Gewaltfrage

ABHANDLUNGEN ÜBER DIE DEMOKRATIE

Joseph Schumpeter: Elitetheorie


1. Texte aus Klassikern und aktuellen Theoriewerken (Übersicht)
1. Aus dem Buch
2. Das Grundlagenprogramm
4. Staat ohne Herrscher
5. Input-orientierte und output-orientierte Demokratie
6. Von den natürlichen Bedingungen der Menschheit im Hinblick auf ihr Glück und Unglück
7. Hamilton/Madison/Jay: Verfassungskommentar
8. Revolution der Demokratie
9. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein
10. Niklas Luhmann: Die Zukunft der Demokratie
11. Vom Gesellschaftsvertrag
12. Joseph Schumpeter: Elitetheorie
13. Max Weber: Politik als Beruf
14. Die bürgerliche Elite zu ihrem Liebling "Demokratie"
15. Der Staat
16. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft des Fürsten
17. Input-orientierte und output-orientierte Demokratie
18. Führungsschicht und einzelner Bürger
19. Die Machtfrage bei Hobbes und Spinoza
20. Vom Staatsrechte, oder dem Rechte in einem gemeinen Wesen
21. Hardt/Negri: Multitude

Aus Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 4. Aufl., München 1950 (i. Aufl., New York 1942), (S. 413-420 und S. 427-4,3,3, Ausschnitte), zitiert in: Massing, Peter/Breit, Gotthard (2002): „Demokratie-Theorien“, Wochenschau Verlag Schwalbach, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (S. 180 ff.)

Im Gebiet der öffentlichen Angelegenheiten gibt es Sektoren, die mehr innerhalb der Vorstellungskraft des Bürgers liegen als andere. Das gilt erstens für die lokalen Angelegenheiten. Aber selbst dort stoßen wir auf eine beschränkte Fähigkeit, die Tatsachen zu erkennen, eine beschränkte Bereitschaft, danach zu handeln, ein beschränktes Verantwortungsgefühl. Wir alle kennen den Mann - häufig ist er in seiner Art ein Musterexemplar -, der erklärt, daß die lokale Verwaltung nicht seine Sache sei, und der nur die Achseln zuckt über Praktiken, derentwegen er auf seinem eigenen Bureau lieber sterben als daß er sie dulden würde. Hochgesinnte Bürger, die gerne Mahnreden halten und über die Verantwortlichkeit des einzelnen Wählers oder Steuerzahlers predigen, entdecken immer wieder die Tatsache, daß sich dieser Wähler durchaus nicht verantwortlich dafür fühlt, was die Lokalpolitiker tun. Dennoch kann der Lokalpatriotismus, namentlich in Gemeinwesen, die nicht zu groß für persönlichen Kontakt sind, eine sehr wichtiger Faktor für das "Funktionieren der Demokratie" sein. Auch sind die Probleme einer Stadt in mancher Beziehung den Problemen eines Industriekonzerns verwandt. Der Mann, der diesen versteht, versteht bis zu einem gewissen Grad auch jene. Der Fabrikant, der Händler und der Arbeiter braucht nicht aus seiner Welt herauszutreten, um eine rational vertretbare Auffassung (die natürlich richtig oder falsch sein kann) über Straßenreinigung oder Rathäuser zu gewinnen.
Zweitens gibt es viele nationale Streitfragen, welche Individuen und Gruppen so unmittelbar und unmißverständlich angehen, daß sie Willensäußerungen hervorrufen, die durchaus echt und bestimmt sind. Das wichtigste Beispiel bieten jene Fragen, die einen unmittelbaren Lind persönlichen pekuniären Vorteil für einzelne Wähler und Wählergruppen bedeuten, wie direkte Zahlungen, Schutzzölle, die Silberpolitik und dergleichen mehr. Eine Erfahrung, die bis auf das Altertum zurückgeht, zeigt, daß im großen ganzen die Wähler rasch und rational auf jede solche Chance reagieren. Aber die klassische Lehre von der Demokratie hat offenkundig nur wenig aus der Entfaltung einer derartigen Rationalität zu gewinnen. Die Wähler erweisen sich durch sie als schlechte, sogar korrumpierbare Richter über solche Fragen - ja, sie erweisen sich oft sogar als schlechte Kenner ihrer eigenen langfristigen Interessen; denn es ist nur das kurzfristige Versprechen, das politisch zählt, und nur die kurzfristige Rationalität, die sich wirksam durchsetzt.
Wenn wir uns jedoch noch weiter von den privaten Belangen der Familie und des Bureaus entfernen und uns in jene Regionen nationaler und internationaler Angelegenheiten begeben, denen eine unmittelbare und unmißverständliche Verbindung mit jenen privaten Belangen fehlt, so entsprechen die private Willensäußerung, die Beherrschung der Tatsachen und die Methode der Schlußfolgerung sehr bald nicht mehr den Erfordernissen der klassischen Lehre. Was mir am meisten auffällt und mir der eigentliche Kern aller Schwierigkeiten zu sein scheint, ist die Tatsache, daß der Sinn für die Wirklichkeit so völlig verlorengeht. Normalerweise teilen die großen politischen Fragen im Seelenhaushalt des typischen Bürgers den Platz mit jenen Mußestunden-Interessen, die nicht den Rang von Liebhabereien erreicht haben, und mit den Gegenständen der verantwortungslosen "Konversation". Diese Dinge scheinen so weit weg zu sein; sie haben so gar nichts von einem Geschäftsunternehmen an sich; die Gefahren verwirklichen sich vielleicht überhaupt nicht, und wenn sie es doch tun sollten, so können sie sich immer noch als nicht so ernst erweisen; man hat das Gefühl, sich in einer fiktiven Welt zu bewegen.
Dieser reduzierte Wirklichkeitssinn erklärt nun nicht nur ein reduziertes Verantwortungsgefühl, sondern auch den Mangel an wirksamer Willensäußerung. Jedermann hat natürlich seine eigenen Phrasen, seine Begehren, seine Wunschträume und seine Beschwerden; namentlich besitzt jedermann seine Vorlieben und seine Abneigungen. Aber gewöhnlich entspricht dies nicht dem, was wir seinen Willen nennen - das psychische Gegenstück zu ziel- und verantwortungsbewußtem Handeln. De facto gibt es für den privaten Bürger, der über nationale Angelegenheiten nachsinnt, keinen Spielraum für einen solchen Willen und keine Aufgabe, an der er sich entwickeln könnte. Er ist Mitglied eines handlungsunfähigen Komitees, des Komitees der ganzen Nation, und darum verwendet er auf die Meisterung eines politischen Problems weniger disziplinierte Anstrengung als auf ein Bridgespiel.
Das reduzierte Verantwortungsgefühl und das Fehlen wirksamer Willensäußerung erklären ihrerseits den Mangel an Urteilsvermögen und die Unwissenheit des gewöhnlichen Bürgers in Fragen der innern und äußern Politik, die im Fall gebildeter Leute und solcher Leute, die mit Erfolg in nichtpolitischen Lebensstellungen tätig sind, womöglich noch anstößiger sind als bei ungebildeten Leuten auf bescheidenen Posten. Informationsmöglichkeiten sind reichlich vorhanden und leicht zugänglich. Aber dies scheint überhaupt keinen Unterschied auszumachen. Und wir sollten uns drob nicht weiter verwundern. Wir brauchen nur die Haltung eines Advokaten gegenüber seinen Instruktionen und die Haltung des gleichen Advokaten gegenüber den Darstellungen politischer Tatsachen in seiner Zeitung zu vergleichen, um zu sehen, was los ist. Im einen Fall hat der Advokat durch jahrelange zielbewußte Arbeit, die unter dem eindeutigen Stimulus des Interesses an seiner beruflichen Tüchtigkeit stand, sich dazu befähigt, die Relevanz seiner Fakten richtig zu würdigen; und unter einem nicht weniger starken Stimulus richtet er nun seine Fertigkeiten, seinen Verstand, seinen Willen auf den Inhalt der Instruktionen. Im anderen Fall hat er sich nicht die Mühe genommen, sich auszubilden; er gibt sich auch keine Mühe, die Informationen zu verarbeiten, oder die Regeln der Kritik, die er sonst so gut zu gebrauchen weiß, darauf anzuwenden; Lind lange und komplizierte Argumentationen machen ihn ungeduldig. Dies läuft alles darauf hinaus, zu zeigen, daß ohne die Initiative, die aus unmittelbarer Verantwortlichkeit hervorgeht, die Unwissenheit angesichts zahlreicher und noch so vollständiger und richtiger Informationen weiterbesteht. Sie besteht weiter auch angesichts der verdienstvollen Bemühungen, die über das bloße Präsentieren von Informationen hinauszugelangen und ihre Verwendung mittels Vorträgen, Kursen und Diskussionsgruppen zu lehren suchen. Die Resultate sind nicht gleich Null. Aber sie sind gering. Man kann die Menschen nicht die Leiter hinauftragen.
So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig. Dies zieht nun zwei weitere Folgen von ominöser Bedeutung nach sich.
Erstens würde der typische Bürger - selbst wenn es keine politischen Gruppen gäbe, die ihn zu beeinflussen suchten - in politischen Fragen leicht den außerrationalen oder irrationalen Vorurteilen oder Trieben nachgeben. Die Schwäche der rationalen Verfahrensweise, die er auf die Politik anwendet, und das Fehlen einer wirksamen logischen Kontrolle der Resultate, zu denen er gelangt, würden an sich schon zur Erklärung genügen. Überdies wird er, einfach weil er nicht "ganz dabei" ist, in seinen gewöhnlichen moralischen Anforderungen nachlassen und gelegentlich dunklen Impulsen nachgeben, die die Verhältnisse seines privaten Lebens ihm gewöhnlich zu unterdrücken helfen. Wenn er aber einem Ausbruch edler Entrüstung nachgibt, kann es in bezug auf die Weisheit oder Rationalitat seiner Folgerungen und Schlüsse gerade so schlecht herauskommen. Dadurch wird es für ihn noch schwieriger, die Dinge in ihren richtigen Proportionen zu sehen oder gar gleichzeitig mehr als nur eine Seite einer Sache zu sehen. Wenn er einmal aus seiner gewöhnlichen Unbestimmtheit heraustritt und den bestimmten Willen entfaltet, den die klassische Lehre der Demokratie postuliert, ist es infolgedessen sehr wohl möglich, daß er noch unintelligenter und verantwortungsloser wird, als er gewöhnlich schon ist. An gewissen Wendepunkten kann sich das für eine Nation als verhängnisvoll erweisen.
Zweitens: je schwächer jedoch das logische Element in der öffentlichen Meinung ist Lind je vollständiger die rationale Kritik und der rationalisierende Einfluß persönlicher Erfahrung und Verantwortlichkeit fehlt, desto größer sind die Chancen für Gruppen, die Privatinteressen zu verfolgen. Diese Gruppen können aus berufsmäßigen Politikern bestehen oder aus Exponenten wirtschaftlicher Interessen oder aus Idealisten der einen oder andern Art oder aus Menschen, die einfach an der Inszenierung und Leitung politischer Schaustellungen ein Interesse finden. Die Soziologie solcher Gruppen ist für das vorliegende Argument unwesentlich. Hier ist einzig wichtig, daß sie angesichts der "menschlichen Natur in der Politik", wie sie nun einmal ist, fähig sind den Volkswillen zu formen und innerhalb sehr weiter Grenzen sogar zu schaffen. Wir sehen uns bei der Analyse politischer Prozesse weithin nicht einem ursprünglichen, sondern einem fabrizierten Willen gegenüber. Und oft ist es einzig dieses Artefakt, das in Wirklichkeit der volonté générale der klassischen Lehre entspricht. Soweit dies so ist, ist der "Wille des Volkes" das Erzeugnis und nicht die Triebkraft des politischen Prozesses. (...)

Ich glaube, daß die meisten politisch Interessierten bereits soweit sind, daß sie alle Kritik akzeptieren, die im vorangegangenen Kapitel gegen die klassische Lehre der Demokratie gerichtet wurde. Ich glaube auch, daß die meisten schon jetzt bereit sind oder es bald sein werden, eine andere Theorie zu akzeptieren, die viel lebenswahrer ist und gleichzeitig viel von dem vor dem Untergang bewahrt, was die Paten der demokratischen Methode mit diesem Ausdruck wirklich meinen. Sie sei wie die klassische Theorie in aller Kürze hier definiert.
Es sei daran erinnert, daß unsere Hauptschwierigkeiten bei der klassischen Theorie sich um die Behauptung gruppierten, daß "das Volk" eine feststehende und rationale Ansicht über jede einzelne Frage besitzt und daß es - in einer Demokratie - dieser Ansicht dadurch Wirkungskraft verleiht, daß es "Vertreter" wählt, die dafür sorgen, daß diese Ansicht ausgeführt wird. So wird die Wahl der Repräsentanten dem Hauptzweck der demokratischen Ordnung nachgeordnet, der darin besteht, der Wählerschaft, die Macht des politischen Entscheides zu verleihen. Angenommen nun, wir vertauschen die Rollen dieser beiden Elemente und stellen den Entscheid von Fragen durch die Wählerschaft der Wahl jener Männer nach, die die Entscheidung zu treffen haben. Oder um es anders auszudrücken: wir nehmen nun den Standpunkt ein, daß die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst eine dazwischengeschobene Körperschaft, die ihrerseits eine nationale Exekutive oder Regierung hervorbringt. Und wir definieren: die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben.

Die Verteidigung und Erklärung dieser Idee wird sehr bald zeigen, daß sie hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit ihrer Prämissen und der Haltbarkeit ihrer Behauptungen die Theorie des demokratischen Prozesses beträchtlich verbessert. Erstens gelangen wir in den Besitz eines leidlich brauchbaren Kriteriums, mit welchem demokratische Regierungen von anderen unterschieden werden können. Wir haben gesehen, daß die klassische Theorie deswegen in Schwierigkeiten gerät, weil durch Regierungen, die nach keinem anerkannten Gebrauch des Begriffes "demokratisch" genannt werden können, sowohl dem Willen wie auch dem Wohl des Volkes gerade so gut oder sogar besser gedient werden kann und in vielen historischen Fällen auch gedient worden ist. jetzt befinden wir uns aber in einer etwas besseren Lage, zum Teil darum, weil wir die Bedeutung des modus procendendi hervorzuheben entschlossen sind, dessen Vorhandensein oder Fehlen in den meisten Fällen leicht zu verifizieren ist.
Zum Beispiel erfüllt eine parlamentarische Monarchie wie die englische die Anforderungen der demokratischen Methode, weil der Monarch praktisch dazu gezwungen ist, die gleichen Männer in das Kabinett zu berufen, die das Parlament wählen würde. Eine "konstitutionelle" Monarchie besitzt nicht die Eigenschaften, um sie demokratisch nennen zu können, weil den Wählerschaften und Parlamenten - während sie alle andern Rechte mit den Wählerschaften und Parlamenten der parlamentarischen Monarchie gemein haben - doch die Befugnis fehlt, ihre Wünsche in bezug auf das regierende Komitee durchzusetzen: die Kabinettsminister sind in diesem Falle Diener des Monarchen, dem Wesen wie auch dem Namen nach, und können im Prinzip von ihm ebenso gut entlassen wie ernannt werden. Solch eine Ordnung kann das Volk durchaus befriedigen. Die Wählerschaft kann diese Tatsache bestätigen dadurch, daß sie gegen jeden Vorschlag einer Abänderung stimmt. Der Monarch kann so populär sein, daß er jeden Mitbewerber um das höchste Amt zu schlagen vermag. Aber da kein Mechanismus vorhanden ist, um diese Konkurrenz wirksam zu gestalten, fällt dieser Fall nicht unter unsere Definition.
Zweitens läßt uns die in dieser Definition verkörperte Theorie allen wünschbaren Raum für eine angemessene Anerkennung der lebenswichtigen Tatsache der Führung. Die klassische Theorie hat das nicht getan, sondern hat, wie wir gesehen haben, der Wählerschaft ein völlig wirklichkeitsfremdes Ausmaß von Initiative beigelegt, was praktisch auf ein Ignorieren der Führung herauskam. Kollektive handeln jedoch beinahe ausschließlich dadurch, daß sie eine Führung akzeptieren - es ist dies der beherrschende Mechanismus praktisch jedes kollektiven Handelns, das mehr ist als bloßer Reflex. Behauptungen über das Funktionieren und die Resultate der demokratischen Methode, die dem Rechnung tragen, sind daher notwendig sehr viel wirklichkeitsnäher als Behauptungen, die es nicht tun. Sie werden nicht schon bei der Ausführung einer volonté générale haltmachen, sondern werden weitgehend zeigen, wie sie entsteht oder wie sie subsituiert oder verfälscht wird. Was wir den "fabrizierten Willen" genannt haben, steht nun nicht mehr außerhalb der Theorie, ist keine Verirrung mehr, um deren Nichtvorhandensein wir den Himmel bitten; es gehört, wie es sein muß, in die Mitte unseres Gebäudes.
Drittens jedoch, soweit es überhaupt echte Willensäußerungen von Gruppen gibt - zum Beispiel den Willen von Arbeitslosen, Arbeitslosenunterstützung zu bekommen, oder den Willen anderer Gruppen, zu helfen -, werden auch diese von unserer Theorie nicht vernachlässigt. Im Gegenteil vermögen wir ihnen nun gerade die Rolle zuzuweisen, die sie tatsächlich spielen. Solche Willensäußerungen setzen sich in der Regel nicht unmittelbar durch. Selbst wenn sie kräftig und bestimmt sind, bleiben sie oft während Jahrzehnten latent, bis sie von einem politischen Führer, der sie in politische Faktoren verwandelt, zum Leben erweckt werden. Dies tut er - oder sonst tun es seine Agenten für ihn -, indem er diese Willensäußerungen organisiert, indem er sie aufstachelt und indem er zuletzt geeignete Punkte in seine Werbeschriften aufnimmt. Die Wechselbeziehung zwischen Sonderinteressen und öffentlicher Meinung und die Art, in der sie die Form hervorbringen, die wir die politische Situation nennen, erscheinen von diesem Standpunkt aus in einem neuen und viel klareren Licht.
Viertens ist natürlich unsere Theorie ebensowenig genau bestimmt, als der Begriff des Konkurrenzkampfes um die Führung ist. Dieser Begriff bietet ähnliche Schwierigkeiten wie der Begriff der Konkurrenz in der wirtschaftlichen Sphäre, mit dem er nutzbringend verglichen werden kann. Im Wirtschaftsleben fehlt die Konkurrenz nie völlig, aber sie ist kaum je vollkommen. Ähnlich besteht im politischen Leben immer einige Konkurrenz, wenn auch vielleicht nur potentiell, um die Gefolgschaft des Volkes. Zur Vereinfachung haben wir jene Art von Konkurrenz um die Führung, die die Demokratie definieren soll, auf freie Konkurrenz um freie Stimmen beschränkt. Berechtigt ist dies deshalb, weil "Demokratie" eine anerkannte Methode zu implizieren scheint, nach welcher der Konkurrenzkampf zu führen ist, und weil die Methode der Wahl praktisch die einzig mögliche für Gemeinwesen aller Größen ist. Doch obschon dadurch viele Arten der Gewinnung der Führung ausgeschlossen werden, die ausgeschlossen werden sollten, wie zum Beispiel die Konkurrenz durch einen militärischen Aufstand, werden doch nicht die Fälle ausgeschlossen, die auffallend analog zu jenen wirtschaftlichen Phänomenen sind, die wir als "unfaire" oder "betrügerische" Konkurrenz oder als Konkurrenzbeschränkung bezeichnen. Und wir können sie nicht ausschließen ' da uns, wenn wir es täten, nur ein völlig wirklichkeitsfremdes Idealbild übrigbliebe. Zwischen diesem Idealfall, der nicht existiert, und den Fällen, in welchen jegliche Konkurrenz mit dem regierenden Führer mit Gewalt verhindert wird, liegt eine fortlaufende Reihe von Variationen, innerhalb der er die demokratische Regierungsmethode mit unendlich kleinen Schritten allmählich in die autokratische übergeht. Aber wenn wir nicht philosophieren, sondern verstehen wollen, so ist dies durchaus in Ordnung. Der Wert unseres Kriteriums wird dadurch nicht ernsthaft geschädigt.
Fünftens scheint unsere Theorie die Beziehung zu klären, die zwischen der Demokratie und der individuellen Freiheit besteht. Wenn wir mit letzterer das Vorhandensein einer Sphäre individueller Selbstregierung meinen, deren Grenzen historisch veränderlich sind - keine Gesellschaft duldet absolute Freiheit, nicht einmal eine absolute Gewissens- und Redefreiheit, keine Gesellschaft reduziert diese Sphäre auf Null -, dann wird diese Frage offenkundig zu einer Sache des Grades. Wir haben gesehen, daß die demokratische Methode nicht unbedingt eine größere Summe individueller Freiheit garantiert, als irgendeine andere politische Methode unter gleichen Umständen gestatten würde. Es kann sehr wohl umgekehrt sein! Aber es besteht noch eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn wenigsten im Prinzip jedermann die Freiheit hat, sich dadurch um die politische Führung zu bewerben, daß er sich der Wählerschaft vorstellt, dann wird dies in den meisten, wenn auch nicht in allen Fällen, ein beträchtliches Quantum Diskussionsfreiheit für alle bedeuten. Namentlich wird es ein beträchtliches Quantum Pressefreiheit bedeuten. Diese Beziehung zwischen Demokratie und Freiheit ist nicht absolut bündig und kann verfälscht werden. Aber vom Standpunkt des Intellektuellen aus ist sie nichtsdestoweniger sehr wichtig. Gleichzeitig ist dies aber auch alles, was über diese Beziehung gesagt werden kann.
Sechstens sollte beachtet werden, daß indem ich es zur Hauptfunktion der Wählerschaft machte, (direkt oder durch eine dazwischengeschobene Körperschaft) eine Regierung hervorzubringen, ich in diese Formulierung auch die Funktion ihrer Absetzung einschließen wollte. Das eine bedeutet einfach die Akzeptierung eines Führers oder einer Gruppe von Führern, das andere einfach die Rücknahme dieser Akzeptierung. Dadurch wird ein Element berücksichtigt, das der Leser bisher vermißt haben dürfte. Er mag daran gedacht haben, daß die Wählerschaft nicht nur installiert, sondern auch kontrolliert. Aber da die Wählerschaft normalerweise ihre politische Führung nur insofern kontrolliert, als sie es ablehnt, sie selbst oder die sie stützenden parlamentarischen Mehrheiten wiederzuwählen, scheint es angebracht zu sein, unsere Vorstellungen einer Kontrolle, in der durch unsere Definition angedeuteten Weise zu reduzieren. Gelegentlich ereignet sich ein spontaner Umschwung, der unmittelbar eine Regierung oder einen einzelnen Minister stürzt oder einen bestimmten Kurs aufzwingt. Aber dies sind nicht nur Ausnahmefälle - sie stehen auch, wie wir noch sehen werden, im Gegensatz zum Geist der demokratischen Methode.
Siebtens erhellt unsere Methode, was sehr wünschenswert ist, einen alten Streitpunkt. Wer immer die klassische Lehre der Demokratie akzeptiert Lind folglich glaubt, daß die demokratische Methode die Entscheidung der strittigen Fragen und die Gestaltung der Politik nach dem Willen des Volkes gewährleistet, muß sich an der Tatsache stoßen, daß selbst wenn dieser Wille unbestreitbar wirklich Lind bestimmt wäre, dann die Entscheidung durch einfache Mehrheiten ihn in vielen Fällen mehr verdrehen als wirksam werden lassen würde. Der Wille der Mehrheit ist augenscheinlich der Wille der Mehrheit und nicht der Wille "des Volkes". Letzterer ist ein Mosaik, das durchaus nicht von ersterem "repräsentiert" wird. Die beiden durch eine Definition gleichzusetzen, heißt nicht das Problem lösen. Versuche zu einer wirklichen Lösung sind jedoch von den Verfassern der verschiedenen Pläne für eine "proportionale Vertretung" unternommen worden. Diese Pläne sind aus praktischen Gründen auf ablehnende Kritik gestoßen. Es liegt in der Tat offen zutage, daß der Proporz nicht nur allen möglichen Idiosynkrasien Gelegenheit bietet sich breitzumachen, sondern daß er auch die Demokratie hindern mag, arbeitsfähige Regierungen hervorzubringen, und sich so als Gefahr in Zeiten der Bedrängnis erweisen kann. Bevor wir jedoch daraus den Schluß ziehen, daß die Demokratie funktionsunfähig wird, sobald man ihr Prinzip folgerichtig durchführt, sollten wir uns lieber fragen, ob dieses Prinzip wirklich die proportionale Vertretung impliziert. In Tat und Wahrheit tut es dies nicht. Wenn die Anerkennung der Führung die eigentliche Funktion der Stimmabgabe der Wählerschaft ist, bricht die Verteidigung des Proporzes zusammen, weil ihre Prämissen nicht mehr bindend sind. Das Prinzip der Demokratie bedeutet dann einfach, daß die Zügel der Regierung jenen übergeben werden sollten, die über mehr Unterstützung verfügen als die anderen, in Konkurrenz stehenden Individuen oder Teams. Und dies wiederum scheint die Geltung des Majoritätssystems innerhalb der Logik der demokratischen Methode zu sichern, obschon wir es auf anderen Gebieten, die außerhalb dieser Logik liegen, immer noch verurteilen mögen. ( ... )

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