Stiftung Freiräume

ANEIGNUNG VON HÄUSERN UND FLÄCHEN

Interkulturelle Gärten als praktisches Beispiel


1. Häuser und Räume erobern
2. Interkulturelle Gärten als praktisches Beispiel

Die Interkulturellen Gärten, bekannt geworden durch die Internationalen Gärten Göttingen (www.internationale-gaerten.de) können auf eine fast 10jährige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Kriegsflüchtlinge aus Bosnien und anderswo artikulieren ihr Recht auf Selbstbestimmung und Selbstversorgung, indem sie in Erinnerung an die in ihren Heimatländern zurückgelassenen Hausgärten auf öffentlichem Grund Nahrungsmittel anbauen. Die Gärten werden bald zum Ausgangspunkt eines vielfältigen sozialen Gefüges: ehemals Machtlose erhalten durch die Möglichkeit der Produktion von Lebensmitteln plötzlich Eigenmacht, aus an den Rand Gedrängten werden Gebende - Subjektwerdung im besten Sinne. Durch den Kontakt mit der Erde, mit dem Lebendigen entstehen heilsame Prozesse, die in vielen Fällen ein Schlüssel zur konstruktiven Auflösung von Traumatisierungen sind. Das Ganze ohne politischen Überbau, ohne Organisation, ohne wissenschaftlichen Diskurs - zumindest zu Anfang. Selbstorganisation, gesellschaftliche Aneignung von unten im idealtypischen Sinne.

Natürlich schreitet die Überbaubildung voran. Unter dem Dach der Interkulturellen Gärten entsteht ein erweitertes Konzept von Integration mit dem Ausgangspunkt der "Verwurzelung". Rekurriert wird auf aktuelle Diskurse um zivilgesellschaftliches Engagement, Demokratie, Toleranz und plurale Einwanderungsgesellschaft (www.stiftung-interkultur.de). Das Projekt ist im System angekommen. Ähnlich dem Nachhaltigkeitsdiskurs der 90er Jahre, der unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure (NGOs, Unternehmen) die "Globalisierung von oben" ökologisch abfederte, scheint der Fokus da- hin zu gehen, einem "Integrationsdiskurs von oben" den praktischen Unterbau zu liefern.

Dieselben Akteure (Bundesministerium des Inneren etc.), die das Projekt mit Ruhm überhäufen (die Internationalen Gärten Göttingen sind mehrfach preisgekrönt, u.a. durch den Integrationspreis des Bundespräsidenten 2002, den Förderpreis Aktive Bürgerschaft etc.), sind gleichzeitig dabei, die Menschenrechte von Flüchtlingen mit Füßen zu treten - Residenzpflicht, Abschiebehaft, Zuwanderungsbeschränkung - und die sozialen Rechte eines zunehmenden Anteils der Bevölkerung in Frage zu stellen. Die Masse der vom Produktionsprozess und von der Möglichkeit einer würdevollen Existenzsicherung Ausgeschlossenen steigt parallel zur in Hochglanzbroschüren angepriesenen Interkulturellen Kompetenz.

Gesamtgesellschaftlich denken!
Dabei bietet die Idee und die Praxis der Interkulturellen Gärten in vielfältiger Hinsicht Anknüpfungspunkte für einen antikapitalistischen Diskurs. In den Gärten können Menschen aktiv werden, die ihrer allgemeinen Unzufriedenheit mit den Bedingungen der täglichen Bedarfsdeckung Ausdruck verleihen wollen, Naturfreaks, PermakulturphilosophInnen, MigrantInnen aus nahen und fernen Ländern, Gentechnik-KritikerInnen und auch solche, die einfach nur Lust haben auf Nachbarschaftskontakte. Die Tätigkeit des Gärtnerns knüpft an menschliche Urbedürfnisse nach Kontakt an, nach sich-Umgeben mit Schönheit und Lebendigkeit, nach Wachstum und Selbstentfaltung, selbstbestimmter Gestaltung und Einflussnahme. Ein im besten Sinne "geerdetes" Projekt, das die Chance in sich trägt, endlich milieuunabhängig die gesellschaftliche Aneignungsfrage zu stellen.

Insbesondere Stadtgärten sind ein Ort, der die Widersprüche der aktuellen Gesellschaftsformation intensiv erfahrbar macht: die Stadt ist Abbildung der modernen Produktionsweise, der Entfremdung des Menschen von natürlichen Kreisläufen und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch das Prinzip der Wertschöpfung. Gerade seit den 90er Jahren wird der urbane Raum zunehmend dem Zugriff der Kommerzialisierung unterworfen. Stadt, das ist Vernutzung von Natur und deren Umwandlung in riesige Ansammlungen von Dreck, Gestank, Lärm und Abfall - und gleichzeitig ein Ort erhöhter sozialer Komplexität. Die entfremdeten Bedingungen münden immer wieder in die Forderung nach deren Überwindung. Eine dieser Forderungen ist die nach Räumen eigenmächtiger Produktion.

Aneignung jetzt!
Meine These lautet: Die Bewegung der Interkulturellen Gärten ist in der Lage, eine Aneignungsstrategie zu entwickeln, wenn sie es denn politisch will. "Alles für alle" kann zu einer antikapitalistischen Perspektive werden, die alltagspraktische Handlungsmöglichkeiten für viele eröffnet. Von dieser Praxis aus ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Eigentum und Reichtum, nach der Organisierung von Produktion und Arbeit, nach neuen Formen gesellschaftlicher Organisierung leichter zu stellen als durch jeden linken Verbalradikalismus. Was hierzulande teilweise den Charakter symbolischer Politik in sich trägt, findet seine Ergänzung im globalen Kontext von Landlosen-? und anderen Bewegungen in den Ländern des Südens. Hier wie dort geht es um die Vermittlung von sozialen Konflikten, um neue Erfahrungen und neue Standpunkte in der Debatte. Und damit stehen wir erst am Anfang.

Autorin: Kristina Bayer, Berlin, k_bayer @ web.de
Initiative Interkultureller Garten Berlin Friedrichshain-Kreuzberg

Stiftung FreiRäume (www.stiftung-freiraeume.de)

Hinweis: Dieser Text ist ein Teil der im Mai 2004 veröffentlicheten "Zeitung für stürmische Tage" - viele Ausschnitte emanzipatorischer Politik in kompakter Form - jetzt downloaden.

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