Direkte Aktion. Verlage in der Hand von AnarchosyndikalistInnen wie Syndikat A oder Edition AV.
  • Stärken: Offen für viele Aktionsformen. Formalisierte Kontrolle zentraler Gremien und Projekte.
  • Probleme: Starre Basisdemokratie. Praktisch mehr Appell (Streik) als direkte Aktion (Aneignung). Starke Labelorientierung und kollektive Identität.
  • Theorie: Starker Bezug auf Sozialanarchismus, z.T. als libertäter Kommunismus. Mangelnde Auseinandersetzung mit modernen Herrschaftsanalysen. Festhalten an alten Theorien des Klasseskampfes.
  • Kommunikation, freie Vereinbarung und Kooperation: Vor allem über verregelte, basisdemokratie Vorgänge. Starke Verregelung hemmt freie Vereinbarungen. Starke Grenzziehung Innen-Außen, viel Verbandsbezug.

Syndikat nennt sich eine weitere Organisierung, die in den letzten Jahren erheblich an Gewicht gewonnen hat: Das Mietshäusersyndikat mit Sitz in Freiburg. In rasantem Wachstum mausert sich das Syndikat zu einem Immobilien-Schwergewicht in Deutschland mit dem Ziel, einen Verkauf der Häuser auf dem Markt zu verhindern. Mehr ist nicht der Anspruch - die Mitgliederprotokolle enthalten fast ausschließlich Debatten über Geld. Fragen an neue Projekte beziehen sich auch fast nur auf dieses Thema. Im Protokoll der Mitgliederversammlung des Mietshäusersyndikats am 20.10.2012 findet sich ein deutliches Bekenntnis zur Demokratie: "Die Diskussion ergibt, dass die Regionalisierung nun doch nicht Thema des Antrages werden soll. Es sind transparente, demokratische Strukturen erwünscht." Welch Geist sich auch unter dem Label "Syndikat" entwickeln kann, zeigt ein Auszug aus Protokoll des Mietshäusersyndikats vom 12.1.2013: "Im Haus gibt es ca. 20 Badezimmer. Sollen diese beibehalten werden? Es wäre ein hoher Aufwand sie rauszunehmen, deshalb sollen sie erstmal drin bleiben. Es ist bequem wenn jede_r ihr/sein Bad hat."

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