Gießen autofrei

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF: KONTROLLWAHN IN ANARCHISTISCHER THEORIEN UND PRAXIS

Anarch@s für Kontrolle


1. Anarch@s für Kontrolle
2. Anarchismus von Polizei bis Knast
3. Spätestens in der Krise: Demokratisierung von Entscheidungsprozessen
4. Naives Machtverständnis: Hierarchien schöngeredet
5. Gegenentwürfe: Herrschaftskritische Positionen
6. Links

Ein Text im Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung)

Draußen in der realen Gesellschaft fürchten alle, zumindest alle, die etwas zu verlieren haben (oder das glauben), die Herrschaftsfreiheit. Wer garantiert Privilegien, Reichtum und mehr? Anarchie ist das Angstwort schlechthin für (fast) alle MonarchistInnen, DemokratInnen, KapitalistInnen, MarxistInnen usw. Sie zermartern ihr Gehirn mit immer neuen Überlegungen, wer wie die Welt regieren soll - aber auf keinen Fall darf mensch den Menschen die Gestaltung der Gesellschaft selbst überlassen.
Was aber ist mit den AnarchistInnen selbst? Sie lehnen doch jeden Überbau ab - und damit eigentlich auch die externe Absicherung der Verhältnisse. Doch bemerkenswerterweise sieht es bei ihnen kaum anders aus: Fürchten AnarchistInnen die Anarchie?

Die Angst um Kontrollverlust ist eines der absurdesten Phänomene anarchistischer Debatte und Organisierung ist. Das erstaunt, denn eigentlich ist Anarchie ja gerade die Idee des Verzichts auf Instanzen, die das Richtige durchsetzen und, herrschaftsanalytisch noch bedeutender, erst einmal "richtig" und "falsch" (bzw. gut-böse, wahr-unwahr, normal-verrückt, gesund-krank) definieren. Nun ist, das sei zugegeben, der Kopf eines/r durchschnittlichen MitteleuropäerIn voll von eingetrichterten Deutungen und Bewertungen, nach denen Menschen egoistisch seien und dieser Egoismus asoziales Verhalten fördere, dass der Staat als Organisator gesellschaftlichen Lebens unersetzlich sei, dass es Menschen gäbe, die gebändigt werden müssten zum Wohle aller usw. Da wird es zum kulturellen Problem, sich eine Welt oder auch nur einen gesellschaftlichen Subraum vorzustellen, in dem das Miteinander der Menschen einfach frei ausgehandelt wird - ohne Sanktionsmittel, Kontrollrechte in der Hinterhand oder irgendwelche vergleichbaren Sicherungsmechanismen. Das wäre ein kulturelles Gegenprogramm, spürbar auch in jeder/m selbst. Denn konsequent ist Herrschaftsfreiheit nur, wenn es kein Mittel der Sanktionierung von Abweichungen gibt, sondern immer alles der freien Vereinbarung freier Menschen unterliegt. Wo immer Zwangsmittel blieben, um bestimmtes Verhalten zu unterbinden oder zu erzwingen, wären diese mit Privilegien verbunden, wer sie anwenden darf. Denn bereits in ihrer Logik steckt, dass nicht jedeR Einzelne selbst über diese verfügt, sonst könnte auch die zu sanktionierende Person auf selbige zugreifen. Etwas versteckter liegen in der Idee, Verhalten sanktionieren zu können, weitere Herrschaftsmuster, z.B. die Definitionsgewalt, was erwünschtes und unerwünschtes Verhalten überhaupt ist. Selbst in der herrschaftsförmigen Welt hat sich das über die Jahrhunderte ständig gewandelt, ist also offenbar keine konstante Größe.
Sich gedanklich dazu durchzuringen, mit der Herrschaftsfreiheit auch immer den vollständigen Kontrollverlust über gesellschaftliches Geschehen zu meinen und Konflikte in horizontaler Kommunikation auszutragen, aber niemals zu sanktionieren, fällt offenbar selbst denen schwer, die mit der Attitüde des Anarchischen kokettieren. Schnell ist die Parole von Befreiung gesungen - und ebenso schnell erfolgt der Rückfall in klassische Kontrollmechanismen, wenn es ins Detail geht.

Wunderschön hat eine Vielfachautorin von auch in anarchistischen Kreisen verbreiteten Werken über vermeintlich alternative Ökonomieansätze und Mitautorin des Kommunebuches diese gedankliche Pirouette vollzogen. Die globalen Probleme hält sie für zu groß, um sie allein mit kleinen Initiativen und Projekten zu bekämpfen, und wählt ausgerechnet den Staat, also die Täter globaler Ausbeutung, als Hoffnungsträger aus.

Im Original: Anarchistische Polizei und mehr
Aus Elisabeth Voß: "Ermutigung zur Umsetzung Solidarischer Ökonomien", in: Contraste 1/2011 (S. 12)
Wachstumswahn, High-Tech- und Exportorientierung lassen sich nicht in kleinen Initiativen bekämpfen, und die gnadenlose Ausbeutung des globalen Südens wird nicht allein durch Fair Trade oder Ernährungssouveränität hierzulande (z.B. Community Supported Agriculture) gestoppt werden. Und bei aller berechtigten Staatskritik möchte ich mir nicht vorstellen, was bei einem plötzlichen Wegfall staatlicher Strukturen an Lebensunsicherheit und Recht des Stärkeren ausbrechen würde. Da setze ich lieber auf die Umgestaltung des Staates von einer autoritären Institution zum Moderator der Artikulation der Interessen von Bürgerinnen und Bürgern, ohne rassistische Ausschlüsse, und auf demokratisch legitimierte und kontrollierte Organe zur Eindämmung der Interessen des Kapitals und zur Demokratisierung der Wirtschaft.

Moderator? Eindämmung der Interessen des Kapitals? Diese Naivität, Ausblendung von Herrschaftslogiken und akzeptierende Nähe zum Machtkoloss Staat ist gepaart mit einem Hass gegen alles antistaatliche - Voß möchte sich lieber "nicht vorstellen, was bei einem plötzlichen Wegfall staatlicher Strukturen an Lebensunsicherheit und Recht des Stärkeren ausbrechen würde". Die Breite der Ausblendungen solcher Überlegungen ist beachtlich. Ganz offensichtlich wird mit der Angst gearbeitet, also genau der üblichen Keule gegen Herrschaftsfreiheit (meist dann in polemischer Absicht als "Chaos" oder eben "Anarchie" bezeichnet). Dann wird, so lässt sich die Behauptung über Lebensunsicherheit und "Recht des Stärkeren" auch lesen, die Behauptung aufgestellt, dass solches vor dem Wegfall der staatlichen Strukturen, also in der heutigen Zeit, nicht bestehen würde - welch absurde Ausführung, dass im realen Kapitalismus Lebensunsicherheit und Recht des Stärkeren offenbar fehlen. Schließlich verbreitet die Autorin den Mythos über die höherwertige Herkunft des Rechts, wenn sie Staat und "Recht des Stärkeren" gegenüberstellt. Doch wer, wenn nicht der Stärkere, schafft das Recht? Und ist nicht die Stärke des Rechts, durchgesetzt über den Staat, nichts anderes als eine Ausdrucksform dss Rechts der Stärkeren? Zuletzt werden dann auch noch die geschichtlichen Erfahrungen bei augenblicklichem Wegfall des Staates übergangen. Selbst in der jüngeren Geschichte ist mit der Republik Schwarzenberg ein Beispiel gegeben - verschwiegen im Schul-Geschichtsunterricht wie von der Autorin vermeintlicher gesellschaftlicher Alternativen.

bei Facebook teilen bei Twitter teilen

Kommentare

Bisher wurden noch keine Kommentare abgegeben.


Kommentar abgeben

Deine aktuelle Netzadresse: 3.138.34.64
Name
Kommentar
Smileys :-) ;-) :-o ;-( :-D 8-) :-O :-( (?) (!)
Anti-Spam