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DISKURSIVE HERRSCHAFT: WIE SICH TRADITIONEN, NORMEN UND WAHRHEITEN EINBRENNEN

Beispiele für Diskurse und ihre Steuerung


1. Diskurs, Kategorien, Erwartungen, Standards: Die Herrschaft im Kopf
2. Diskurssteuerung
3. Beispiele für Diskurse und ihre Steuerung
4. Hirnstupser zum Thema
5. Rollen und Zurichtung
6. Aufklärung: Demaskieren als Ziel
7. Links und Lesestoff

Betrachten wir ein paar Beispiele, wie Diskurse gesteuert werden und wirken. Sie machen deutlich, wie tief sie in unser Leben hineinwirken. Menschen sind weitgehend Gefangene von Normen, Deutungen und vermeintlichen Wahrheiten.


In der Übersicht bei Google-News am 14.11.2021 - gegensätzlicher geht es nicht!

Rassen und Rassismus
Jahrhunderte wurde allen Menschen eingetrichtert, dass Menschen nach ihrer Hautfarbe in Rassen einteilbar seien und solche Rassen eine unterschiedliche biologische Ausstattung hätten. Schon die Auswahl des Unterscheidungskriteriums zeigte eine seltsame Willkürlichkeit. Warum nicht die Ohrläppchenlänge oder die Augenfarbe? Haare oder Körperlänge wären auch Merkmale, sogar ziemlich auffällige. Nein, es wurde die Hautfarbe. Wildeste Spekulationen gediehen auf der Basis dieser Grundannahme, wenn z.B. Rudolf Steiner die rötliche Hautfarbe der UreinwohnerInnen in Nordamerika dadurch erklärte, dass sie eigentlich schwarze Haut hätten, aber dort nicht genügend Sonne abbekämen. Faschistisches Denken steigerte die Abgrenzungsbedürfnisse. WissenschaftlerInnen im Nationalsozialismus vermaßen Kopfformen und andere Körperteile. Sie bewiesen damit, dass auch Wissenschaft immer herrschenden Interessen und den zentralen Diskursen folgt. Und sie prägt. Denn der Rassismus bzw. die vorgeschaltete Idee, dass es überhaupt abgrenzbare Rasse gäbe, ist eben ein klassischer Diskurs. Unhinterfragt wird die Sache als wahr genommen und aus unzähligen Köpfen an unzähligen Stellen immer wieder behauptet. Es ist ganz selbstverständlich, in Rassen und rassistisch zu denken. So funktionieren Diskurse.

Geschlechter
Sie glauben, es gibt zwei Geschlechter? Dann sind sie vom Diskurs ordentlich beeinflusst. Fragen Sie bei Neugeborenen auch, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist? Dann stricken Sie selbst am Diskurs mit. Denn weder gibt es zwei Geschlechter in dieser Eindeutigkeit noch ist die Einteilung in zwei Geschlechter in der gesamten Menschheit üblich.
Das Erste ist ganz anders. Es gibt alle möglichen Übergangsformen und Abweichungen zwischen den im Biologiebuch zum Standard erklärten Dualismus Mann - Frau. Die zwei Schubladen werden nicht nur diskursiv durchgesetzt, sondern auch mit brutaler Schnippelei. Wer sich erdreistet, mit nicht eindeutigen primären Geschlechtsmerkmalen auf die Welt zu kommen, landet schnell auf dem Operationstisch. Meist wird, weil technisch einfacher, dann ein Mädchen zurechtgeschnippelt. Der Eingriff erfolgt - in dem Alter erwartungsgemäß - ohne Einverständnis der betroffenen Person. Mit dem Erscheinen auf der Welt und dem Zuordnen zu einem Geschlecht beginnt die Zurichtung des Neuankömmlings - immer subtil, meist aber auch ganz platt über Farben, Haartracht, Ansprache, Auswahl des Spielzeugs usw. "Versagt" das Elternhaus in der Schubladenbildung, sorgen Kindergarten, Schule und mehr für eindeutige Geschlechts- und daraus folgende Rollenzuweisungen. Ob in Formularen für BahnCards oder Handys - immer muss fein säuberlich angekreuzt werden, welchem Geschlecht die Person zugeordnet wurde, auch wenn das für die konkrete Sache unwichtig ist. Wer bei Computerformularen keine eindeutige Angabe macht, wird im binären Code der Maschine barsch zurückgewiesen: "Bitte füllen Sie ... vollständig aus".


Kriminalität und Strafe
Kriminalitätsfurcht wird gemacht. Wer sich die Massenware "Krimi" anschaut oder in auflagenlechzenden Medien blättert, findet Mord und Totschlag mit unbekannten TäterInnen. Die wichtigsten Angstmacher Bild-Zeitung und Aktenzeichen XY zeigen, wie viele NachahmerInnen auch, dunkle Plätze und Gänge, fremde Menschen (Männer) und üble Gewalttaten ohne jegliche Vorahnung. Das macht Angst: Mord und Totschlag lauern überall. Nach einer Untersuchung des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen glauben die Menschen in Deutschland, dass die Zahl der Morde zwischen 1993 und 2003 um 27% zugenommen hat und die Zahl der Sexualmorde um 260% gestiegen sei.
Mit solcher Angst lässt sich Politik machen. Doch mit der Realität hat sie wenig zu tun. Laut Kriminalitätsstatistiken geht die Zahl der Morde seit Jahren zurück, bei den registrierten Sexualmorden und Sexualmordversuchen sank die Zahl zwischen 1981 und 2004 von 81 auf 26 Fälle. Doch nicht nur bei den Zahlen dominiert der Diskurs der Angst. Schlimmer noch sieht es bei den Orten, Opfern und TäterInnen der Gewaltanwendung aus. Die findet nämlich kaum in den dunklen Ecken, am unübersichtlichen Waldrand oder in der schummerigen Bahnunterführung statt, sondern nur halb versteckt genau da, wo Menschen Macht übereinander haben: In Familien, Arztpraxen, Heimen und natürlich bei Polizei, Armee und im Gefängnis. 80% der Fälle von sexuellem Missbrauch im europäischen Raum finden in Familien oder im Bekanntenkreis statt. 5% der Anzeigen bei den Sexualstraftaten betreffen die Fälle mit Mord, die in den Medien gerne gehypt werden. Doch selbst von diesen spektakulären Fällen finden zwei Drittel in der Familie und engerem Bekanntenkreis statt. Sie tun das sehr oft unter den Augen Dritter, Vierter, Fünfter, die alle wegsehen und schweigen. Gewalt und Kriminalität sind der Alltag in den miefigen Kernen der Bürgerlichkeit. Doch gefälschte Zahlen und die Märchenstunden in Zeitungen und Fernsehen schaffen eine Angst vor Fremden, vor unüberwachten Räumen und öffnen Herz und Verstand für die totale Kontrolle der Gesellschaft. Deren tatsächlichen Interessen brauchen nicht mehr genannt werden, wenn die Menschen aus verführter Angst sie selbst herbeisehnen.
Dieser Manipulation, die ein großer Diskurs ist, weil die verfälschenden Informationen von den Opfern der Angstmache ständig selbst und in voller Überzeugung weiterverbreitet werden, folgt noch eine zweite. Denn selbst wenn es stimmen würde, dass Kriminalität zunimmt und vor allem unter Fremden bzw. in der Fremde stattfindet, würden die Mittel, die uns als Arznei verschrieben werden, nicht helfen. Denn Strafe schützt nicht vor Gewalt, sondern erzeugt diese. Kinder, die missbraucht werden, tun dies häufiger später auch selbst. Wer zwecks "Erziehung" geprügelt wurde, neigt selbst häufiger zu gewaltförmigem Verhalten. Die Spitze gewaltförmiger Unterwerfung stellen Gefängnisse dar. Und auch sie verhindern Gewalt nicht, sondern erzeugen diese - im Knast und durch die Zerstörung des sozialen Umfeldes der Gefangenen auch für deren späteres Leben außerhalb der Mauern. Wer Opfer von Gewalt wird, hat von einer Videoüberwachung herzlich wenig - außer der höheren Gewissheit, dass irgendwann lange danach eine andere Person als mutmaßlicheR TäterIn auch richtig schlecht behandelt und mensch vom Opfer zur ZeugIn mutiert und in die Mühlen der Justiz gerät - eine meist fürchterliche, auf jeden Fall aber ohnmächtige Rolle.

Aus "Wie sicher sind wir?", in: FR, 11.9.2009 (S. 10f.)
Ein fataler Dreiklang befördert den Ruf nach steter Strafverschärfung, und der hat wenig zu tun mit realer Kriminalität oder gar mit Terror. Mord und Totschlag bilden in der Statistik 0,1 Prozent aller Fälle; in der über Medien wahrgenommenen Welt ist jede zweite Straftat ein Gewaltverbrechen. So werden über Krimis und Nachrichten die Ängste der Bürger geschürt, die Politik wähnt sich zum Handeln genötigt, also zu Härte, worauf die Medien in ihrer Mehrheit bei jedem neuen, spektakulären Fall dringen.


Nachhaltigkeit
Als die Umweltbewegung, vormals getragen vor allem aus einer Fülle an Basisgruppen und BürgerInneninitiativen, Ende der 80er Jahre ihren Zenit überschritt, hatte das viele Ursachen. Die ehemaligen Protestkreise hatten ihre bürgerlichen Karrieren begonnen, Papi Staat fütterte die Verbandszentralen mit Millionen, was vielfach zu handzahmen SpitzenfunktionärInnen und zur Verlagerung von Handlungsmacht in die Apparate führte. Das erhöhte die Berechenbarkeit von Protest und schuf Abhängigkeit, nachdem der Wandel vollzogen und die handlungsmächtigen Teile der Verbände nicht mehr ohne die Staats- und Industriegelder überleben konnten. Parallel veränderten sich die Inhalte. Die alte Idee eines Umweltschutzes, verbunden mit der Kritik an Luxus, Wachstum und Rohstoffausbeutung, mutierte zu einem kapitalismuskompatiblen Modell eines begrünten Profits und Konzerndaseins, genannt Nachhaltigkeit. Nicht alles was, verloren ging, war ein emanzipatorischer Verlust, denn mit der Nachhaltigkeitszeit endete die Dominanz konservativer bis rechter Ökologieideen. Der rechte Öko Herbert Gruhl verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Gefüttert mit den Staatsmillionen wurde der neue Begriff Nachhaltigkeit gepredigt. Ökonomie und Ökologie sollten nun gleichberechtigt sein, was die modernisierten UmweltschützerInnen als Fortschritt begriffen. Offenbar hatten sie vergessen, dass vorher das Primat der Ökologie vor der Ökonomie ihr Leitsatz war. Das Trommelfeuer des Nachhaltigkeits-Diskurses lief über alle Kanäle: Medien, Fördergelder, Bildung und Politik. Vom Kampfjet der Bundeswehr bis zum BildungsbürgerInnenhaushalt mit zwei Ökostrom-betriebenen Mikrowellen und drei Hybridantriebsautos ist heute alles nachhaltig. Gesteigert als "Green New Deal" dient der Umweltschutz heute sogar als Begleitmusik für neue Wirtschaftsaufschwungphantasien. Der Diskurs vernichtet also nicht nur Inhalte, sondern sorgt dafür, das der Verlust als Gewinn empfunden wird.

Als Detail am Rande sei auf die Umweltkonferenz von Rio 1992 hingewiesen. Sie brachte die Agenda 21 hervor, das Leitwerk der Nachhaltigkeitsdebatte in den 90er Jahren. Als die Konferenz damals zuende ging, sprachen Greenpeace, Gorbatschow und andere Medienstars der seichten Ökotheorien von einem Fehlschlag. Die Fördermillionen plus reichlich Propaganda machten aus Rio aber einige Jahre später einen Welterfolg. Die Agenda 21, das geradezu widerliche Abschlussdokument mit seinen Lobeshymnen auf Atomkraft, Gentechnik und Dominanz der Industrieländer auf der Welt, mutierte zur Leitkulturidee - gelesen hatte es offenbar niemand. Rio und Agenda 21 waren perfekte Diskurse. Da der Ursprung noch nachzulesen ist, könnten sie leicht enttarnt werden. Dass es nicht geschieht, zeigt den Zustand von Umweltbewegung. Sie sind nichts als eine kritikscheue, gekaufte Begleitfolklore des kapitalistischen Durchmarsches.


Bevölkerungsexplosion
"Ungebremstes Wachstum" ist noch ein eher harmloser Begriff, wenn die Bevölkerungszahlen beschrieben werden. "Explosion" oder "exponentielles Wachstum" sind seit Jahren gebräuchlich. Mathematisch meint das ein Wachstum, dessen Kurve immer steiler verläuft. Untermalt wird es mit Menschenmassen auf großformatigen Fotos. Die Welt scheint kurz vor dem Untergang. Nicht Atomkraftwerke, rücksichtslose Wirtschaftsformen und machförmig durchgesetzte Stoffflüsse sind die Ursache, sondern die Menschen. Unter dem Vorwand, die Welt zu retten, starten Bevölkerungskontrollprogramme - doch bei genauerer Betrachtung ist alles wirr, widersprüchlich und von Herrschaftsansprüchen geleitet.
Schon die Zahlen sind falsch. Die Bevölkerung wächst nicht immer schneller oder exponentiell, sondern die Kurve flacht sich seit Jahren ab. Die Gesamtmenge steigt zwar noch immer, aber ein Ende ist abzusehen. Zum zweiten zeigen die Bilder von Menschenmassen bevorzugt dunkelhäutige Menschen. Wissen Sie, welches der am dünnsten besiedelte Kontinent ist? Es ist Afrika. Genau die dort lebenden Menschen sind aber biopolitischen Überlegungen ausgesetzt. Es geht offensichtlich nicht um die Beschränkung der Bevölkerung, sondern um bestimmte Menschen, die sich nicht vermehren sollen - damit mehr für andere übrigbleibt? Und wenn von diesen Privilegierten mal ein paar weniger werden, dann wird plötzlich nach Bevölkerungswachstum gerufen. Dass in Deutschland, einem der dichtest besiedelten Länder der Welt, die Bevölkerung leicht zurückgeht, führt zu großen Sorgen. Über dünner besiedelte Gebiete herrscht dagegen Aufregung, wenn sie steigt.
Der Diskurs der Bevölkerungsexplosion erzeugt Bilder, die mit dem tatsächlichen Geschehen nichts zu tun haben. Aber sie sind nützlich für bestimmte Politiken, die nichts als Herrschaftsausübung sind, aber unter dem Deckmantel der Weltrettung versteckt werden.

  • Infoseite zum Diskurs um das Bevölkerungswachstum

Wissenschaft, Sachlichkeit und Objektivität
"Sachlich bleiben", "man muss das objektiv sehen", "wissenschaftlich gesehen ist das so und so" - solche und ähnliche Formulierungen laden Meinungen mit Wichtigkeit auf. Aus der politischen Auseinandersetzung wird ein religiöses Gezerre. Denn die Behauptung, etwas sei deshalb richtiger, weil es "wissenschaftlich" oder "sachlich" sei, hat den gleichen Gehalt wie die Behauptung, etwas sei "vom Volk gewollt" oder "Gottes Wort". Denn wenn es Wahrheit nicht gibt, dann gibt es auch kein "wissenschaftlich wahr". Regelmäßig erzeugen WissenschaftlerInnen soviele Wahrheiten, wie sie gut dotierte Arbeitsaufträge erhalten und ihren GeldgeberInnen ein zum Honorar passendes Ergebnis liefern. Das muss nicht einmal mit Fälschungen einhergehen, sondern folgt bereits aus einem voreingenommenen Blick auf das Geschehen. Doch der Diskurs von Sachlichkeit und Objektivität verleiht dem ExpertInnentum Flügel. Titel und fremdwortreiche Worthülsen steigern den Eindruck, den Wissenschaft hinterlässt. Nur die ständigen Streitlinien zwischen den verschiedenen Interessen und GeldgeberInnen folgenden ForscherInnen nehmen der Wissenschaftsgläubigkeit etwas seiner Wirkung.

Aus Kappler, Marc (2006): "Emanzipation durch Partizipation?", Marburg (S. 22)
Jegliche Wissenschaft mit emanzipatorischem Anspruch, Kritik an der etablierten Ordnung und damit Kritik an der politischen Ökonomie ist gesellschaftlich positioniert. Damit legt sie allerdings zugleich ihr erkenntnisleitendes Interesse offen und verfällt nicht einem uneinlösbaren Glauben an eine objektive Wissenschaft, die außerhalb der Gesellschaft stehe. Gerade umgekehrt, nur durch das Eingeständnis und die Reflexion ihrer gesellschaftlichen Positioniertheit und deren Offenlegung, besteht überhaupt die Möglichkeit sich einer objektiveren Sichtweise zu nähern. So steht in der ‚Dialektik der Aufklärung’ über die Kritische Theorie: „Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung.“


Sozialrassismus von Hartz IV bis Sarrazin
Februar 2010 im kalten Deutschland. Die FDP, Partei der Besserverdienenden und Marktgläubigen, ist mal wieder an der (Bundes-)Regierung. Da fällt dann auf, dass ihre politischen Konzepte Unsinn sind. Folge: Fallende Umfragewerte. Knapp ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl würden die (Neo-)Liberalen gerade noch die Hälfte der Stimmen bekommen wie zur Wahl. Auf der Not will FDP-Boss Westerwelle eine Tugend machen und mutiert zum deutschen Haider: Er schimpft auf die Empfänger von Sozialleistungen. Dabei zeigt er kalkuliertes Geschick: Er schürt Neid bei denen, die kaum mehr verdienen als die Hartz-IV-EmpfängerInnen. Der Chef der Partei, die mit ihrem Widerstand gegen Mindestlöhne, Grundeinkommen und einer Politik der Umverteilung von unten nach oben besonders schuldig ist an den Dumpinglöhnen überall, erdreistet sich, sich zum Fürsprecher just seiner Opfer zu machen und ihnen zu erklären, dass Schuld an ihrer Misere die sind, denen es noch schlechter geht. Das Dumme: Seine Polemik verfängt. Denn sie trägt alle Züge gesteuerter Diskurse: Aus dem Bauch heraus, an starke Gefühle (hier: Neid) appellieren, Ängste und Miseren ausnutzen und dann die Opfer gegenseitig ausspielen. Zudem werden politische Analysen verkürzt. Die Behauptung, Hartz-IV-EmpfängerInnen hätten irgendwas mit den sich ausbreitenden Niedriglöhnen zu tun, ist so stumpf wie die Behauptung, Deutschland würde durch AusländerInnen bedroht. Doch Diskurse überzeugen nicht durch scharfe Analytik, sondern im Gegenteil müssen sie, um erfolgreich zu sein, dem Hang zur Vereinfachung entgegenkommen. Das schont den Kopf - und Denken ist für Menschen, die darauf zugerichtet sind, einfach als Rädchen im System zu funktionieren, nicht zu viele Fragen zu stellen, nicht so genau hinzuschauen und sich weiter fremdbestimmen zu lassen statt selbst zu organisieren, immer anstrengend. Eiskalt haben Westerwelle & Co. das ausgenutzt. Der Teilerfolg trat ein, obwohl die Dümmlichkeit der Aussagen schwer zu übertreffen war.
Oder doch? Denn nicht lange danach trat ein Bundesbänker und ehemaliger Finanzsenator der rot-roten (!) Berliner Regierung in die Öffentlichkeit. Er warnte vor dem Untergang Deutschlands und verstieg sich bei den Versuchen, dafür Gründe anzuführen, in derart absurde Thesen, dass eigentlich an kurzes Auflachen, die Verarbeitung der kruden Behauptungen in manch mittelmäßigem Kabarett und ansonsten das beschämte Vergessen einer solch traurigen Figur wie Thilo Sarrazin selbst in der nicht gerade besonders scharfsinnigen Gesellschaft in Deutschland hätten folgen müssen. Doch weit gefehlt: Um die Veröffentlichung von Sarrazin wurden Diskurse gesponnen, die die Wucht dieses Machtmittels eindrucksvoll zeichneten. Das sei nicht am dem wirren Gefasel von Judengenen und anderen Buch"inhalten" gezeigt, sondern an der Behauptung, die Kritik an Sarrazin sei Maulkorb, Zensur und das Ende der freien Meinungsäußerung. Ein Großteil der Menschen hat das tatsächlich so auch geglaubt und Sarrazin, in heimlicher Zustimmung zu seiner faschistoiden Ideologie oder in tiefer Überzeugung des Kampfes für Meinungsfreiheit, in LeserInnenbriefen, Veranstaltungen oder Internetchats verteidigt. Dabei hatte niemand von denen übersehen, dass Sarrazins Buch eine Millionenauflage erreichte, er vor gefüllten Hallen, in Talkshows und auf allen Radiokanälen seinen Nonsens verkünden durfte. Als Einschränkung der Meinungsfreiheit wurde also nicht kritisiert, dass Sarrazin nicht mehr reden durfte (das war erkennbar ganz anders), sondern dass er kritisiert werden durfte. Unter dem Deckmantel des Wehklagens über eine vermeintliche Zensur von Sarrazin ("das wird man wohl noch sagen dürfen") wurde tatsächlich ein Maulkorb für die Kritik an Sarrazin angestrebt. Mit Erfolg, denn kaum jemand wagte sich noch, den faschistoiden Volkstribun anzugreifen.

Das also zeichnet Diskurse aus. Den Menschen wird beigebracht, was sie als wahr empfinden, was normal ist. Von allen Seiten, selbst aus den eigenen Freundeskreisen, dringen unaufhörlich die Informationen in den eigenen Kopf, setzen sich dort fest, brennen sich ein. Die Wahrnehmung einer fremden, steuernden Information geht verloren (wenn sie jemals da war), das Aufgenommene wird zum Wahren, dann Eigenen und so auch weitergegeben. Diskurse sind selbsttragend. Sie können beeinflusst und initiiert, aber nicht zentral gesteuert werden. Sie sind genau deshalb so wirkmächtig, weil sie quasi aus allen Ritzen zirpen.

Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist eine moralische Norm. Anders als der diskursive Anschein (durch den herrschaftsförmigen Gebrauch erzeugter Anschein) ist Gerechtigkeit komplett inhaltsleer, wird bei Benutzung aber regelmäßig diskursiv mit einem hinter dem Begriff versteckten Inhalt gefüllt. Dieser versteckte Inhalt ist dann das jeweilige Interesse. Die moralische Aufladung mit dem Begriff der Gerechtigkeit soll zusätzliche Argumente überflüssig und die eigenen Interessen durchsetzungsstärker machen. So lassen sich völlig gegenteilige Aussagen jeweils als gerecht darstellen:
  • Wer mehr schuftet, soll dafür auch belohnt werden.
  • Alle Menschen sollen gleichviel zum Leben haben.
  • Alle Menschen sollen soviel zum Leben haben, wie sie benötigen.

Die drei Sätze bezeichnen jeweils eine Form der Gerechtigkeit. Keiner der Inhalte scheint irgendwie ungerecht. Die Gerechtigkeit ist aber jeweils mit einem anderen Interesse gefüllt, das im Satz nicht selbst ausgesprochen wird. Insofern ist Gerechtigkeit eine Norm, deren konkreter Inhalt versteckt werden kann hinter der Norm. Als Norm aber ist Gerechtigkeit immer herrschaftsförmig, weil sie einen universellen Maßstab, eine Moral darstellt.

Im Original: Kritik am Konzept der Gerechtigkeit
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 88 ff., mehr Auszüge)
Gleich zu Beginn möchte ich eine sehr wichtige Unterscheidung treffen: nämlich zwischen Freiheitsidealen und dem Begriff von Gerechtigkeit. Diese beiden Wörter werden so austauschbar gebraucht, dass sie fast als synonym erscheinen. Gerechtigkeit unterscheidet sich jedoch grundlegend von Freiheit, und es ist wichtig, das eine von dem anderen zu trennen. Im Laufe der Geschichte haben beide zu sehr unterschiedlichen Kämpfen geführt und bis zum heutigen Tag radikal verschiedene Forderungen an die jeweiligen Machthaber und Regierungssysteme gerichtet. Wenn wir zwischen bloßen Reformen und grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft unterscheiden, so geht es dabei großenteils bei den einen um Forderungen nach Gerechtigkeit, bei den anderen aber um Freiheit - so eng beide Ideale in instabilen sozialen Perioden auch miteinander verwoben sein mochten.
Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit, nach "Fairneß" und einem Anteil an den Erträgen des Lebens, zu denen man selbst einen Beitrag leistet. Mit den Worten Thomas Jeffersons ist sie auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips "gleich und exakt... ". Diese faire, äquivalente, anteilsmäßige Behandlung, die einem sozial, juristisch und materiell im Austausch für die eigene eingebrachte Leistung zuteil wird, wird traditionell durch Justitia, die römische Göttin, dargestellt, die mit einer Hand die Waage und mit der anderen das Schwert hält und deren Augen verbunden sind. Zusammengenommen bezeugt die Ausstattung der Justitia die Quantifizierung von Rechtsgütern, die auf beide Waagschalen verteilt werden können; die Macht der Gewalt, die in der Form des Schwertes hinter ihrem Urteil steht (unter den Bedingungen der "Zivilisation" wurde das Schwert zum Äquivalent des Staates), und die "Objektivität“ ihres Richtens, die sich durch die verbundenen Augen ausdrückt.
Ausführliche Diskussionen über Theorien der Gerechtigkeit, von Aristoteles in der Antike bis zu John Rawls in unserer Zeit, brauchen hier nicht untersucht zu werden. Sie beinhalten Ausführungen über das Naturrecht, über Verträge, Gegenseitigkeit und Egoismus - Themen, die nicht von unmittelbarem Belang für unsere Darstellung sind. Aber die Binde um Justitias Augen und die Waage in ihrer Hand sind Symbole für eine höchst problematische Beziehung, die wir nicht ignorieren dürfen. Vor Justitia sind alle menschlichen Wesen scheinbar "gleich". Sie stehen ihr gleichsam "nackt“ gegenüber, allen Status und aller gesellschaftlicher Privilegien und Sonderrechte entkleidet. Der berühmte "Schrei nach Gerechtigkeit" hat einen langen und komplexen Stammbaum. Schon in den frühen Tagen systematischer Unterdrückung und Ausbeutung gaben Menschen der Justitia mit offenen oder verbundenen Augen -eine Stimme und machten sie zur Sprecherin der mit Füßen Getretenen gegen die gefühllose Ungerechtigkeit und gegen die Verletzung des Äquivalenzprinzips.
Anfänglich wurde Justitia dem stammesmäßigen Gesetz der Blutrache, der bedenkenlosen Vergeltung für die Verletzung eines Blutsverwandten entgegengesetzt. Das berühmte lex talionis - Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben - wurde ausschließlich bei Schädigung eines Verwandten und nicht für Menschen im allgemeinen angewendet. Auch wenn die Forderung nach Rechtsausgleich innerhalb des eigenen Stammes rational erscheinen mag, so zeugte doch dieses Gesetz von einer beschränkten Denkweise und einem engen Horizont.
(S. 88 ff.)

"Die Gerechtigkeitslücke", in: taz, 12.10.2010 (S. 12)
Wenn die FDP jetzt vorschlägt, dass Besserverdienende kein Elterngeld mehr bekommen sollen, klingt das zunächst nach einer gerechten Idee: Warum sollen Menschen, die so viel Geld verdienen, dass sie es kaum ausgeben können, zusätzlich noch etwas bekommen, nur weil sie ein Kind kriegen? Und wiederum jene, die jeden Cent mehr dringend brauchen, nämlich Hartz-IV-EmpfängerInnen und -AufstockerInnen, gar nichts mehr beziehungsweise nur ein paar Euro?
Trotzdem: Gerecht im Sinne des Gleichheitsgebots im Artikel 3 des Grundgesetzes ist der FDP-Vorschlag nicht. Menschen mit den gleichen Voraussetzungen, in diesem Fall der Geburt eines Kindes, dürfen bei familienpolitischen Sozialleistungen nicht unterschiedlich behandelt werden.


Texte und Zitate von Blaise Pascal im Text von Jan Lüsing: "Re-Visionen" des Rechts, Sonderdruck aus: Müller, Friedrich, "Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts"
"Das einzig Gewisse ist: dass gemäß der reinen Vernunft nichts an sich gerecht ist, alles schwankt mit der Zeit. Die Gewohnheit macht die ganze Gerechtigkeit, allein deshalb, weil sie sich eingebürgert hat. Das ist der mystische Grund ihrer Autorität." ...
"Gerechtigkeit. - Wie die Mode das Vergnügen, so bestimmt sie auch die Gerechtigkeit." ...
"... so nennt man gerecht, was man zu beachten gezwungen ist." ...
"Aber das Volk ist für diese Lehre nicht zugänglich; und so wie es annimmt, dass man die Wahrheit finden könne und dass in den Gesetzen und Gebräuchen Wahrheit sei, glaubt es an sie und wertet ihr Alter als Bweis ihrer wahrheit (und nicht allein als Beweis ihrer Autorität ohne Wahrheit). Deshalb befolgt es sie; es ist aber geneigt, sich zu empören, sobald man ihm zeigt, dass sie nichts wert sind; ..."
"Es ist gefährlich, dem Volk zu sagen, dass die Gesetze nicht gerecht sind, denn es gehorcht ihnen nur, weil es sie für gerecht hält."
Das geltende Recht ist das Produkt historischer Kontingenz. Das Autorität stiftende Fundament der Gerechtigkeit ist die Gewöhnung an die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse. Dieses Gewohnt-sein erzeugt in Bezug auf das Bestehende die Illusion von Gerechtigkeit - ein Für-gerecht-halten. Das Überkommene wird f ür gerecht gehalten. Gerechtigkeit ist daher lauf Pascal nur ein Gefühl, das nicht als Prüfmaß bestehender Rechtsverhältnisse dient, sondern umgekehrt von diesen Verhältnissen geprägt und definiert wird. Pascal deckt nach seinem Verständnis einen Mechanismus der selbstlegitimierung des Überkommenen, des Faktischen auf, welchem selbst eigentlich nur Zufälligkeit zukommt. Aufgrund dieses Relativismus entfällt ein metarechtliches Richtigkeitskritierium überhaupt. Damit steht die pascalsche Position einer rechtspositivistischen Lesart offen: Die Gültigkeit des positiven Rechts ist unabhängig von der Bewertung seines Inhalts an einen metarechtlichen Maßstab. Was gelten soll, gilt, wekl es nach dem Willen der etablierten Macht gelten soll. Jedoch ist das Verhältnis der politsschen Macht zur Gerechtigkeit nicht nur durch das Primat der Macht gekennzeichnet, sondern die politische Macht ist auch für ihren eigenen Erhalt auf dem Schein des Gerechten angewiesen. ...
Bei Montaigne und Pascal gelten Gesetze und Rechtsverhältnisse zwar deshalb, weil man sie aufgrund von Gewöhnung für gerecht hält, tatsächlich fehlt ihnen damit aber zugleich ein vorgängiger Geltungsgrund. Mystisch ist daher nicht nur die Gewohnheit als stille, unbemerkte Quelle eines Gerechtigkeitsempfinden, welches nur ein scheinbarer Geltungsgrund sein kann (da dieses Empfinden nicht vorgängig, sondern den gegenwärtigen Rechtsverhältnissen nachgängig ist, da es ja erst durch dise geprägt wird), sondern mystisch ist vielmehr auch der tatsächliche Geltungsgrund gegenwärtiger Gesetze und Rechtshältnisse, insofern sie ohne Grund gelten - gelten müssen. Genau darin, in dem Fehlen eines Geltungsgrundes, liegt aber auch für Derrida das Mystische. Der Begründungsdiskurs von Normen, kann nicht selbst wieder durch einen Metadiskurs begründet werden. Denn auch für diesen Metadiskurs müsste man konsequenterweise nach einem ihn begründenden Meta-Metadiskurs verlangen, so dass sich ein endloser Begründungsregress ergibt. Daher bleibt nur der Abbruch der Begründung auf erster Stufe, so dass Rechtsverhältnisse als Akt der Gewalt ohne vorgängige Rechtfertigung gestiftet werden



Angst
Angst ist nicht ganz vergleichbar mit den anderen genannten Diskursen, denn Angst hat keine bestimmte Richtung und beinhaltet keine konkreten Interessen. Aber sie macht zugänglich. Wer Angst hat, ist anfällig für vereinfachte Erklärungsmuster - und für irrationale Hoffnungen. Über Angstmache kann sich das Recht des Stärkeren als schützende Macht inszenieren. Beherrscht zu werden kann so zu einem Wunsch der Beherrschten selbst werden.

Im Original: Angst schüren ...
Aus Stefan Aust/Thomas Ammann, „Digitale Diktatur“ (2014, Econ bei Ullstein, S. 332ff)
"Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung", schrieben die Richter, sei eine Gesellschaftsordnung "nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß". Denn wer unsicher sei, "ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden", der werde auch versuchen, sein Verhalten entsprechend anzupassen. Im Klartext: Wer Angst haben muss, permanent überwacht zu werden, traut sich nicht mehr aufzufallen. Weiter im Urteilstext: "Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl." Denn Selbstbestimmung der Bürger sei eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, so das Verfassungsgericht.
Diese Anpassung aus Angst vor Überwachung, die nach Ansicht der Karlsruher Richter die Demokratie bedroht, ist vielfach beschrieben worden. Der französische Philosoph Michel Foucault hat dafür in der 1970er Jahren den Begriff "Panoptismus" gefunden, in Anlehnung an Jeremy Benthams Entwurf eines perfekten Gefängnisses, genannt "Panopticon". Der britische Jurist und Sozialreformer Bentham stellte sich im 18. Jahrhundert einen Rundbau mit nach innen gerichteten Zellen vor, in dessen Mitte ein einziger Wachturm stand. Die Fenster des Turms sollten von außen nicht einsehbar sein. Dieser Aufbau sollte die perfekte Überwachung der Häftlinge mit geringstem Aufwand ermöglichen. Er wurde später tatsächlich in abgewandelter Form für den Bau von Gefängnissen und anderen geschlossenen Anstalten, zum Beispiel Psychiatrien, übernommen: Das sogenannte Pennsylvania Modell ist als Kreuzbau angelegt, in der Mitte sitzt das Wachpersonal und kann in allen Richtungen die Korridore mit den Zellentüren überwachen. Bentham sprach von der "scheinbaren Allgegenwart des Aufsehers" und beschrieb, welche Auswirkungen diese auf die Insassen haben würde: Sie sollten "stets das Gefühl haben, als würden sie überwacht, zumindest als wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass dies der Fall sei" wie in Orwells fiktivem Ozeanien, in dem auch nie klar ist, wann sich die Gedankenpolizei in die Teleschirme einschaltet.
Der französische Philosoph Foucault sah in Benthams Panopticon den "Spiegel der Moderne", ein Symbol für die Mechanismen, mit denen ein moderner Staat funktioniert. In einem solchen Konstrukt, so Foucault, "werde die Macht über den Einzelnen in Form einer ständigen individuellen Überwachung ausgeübt, in Form von Kontrolle, Strafe und Belohnung, in Form von Besserung, das heißt der Formung und Veränderung des Einzelnen im Sinne bestimmter Normen". Foucault erkannte, dass die Disziplinierung in diesem Panopticon das Entscheidende ist, die Beherrschung der "Seele", mit der Absicht, auf das Verhalten der Menschen einzuwirken. "Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß", schrieb Foucault, "übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung."


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