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BELEIDIGUNG - WILLKÜRLICH, UNBESTIMMT UND BRUCH DER MEINUNGSFREIHEIT

Kunstfreiheit


1. Urteile zu Beleidigung
2. Kann Beleidigung überhaupt strafbar sein
3. Einen Prozess offensiv führen: Tatsachenbehauptungen statt Schmähkritik
4. Meinungsfreiheit
5. Kunstfreiheit
6. Strafparagraphen aus dem Kaiserreich: Deutschland darf nicht beleidigt werden ...
7. Weitere Links

Art. 5, Abs. 3 GG: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Die folgenden Urteile und Festlegungen durch das Verfassungsgericht betreffen die Freiheit der Kunst, die zusätzlich zur Meinungsfreiheit dann greift, wenn der Rahmen, in dem eine Aussage erfolgt (verbal, schriftlich, andere künstlischerische Mittel), ein künstlerischer ist.

Im Original: Verfassungsgericht und mehr Urteile
2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 29. Juni 2000 - 1 BvR 825/98 -
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert die Freiheit der Betätigung im Kunstbereich umfassend, geschützt sind Werk- und Wirkbereich. Sinn und Aufgabe dieses Grundrechts ist es dabei vor allem, die freie Entwicklung des künstlerischen Schaffensprozesses ohne Eingriffe durch die öffentliche Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfGE 30, 173 (190) ). Dabei wird der durch die Kunstfreiheit gewährte Schutz nicht dadurch beseitigt, dass es sich um ein künstlerisch vorgebrachtes politisches Anliegen handelt (vgl. BVerfGE 67, 213 (227 f.) ).
Die Kunstfreiheit ist dabei zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährleistet. Die Schranken ergeben sich aus den Grundrechten anderer Rechtsträger (z.B. dem Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG: BVerfGE 30, 173 (193); 67, 213 (228) ), aber auch aus sonstigen Rechtsgütern mit Verfassungsrang (z.B. dem Jugendschutz: BVerfGE 83, 130 (139) ). Eine solche Schranke kann sich auch aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG ergeben, die den Schutz des geistigen Eigentums und hier insbesondere des Urheberrechts erfasst. Auch das Eigentum ist allerdings nicht schrankenlos gewährleistet, sondern gebietet im Bereich des Urheberrechts lediglich die grundsätzliche Zuordnung der vermögenswerten Seite dieses Rechts an den Urheber. Damit ist aber nicht jede denkbare Verwertungsmöglichkeit verfassungsrechtlich gesichert, sondern der Gesetzgeber hat im Rahmen des Urheberrechts sachgerechte Maßstäbe für die Grenzen zu finden (grundlegend BVerfGE 31, 229 (240 f.) ). Solche Maßstäbe ergeben sich beispielsweise aus den Schrankenbestimmungen der §§ 45 ff. UrhG, deren Wirksamkeit vorliegend nicht im Streit steht.
Treffen mehrere grundrechtlich geschützte Positionen aufeinander, so ist es zunächst Aufgabe des Richters, im Rahmen der Anwendung der einschlägigen einfachrechtlichen Regelungen die Schranken des Grundrechtsbereichs der einen Partei gegenüber demjenigen der anderen Partei zu konkretisieren (vgl. BVerfGE 30, 173 (197) ). ...
Die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderte kunstspezifische Betrachtung verlangt, bei der Auslegung und Anwendung des § 51 Nr. 2 UrhG die innere Verbindung der zitierten Stellen mit den Gedanken und Überlegungen des Zitierenden über die bloße Belegfunktion hinaus auch als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen und damit dieser Vorschrift für Kunstwerke zu einem Anwendungsbereich zu verhelfen, der weiter ist als bei anderen, nichtkünstlerischen Sprachwerken.

Beschluß des Ersten Senats vom 17. Juli 1984 -- 1 BvR 816/82 --
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen strafrechtliche Entscheidungen, welche hinsichtlich der Tatsachenfeststellung sowie der Auslegung und Anwendung des Strafrechts vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht nachzuprüfen sind. Es hat jedoch sicherzustellen, daß die ordentlichen Gerichte die grundrechtlichen Normen und Maßstäbe beachten. Dabei hängen die Grenzen seiner Eingriffsmöglichkeit namentlich von der Intensität (BVerfGE 67, 213 (222), BVerfGE 67, 213 (223)) der geltend gemachten Grundrechtsbeeinträchtigung ab: Die Schwelle eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist erreicht, wenn die Entscheidung der Strafgerichte Fehler bei der Tatsachenfeststellung oder Auslegung erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 66, 116 [131] -- Springer/Wallraff -; vgl. auch im Zusammenhang mit der Kunstfreiheitsgarantie schon BVerfGE 30, 173 [188, 196 f.]). Je nachhaltiger ferner eine Verurteilung im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Verurteilten trifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründung dieses Eingriffs zu stellen und desto weiter reichen die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 42, 143 [148 f.] -- DGB -).
Eine strafrechtliche Verurteilung ist als Sanktion kriminellen Unrechts schon für sich allein betrachtet von größerer Intensität als eine zivilrechtliche Verurteilung zu Unterlassung, Widerruf oder Schadensersatz (BVerfGE 43, 130 [136] -- politisches Flugblatt -). Bei der strafrechtlichen Sanktion einer Handlung, für welche die Garantie der Kunstfreiheit in Frage steht, kommt die Gefahr hinzu, daß die negativen Auswirkungen für die Ausübung dieser wegen ihrer besonderen Bedeutung ohne Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Freiheit über den konkreten Fall hinausgehen. Bei dieser Sachlage kann das Bundesverfassungsgericht seine Überprüfung nicht auf die Frage beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Ebensowenig können einzelne Auslegungsfehler außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 42, 163 [169]; 43, 130 [136 f.]; 54, 129 [136]; 66, 116 [131]). ...
Künstlerische Äußerungen sind interpretationsfähig und interpretationsbedürftig; ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werks. Es verbietet sich daher, einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhangzu lösen und gesondert darauf zu untersuchen, ob sie als Straftat zu würdigen sind.

Aus dem Urteil des Landgericht Dresden zum Passagen einer Theateraufführung (Aktenzeichen: 3-O-4354/04 EV, Entscheidung vom 9. Dezember 2004)
Vom Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst ist neben der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit, dem sogenannten Werkbereich, auch die Vermittlung des Kunstwerks an Dritte, der sogenannte Wirkbereich (BVerfGE 30, 173, 189; BVerfGE 67, 213, 224). Dieser Schutz steht nicht nur demjenigen zu, der das Kunstwerk herstellt, sondern auch der Person, die das Kunstwerk der Öffentlichkeit zugänglich macht (vgl. BVerfGE 30, 173, 191; BVerfGE 36, 321, 331). Aus diesem Grunde kann sich im Streitfall auch der Verfügungsbeklagte auf das Grundrecht der Kunstfreiheit berufen, obwohl sonst der Staat und seine Einrichtungen lediglich als Adressat von Grundrechten in Erscheinung treten. Das Grundrecht der Kunstfreiheit ist auch auf juristische Personen und Personenvereinigungen anwendbar, ebenso auf (staatliche) Kunst- und Musikhochschulen (Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl., Art. 5 Rdn. 87 m.w.N.). Als Rechtsträger des ... , der auf Veränderungen einer Theaterinszenierung in Anspruch genommen wird, kann sich der Verfügungsbeklagte daher ebenso wie ein privater Rechtsträger eines Theaters auf die Kunstfreiheit berufen (ähnlich, wenn auch mit anderer Begründung: Scholz in Maunz-Dürig, GG, Band I, Stand: Februar 2004, Art. 5 Abs. 3 Anm. 49).
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Die künstlerische Tätigkeit ist zu begreifen als ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (BVerfGE 30, 173, 188 f.). ...
cc) Die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) ist lex specialis gegenüber dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. l GG (BVerfGE 30, 173, 191; Scholz in Maunz-Dürig, a.a.O., Art. 5 Abs. 3 Anm. 50). Die Freiheit der Kunst in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit ist durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährt; auf Grund der systematischen Trennung der Gewährleistungsbereiche sind weder die sogenannte Schankentrias des Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG noch die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG direkt oder analog auf die in Abs. 3 genannte Kunstfreiheit anzuwenden (BVerfGE 30, 173, 191; BVerfGE 67, 213, 228). Es verbietet sich daher auch, aus dem Zusammenhang eines Werkes einzelne Teile herauszulösen und sie als Meinungsäußerungen i.S. des Art. 5 Abs. 1 GG anzusehen, auf die dann die Schranken des Abs. 2 Anwendung fänden (BVerfGE 30, 173, 191).
dd) Allerdings ist die Kunstfreiheit nicht schrankenlos gewährt, sondern geht wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d.h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet (BVerfGE 30, 173, 193, m.w.N.). Die Kunstfreiheit kann daher ihre Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung finden, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen. Dies gilt namentlich für das durch Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Kunstfreiheit ihrerseits dem Persönlichkeitsrecht Grenzen zieht. Um diese im konkreten Fall zu bestimmen, genügt es nicht, ohne Berücksichtigung der Kunstfreiheit eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts festzustellen; vielmehr bedarf es der Klärung, ob diese Beeinträchtigung derart schwerwiegend ist, dass die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat; eine geringfügige Beeinträchtigung oder die bloße Möglichkeit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung reichen hierzu angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus (BVerfGE 67, 213, 228).
ee) In die danach vorzunehmende Abwägung ist stets das Gesamtkunstwerk einzubeziehen. Dabei sind die kollidierenden Rechtsgüter unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie der Strukturmerkmale der betreffenden Kunstgattung und der Entscheidung des Verfassungsgebers, die Kunstfreiheit vorbehaltlos zu gewährleisten, gegeneinander abzuwägen.
Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass künstlerische Äußerungen interpretationsfähig und interpretationsbedürftig sind. Ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werks (BVerfGE 67, 213, 228). Es verbietet sich daher, einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen und gesondert darauf zu untersuchen, ob darin eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Anspruchstellers liegt. ...
ff) Sind aber - wie hier - mehrere Interpretationen des Kunstwerkes möglich, so ist diejenige der Beurteilung zu Grunde zu legen, die andere Rechts-guter am wenigsten beeinträchtigt (BVerfGE 67, 213, 230; BVerfGE 81, 298, 307). Gemessen an diesem Grundsatz kann die angegriffene Äußerung, die nach der vorstehenden Erörterung mehrere naheliegenden Interpretationen zulässt, nicht mit der Begründung untersagt werden, dass eine der möglichen Interpretationsansätze zur Annahme einer schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung führt, die das Grundrecht der Kunstfreiheit zurücktreten lässt. ...
gg) Schließlich wiegt auch der bei den oben im Einzelnen erörterten – naheliegenden - Interpretationsansätzen noch verbleibende diffamierende Gehalt der beanstandeten Äußerung im Rahmen einer Gesamtabwägung der gegenüberstehenden Belange nicht so schwer, dass darin eine unerträgliche, auch im Lichte von Art. 5 Abs. 3 GG nicht mehr hinnehmbare die Verfügungsklägerin herabsetzende Schmähkritik erblickt werden könnte. Dies wäre dann der Fall, wenn die persönliche Kränkung und Herabsetzung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängen würde, insbesondere wenn es nicht mehr um die Auseinandersetzung in der Sache, sondern nur noch um eine Bloßstellung des Betroffenen ginge, der jenseits von polemischer und überspitzter Kritik herabgesetzt und gleichsam an den Pranger gestellt werden soll (BVerfGE 82, 272, 283 f.; BVerfGE 93, 266, 294; BGHZ 143, 199, 209). Davon kann im Streitfall nicht ausgegangen werden, da die angegriffene - drastische - Äußerung als Teil der durch eine aufgebrachte Menschenmenge vorgebrachten Ansichten über die gesellschaftlichen Verhältnisse und über Personen des öffentlichen Lebens durch andere Figuren des Stücks wieder in Frage gestellt und relativiert werden.


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