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KOORDINIERUNG UND KOOPERATION
AUF DER METAEBENE DER GESELLSCHAFT

Räte


1. Einleitung
2. Zentrale Steuerung
3. Demokratische Legitimation
4. Räte
5. Die übersehenen Problem aller Modelle: Eliten, Ressourcen, diskursive Macht ...
6. Perspektiven
7. Links

Eine dritte Möglichkeit sind Rätesysteme. Auch hier gibt es etliche unterschiedliche Vorschläge. Immerhin steckt in ihnen eine immanente Kritik an zentraler Steuerung und an demokratischer Legitimation. Das ist aus emanzipatorischer Sicht ein Fortschritt. Allerdings lassen viele Vorschläge für Räte andere Aspekte der Herrschaftsausübung außer Acht.
Räte sind immerhin ein Versuch, das Problem nicht legitimierter Entscheidungsebenen und nicht rückholbarer Stellververtretung zu lösen. Das Motiv, Kooperation und Koordinierung nicht nur dem bloßen Zufall zu überlassen, ist ebenso erkennbar wie die Furcht vor einer leicht lenkbaren Masse ohne Differenz, wenn keine feste Binnenstruktur vorhanden ist.

Was aber sind nun Räte? Grundidee ist, dass sich Menschen in ihnen zusammenfinden, die an einer Sache interessiert sind oder konkrete Anliegen einbringen. Diese bilden dann aus Delegierten der Basisräte eine nächste Ebene - und so immer fort theoretisch bis zum Weltrat. Es ist also eine Pyramide, aber mit umgekehrten Machtverhältnissen. Zumindest der Theorie nach bestimmt die Basis über die zentralen Räte. Daher sind solche Rätesysteme auch eine typische innere Organisierungsform in der der Basisdemokratie.
Allerdings gehen die konkreten Vorschläge zur Umsetzung sehr weit auseinander. Über die Art, wie die Delegierten bestimmt werden und welche Rechte sie haben, herrschen große Unterschiede. Weit verbreitet ist die Idee, dass die Delegierten fest an das Votum der sie entsendenden Räte gebunden sind (imperatives Mandat).
Die folgenden Texte benennen Vorschläge für die Funktionsweise von Räten - durchaus nicht einheitlich.

Im Original: Definition und Vorschläge für Funktionsweise
Auf Wikipedia
Die Räte werden auf mehreren Ebenen gewählt: Auf Wohn- und Betriebsebene werden in Vollversammlungen Abgesandte in die örtlichen Räte entsandt. Diese delegieren wiederum Mitglieder in die nächsthöhere Ebene, die Bezirksräte. Das System der Delegierung setzt sich bis zum Zentralrat auf staatlicher Ebene fort, die Wahlvorgänge geschehen somit von unten nach oben. Die Ebenen sind meist an Verwaltungsebenen gebunden und haben ein imperatives Mandat, das heißt sie sind an den Auftrag ihrer Wähler gebunden – im Gegensatz zum Freien Mandat, bei dem die gewählten Mandatsträger nur „ihrem Gewissen“ verantwortlich sind. Die Räte können demgemäß von ihrem Posten jederzeit abgerufen oder abgewählt werden.

Aus www.anarchismus.at über die Abläufe im Rätesystem
Jeder Rat ist grundsätzlich autonom (unabhängig). Zur Bewältigung bestimmter Probleme oder zur Bildung von Räten, die sich überregional organisieren müssen (z.B. Transportwesen, Post usw.) wählt der Rat sogenannte Delegierte. Grundsätzlich hat jedes Mitglied eines Rates das aktive und passive Wahlrecht, d.h. er/sie kann wählen und gewählt werden. Die Delegierten bilden dann wieder einen Rat, der sich nach denselben Prinzipien organisiert wie eben beschrieben. Hierbei ist immer gewährleistet, dass die, die das meiste Vertrauen in der Bevölkerung genießen, und sich mit dem Problem, um das es gerade geht, gewählt werden. Im Gegensatz zum bürgerlichen Parlament kennt jedeR die Delegierten, die er/sie mir den Aufgaben betraut gut. Dies ist eine klare Organisation von Unten nach Oben. Die Aufstellung von Delegierten ist im Grunde eine rein technische Angelegenheit, denn 7 Millionen Österreicher können sich schlecht versammeln und noch weniger sich über irgendwelche Probleme unterhalten. Damit dies auch eine rein technische Angelegenheit bleibt und der/die Delegierte seine/ihre Position nicht missbraucht, wird er/sie immer nur für kurze Zeit gewählt: meist nur für die Zeit die nötig ist, diese oder jene Sache zu bewältigen. Die Delegierten werden aber auch deshalb von Zeit zu Zeit ausgewechselt, damit möglichst viele Menschen fähig werden, Dinge zu beurteilen und Probleme zu lösen.
Wenn einE DelegierteR gewählt ist, bekommt er/sie von seinem/ihrem Rat einen Auftrag. Man sagt ihm genau, was er/sie zu tun und was er/sie zu lassen hat. Dies ist die eigentliche Aufgabe des Rates, in ihm werden die anstehenden Probleme diskutiert; jedeR kann sich äußern, jedeR kann argumentieren und mensch versucht die für alle einleuchtendste Lösung zu finden. Wird eine Lösung vorgeschlagen, so können alle sicher sein, dass sie von einer ganzen Reihe von Leuten, die auf diesem Gebiet Erfahrung haben, gewissenhaft durchdiskutiert wird. Die Einzelheiten sind dann mehr oder weniger dem/der Delegierten überlassen. DieseR ist aber wieder den ursprünglichen Räten laufend Rechenschaft schuldig.
Weicht die Arbeit der Delegierten von den Beschlüssen des Rates ab, ohne dass es dafür vernünftige Gründe gibt, werden diese sofort abgesetzt und neue Delegierte, die das Vertrauen besser rechtfertigen, gewählt. Dieses Prinzip nennt man „imperatives Mandat“. So entscheidet also in jedem Fall der unterste Rat und nicht der Delegiertenrat, was gemacht wird. Wie wir sehen, löst dieses System alle Mängel, die wir im Kapitel über die bürgerliche Demokratie und über den autoritären Sozialismus an allen gegenwärtigen Systemen festgestellt haben. Das Rätesystem, mehr als einmal erprobt, garantiert eine echte lebendige Volksdemokratie in allen Lebensbereichen. Es sorgt dafür, dass jedeR die gesellschaftliche Organisation gänzlich durchschauen, in sehr vielen Dingen mitreden kann und, dass sich keine Führungsschichten bilden können. Die gesellschaftliche Organisation, Produktion und Verteilung wird also rationell (ohne Umwege) und den Bedürfnissen des Volkes entsprechend organisiert. Eine bedeutende Bewegung der Selbstverwaltung (= System der Gesamtheit aller Räte) finden wir vor allem in Frankreich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts: die Genossenschaften.


Aus Alex Demirovic, "Wirtschaftsdemokratie, Rätedemokratie und freie Kooperationen", in: Widerspruch 55 (2/2008, S. 63 f.)
Die Räte entscheiden auf der jeweiligen Kompetenzebene und delegieren Entscheidungen nach oben, wenn das sachlich geboten ist. Die Mandatsträger einer Wahlkörperschaft sind direkt delegiert, sie vertreten sie also nicht repräsentativ im Sinne eines abstrakten Volkes, sondern im Sinne einer konkreten Gruppe von Menschen; sie müssen ihr Abstimmungsverhalten rückkoppeln, sind also jederzeit kontrollierbar und abrufbar. ...
Mit der Einschränkung auf Arbeiterräte entsteht also ein grundsätzliches Problem. Es muss nämlich die Frage beantwortet werden, die durchaus der Frage nach dem Volkssouverän verwandt ist: Wer ist ein Arbeiter, eine Arbeiterin, wer hat also das Beteiligungsrecht? Wer entscheidet darüber, wer ein Arbeiter ist? ...
In der Folge der Rätedemokratie müssten sich die sozialen Klassen - also die Bindung von Individuen an arbeitsteilig vorgegebene Tätigkeiten - auflösen. Die Räte überschreiten auch die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort und organisieren beides in freier Selbstbestimmung neu.


Aus Fromm, Erich (1985): "Über den Ungehorsam", dtv München (S. 94)
In Gewerkschaften organisierte Arbeiter, in Verbraucherorganisationen zusammengeschlossene Verbraucher und die in den oben erwähnten kleinen politischen Gruppen organisierten Bürger, die sich persönlich kennen, müssen mit den zentralen Behörden in ständigem Austausch stehen. Dieser Austausch muss so erfolgen, dass neue Maßnahmen, Gesetze, Vorkehrungen usw. vorgeschlagen und nach Abstimmung von der Basis entschieden werden, wobei sämtliche gewählten Repräsentanten einer ständigen kritischen Beurteilung unterzogen und - falls nötig - auch abberufen werden.

Die meisten Beschreibungen von Räten sind unkritisch bis naiv oder träumerisch. Denn es ist schnell erkennbar, das von den Basisräten nach mehreren Stufen bis zum nationalen oder Weltrat nicht mehr viel übrig ist. Die Vollversammlungen an der Basis sind nur noch über etliche Stufen mit dem zentralen Rat verbunden, Informationsflüsse wären folglich intensiv gefiltert. Funktionierende Modelle im kontinentalen oder gar globalen Maßstab sind bislang auch noch unbekannt.
Auch das imperative Mandat wirft schnell viele Fragen auf: Was geschieht in der zweiten Stufe der Delegation, wo die Delegierten ja Mitglied einer Basisversammlung und eines Rates erster Stufe sind. An welches Votum sind sie gebunden? Eine Stufe weiter sind alle schon in drei Räten Mitglied usw. Und wie lässt sich überhaupt überprüfen, wie ein Delegierter sich im weit entfernten Rat verhält?

Ein besonderer Typ von Räten sind fest installierte Räte mit Entscheidungs- und Handlungskompetenz. Die Arbeiter- und Soldatenräte alter, kommunistischer Entwürfe gehören zu solchen Räten, deren Legitimation ausschließlich aus der Ideologie folgt, dass Arbeiter und (warum eigentlich die?) Soldaten die zur Führung berufenen Klasse sind.

Aus Wilde, Oscar (1970): "Der Sozialismus und die Seele des Menschen", Diogenes (S. 16f)
Aber ich gestehe, viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, scheinen mir mit unsaubern Vorstellungen von autoritärer Gewalt, wenn nicht tatsächlichem Zwang behaftet zu sein. Autoritäre Gewalt und Zwang können natürlich nicht in Frage kommen. Alle Vereinigung muss ganz freiwillig sein. Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön.

Anarchistische und basisdemokratische Modelle versuchen, mit weiteren Festlegungen die Probleme der Rätesysteme zu minimieren. Neben dem imperativen Mandat und der jederzeitigen Abrufbarkeit finden sich Konsensprinzip oder der völlige Verzicht auf Entscheidungen auf höherer Ebene. Die dortigen Räte sind ausschließlich zum Zwecke der Koordinierung da und müssen ihre Beschlussvorschläge immer wieder von den darunter liegenden Räten absegnen lassen (was nicht nur schwerfällig wirkt, sondern bei mehrfach gestuften Rätesystemen wiederum die Frage aufwirft, wer denn nun die Basis des Ganzen ist - die Basisversammlungen als untere Stufe der Pyramide oder die jeweils unter einem Rat liegende Ebene).

Im Original: Anarchistische Modelle
Aus Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 18)
Die anarchistische Gesellschaft baut sich im Räteprinzip basisdemokratisch - "von unten nach oben" - auf. Auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Freiwilligkeit bilden Gesellschaft und Individuum einen untrennbaren Organismus.
In diesem Organismus wird sowohl dem natürlichen Freiheitswillen, als auch dem Bedürfnis nach Geselligkeit des Menschen entsprochen, er bildet die einzig wirkliche Form des demokratischen Zusammenlebens.

Aus Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 25)
Die Menschen förderieren sich lokal in ihren Gemeinden und parallel dazu in ihren Produktionsgenossenschaften. Probleme werden basisdemokratisch unmittelbar von den Betroffenen selbst vor Ort gelöst. Die lokalen Förderationen sind Bestandteil regionaler Förderationen. Diese wiederum schließen sich auf nationaler und auf internationaler Ebene zusammen, so dass letztlich weltweit überall Konföderationen von Konföderationen bestehen. Auf allen Ebenen sind Delegierte dem imperativen Mandat verpflichtet, so dass Proudhon von einem Gesellschaftsaufbau von "unten nach oben" spricht, im Gegensatz zur hierarchischen Struktur eines Staatsgebildes.


Konkrete Vorschläge für Räte (Quelle)
Die Räte bilden das Prinzip, das der Selbstverwaltung zugrunde liegt. Sie sind von den bisher bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen die demokratischste. Hundertmal an verschiedenen Stellen der Erde sind sie immer aufgetaucht. Erfinder dieser Organe ist das revolutionäre Volk. Immer waren die Räte die spontane Antwort der unterdrückten Massen gegen ihre Unterdrücker; stets kam in ihnen ein völlig entgegengesetztes Konzept gesellschaftlicher Organisation zum Ausdruck als das herrschende. Wir finden sie in der französischen Revolution von 1789, in der Pariser Commune von 1871, in der russischen Revolution von 1905 und in der Oktoberrevolution sind sie ein fester Bestandteil des revolutionären Prozesses. 1921 finden wir sie in Kronstadt und 1936 entwickeln sie sich zum Träger der Revolution - auch 1956 im Ungarn, 1969 in Italien und 1971 in Polen tauchen sie wieder als Organe der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker auf. Es gibt unzählige Beispiele mehr.
Die Räte sind sowohl geographische als auch sachliche Organisationsformen. Sie können sich überschneiden, d.h. es gibt z.B. den Rat eines Dorfes, einer Stadt oder eines Landstrichs, je nach Größe und Einwohnerzahl. In diesem Gebiet organisieren sich Räte nach sachlichen Zusammenhängen, so z. B. am Arbeitsplatz, in der Fabrik, im Transportwesen, in den Krankenhäusern, Universitäten und Schulen, auf den Bauernhöfen, ja sogar in den Familien, Stadtteilen und Bezirken. Es kann auch andere sachliche Zusammenhänge geben, wie den Rat der Frauen, den der Alten, der Körper"behinderten", der VerbraucherInnen usw. Jeder Rat ist im Grunde nichts weiter als die Versammlung aller Menschen, die unter einen bestimmen Bereich fallen und an ihm teilnehmen möchten. Die Teilnahme und Mitarbeit ist freiwillig, demzufolge auch die Unterwerfung unter die Beschlüsse des Rates, sowie der Genuss der durch ihn erzielten Ergebnisse. Die Räte versammeln sich in bestimmten Abständen und vor allem immer dann, wenn wichtige Probleme zur Lösung anstehen. Damit sie arbeitsfähig bleiben, sollten die Räte klein gehalten werden. (Es wäre z. B. unsinnig, einen Rat von Wien oder Europa zu bilden.


Aussage von Bakunin, zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 41)
Die freie Vereinigung des Einzelnen in Gemeinden, der Gemeinden in Provinzen, der Provinzen in Völkern, endlich der Völker in den vereinigten Staaten von Europa und später in der ganzen Welt.

Aussage von Bakunin, zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 49)
Die Organisation schließt jede Idee einer Diktatur und einer leitenden, bevormundenden Macht aus. Zur Errichtung dieser revolutionären Allianz selbst und zum Sieg der Revolution über die Reaktion ist es aber nötig, dass inmitten der Volksanarchie, die das eigentliche Leben und die ganze Energie der Revolution bilden wird, die EInheit des revolutionären Gedankens und die revolutionäre Aktion ein Organ findet. Dieses Organ soll die geheime und universale Assoziation der internationalen Brüder sein.

Aus Fuchs, Christian (2001): „Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus“, Selbstverlag (S. 209 ff., online einsehbar)
Charakteristisch für die Rätemodelle des Anarchismus sind föderalistische Vorstellungen, nach denen Entscheidungen, die nicht nur eine Organisationseinheit betreffen, sondern mehrere, in der Form von Föderationsräten behandelt werden sollten. Im allgemeinen wird in der Demokratietheorie davon ausgegangen, dass direkt- und basisdemokratische Entscheidungsmechanismen in großen Organisationsstrukturen schwierig sind und für kleinere organisatorische Einheiten geeignet sind. Im Fall von Versammlungsmodellen scheitert ein Rat, in dem alle Betroffenen direkt miteinander diskutieren, spätestens dann, wenn es zu viele Menschen sind, die eine Entscheidung miteinander gestalten wollen. Zehntausende können nicht auf demokratische Weise in einer Versammlung direkt miteinander kommunizieren. Daher sind Föderationsmodelle für den Anarchismus naheliegend.
Nach anarchistischen Vorstellungen sind in Föderationsräten Delegierte der unterhalb der Föderation liegenden organisatorischen Einheiten vertreten. Die unterschiedliche Gestaltungsweise dieser Räte hat Einfluß auf den Inklusions- und Exklusionsgrad der entstehenden sozialen Informationen. Eine wesentliche Frage besteht darin, ob Delegierte entscheidungsbefugt sind oder ob sie als reine kommunikative Schnittstellen betrachtet werden. Viele Rätemodelle gehen davon aus, dass Delegierte von ihrer Basis gewählt werden sollen und jederzeit von ihr abberufen werden können. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass diese Delegierten im eigenen Ermessen in Föderationsräten entscheiden. Es entsteht damit aber die Gefahr der Loslösung von Entscheidungen von ihrer Basis. Insbesondere ist dies problematisch, wenn es mehrere Föderationsstufen gibt und dieselben Delegierten die Möglichkeit haben, in mehreren Stufen vertreten zu sein und unabhängig von ihrer Basis Entscheidungen zu treffen. Es kann dann sehr leicht, so entsprechende anarchistische KritikerInnen, zur Ausbildung von Hierarchien und asymmetrischer Machtverteilung kommen. Ist dies der Fall, so werden der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad der in den Föderationsräten entstehenden sozialen Informationen deutlich abgeschwächt. Entscheidungen, die in Föderationsräten entstehen, betreffen viele Menschen. Im beschriebenen Fall, hat aber nicht mehr jedeR dieselbe Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen. Delegierte haben dann mehr Macht als ihre Basis.
Wiederum anders zu betrachten ist das erläuterte horizontale Modell, das davon ausgeht, dass Delegierte keinen Spielraum zur selbständigen Entscheidung bekommen sollten, sondern Kommunikationsschnittstellen zwischen organisatorischen Einheiten oder Interessensgruppen darstellen. Soll eine Entscheidung getroffen werden, so treffen Delegierte aller Einheiten und Interessensgruppen, die davon betroffen sind, zusammen und diskutieren das Problem. Sie können allerdings keine Entscheidungen treffen, müssen also wiederum Rücksprache mit ihren Basen halten, deren Meinung sich durch den übergreifenden Diskussionsprozeß möglicherweise geändert hat. Die Delegierten vertreten die Interessen ihrer Basis in Diskussionen mit anderen Gruppen und sind Kommunikationsschnittstellen zwischen ihrer Basis und den Menschen, die sich in anderen Gruppen und Einheiten organisieren.


Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet
Denn die Anarchisten übergeben ihre durchdachten und sorgfältig errechneten Vorschläge nicht irgendwelchen Regierungsstellen sondern der selbstverantwortlichen Arbeiterklasse insgesamt, die selber alles prüfen, selber verbessern, selber die Ausführung überwachen muss durch diejenigen Organe, welche sie selbst ausschließlich für diesen Zweck bestimmt, ohne sie deswegen auch nur zeitweilig aus der tätigen Gemeinschaft aller zu entlassen. Diese Organe werden die soziale Triebkraft der Revolution bedeuten, sie werden von der Stunde des Sieges an Wirtschaft und Verwaltung des Gemeinwesens in den Händen führen, sie werden in der Zeit des Überganges und während der ganzen Entwicklung der sozialistischen Arbeits- und Gesellschaftsformen die Ordnung der Freiheit betreuen und verbürgen, sie werden die kommunalistische Anarchie schaffen und in der anarchischen Gemeinschaft die Träger der Föderation der Arbeits- und Menschheitsbünde bleiben. Diese Organe sind die freien Räte der Arbeiter und Bauern. ... (S. 64 f.)
Räte als die Träger der sozialistischen Gemeinschaft sind die Beauftragten aller am allgemeinen Werk beteiligten Menschen, durch die sich die Gesamtheit der Tätigen mit jeder einzelnen Person in den gesellschaftlichen Lebensprozeß einschaltet. In einer von Ausbeutung befreiten Zeit versieht ausnahmslos jeder Mensch, der sich nicht etwa selbst außerhalb des sozialen Geschehens stellt, Rätedienste. Nur für die Zeit des revolutionären Überganges müssen selbstverständlich diejenigen von aller Rätearbeit ferngehalten werden, gegen die sich die Revolution richtet. Da es erste Verpflichtung der Räte ist, die kapitalistische Ausbeutung abzuschaffen und das sozialistische Gemeinwesen zu verwirklichen, können Personen, die den Sozialismus gar nicht wollen, nicht zum Aufbau des Sozialismus herangezogen werden. In dieser Zeit fällt den Räten die besondere Aufgabe zu, die Zwangsmaßregeln der proletarischen Klasse durchzuführen, die zur Brechung gegenrevolutionärer Bestrebungen erforderlich sind und zu verhindern, dass sich unter Berufung auf Gefährdungen der Revolution neue Regierungsgebilde auftun, die von Rätemacht reden, um ihre eigne Macht dahinter zu befestigen, und die von einer Diktatur des Proletariates sprechen, uni selber Diktatoren spielen zu können.
Die Anarchisten tun gut, sich des Ausdrucks Diktatur des Proletariates so wenig wie möglich zu bedienen, obwohl bei richtigem Auffassen des Rätebegriffs und ohne Hinterhältigkeit kaum etwas anderes darunter verstanden werden könnte als die Niederhaltung von Widerständen gegen die proletarische Revolution durch die proletarische Klasse. ... (S. 65 f.)
Das Rätesystem schafft, und hier zeigt sich seine Übereinstimmung mit den anarchistischen Grundsätzen, bei unverfälschter Anwendung keinerlei Beamtenschaft, keinerlei Sonderanspruch einzelner, keinerlei umfassende Machtvollkommenheit. Denn ein den Räten von der Gesamtheit erteilter Auftrag ändert in keiner Weise das gleichwertige Verhältnis zwischen Auftraggebern und Beauftragten. ... (S. 66)
Alle Aufträge bleiben an den Willen derer gebunden, die ihn erteilen; wer ihn erhält, ist nichts als ausführendes Organ der Körperschaft, die ihm die Teilarbeit überträgt, für die sie ihn geeignet hält; er ist Willensvollstrecker einer bestimmten Gemeinschaft, der er selbst angehört, und zwar Willensvollstrecker für die bestimmte einmalige Aufgabe, die ihm übertragen ist. ... (S. 67)
Eine Rätegesellschaft, eine Räterepublik - das Wort Republik bezeichnet keineswegs ohne weiteres eine Staatsform, sondern jede Selbstverwaltung eines Gemeinwesens durch das Volk - eine Rätewirtschaft ist nur als föderatives Gebilde zu denken und kann niemals ein Staat sein oder in einem Staatsganzen Platz finden. ... (S. 68)
... Selbstverwaltung eines Gemeinwesens durch das Volk ...
Der Arbeiterrat einer industriellen Anlage, der zunächst Wesenseins ist mit der Gesamtbelegschaft, regelt im Werk selbst die Verteilung der Pflichten nach der Art der Beschäftigung, berücksichtigt aber im Falle etwa der Beschlußfassung über einen Anbau die Wünsche und Bedenken aller verschiedenen Tätigkeitsgattungen die mit dem Betriebe unmittelbar oder mittelbar verbunden sind.


Ralf Burnicki
Die anarchistische Konsensdemokratie
Transkription eines Videos von O. Ressler, aufgenommen in Bielefeld, Deutschland, 29 Min., 2005
Festzuhalten bleibt, dass auch überregionale Entscheidungen möglich sind. Konsensentscheidungsprozesse machen sich nicht an einer Region oder überregionalen Maßstäben fest, sind allerdings auch nicht auf die Größe eines Millionenstaates wie die Bundesrepublik übertragbar. Zur Regelung öffentlicher Angelegenheiten, z. B. dem Bau einer Straße oder dem Bau einer Schule - wenn es denn Schulen gibt und wir uns darauf verständigen können -, oder der Regelung von Elektrizität, ist es schon notwendig, dass sich Kommunen und Regionen überregional verständigen und von dem Bedarf und den Bedürfnissen der Einzelnen und Gruppen ausgehen, die in den Kommunen leben. Sie könnten nun zur Regelung solch öffentlicher Belange Zwischengremien zwischen den verschiedenen Kommunen und Regionen einführen. Diese Zwischengremien versuchen, Vorschläge zur Bewältigung eines Problems zu entwickeln. Von hier ausgehend gehen die Vorschläge an die Basisgruppen und Kollektive zurück. Dabei ist es wichtig, dass nur solche Vorschläge umgesetzt werden, die die Zustimmung aller Beteiligten und Betroffenen finden. Es soll also ausgeschlossen sein, dass eine Gruppe, die einem Vorschlag widerspricht, weil sie negativ betroffen wäre, übergangen wird. Das hat Gunar Seitz in einem Artikel wunderbar beschrieben: Wenn ein Mensch oder eine Gruppe sich negativ betroffen sieht, weil sie einen materiellen Verlust erleidet - die Straße würde z. B. dort gebaut, wo jetzt das Haus steht, in dem Menschen wohnen - ist eine solche Entscheidung eine herrschaftliche, da sie zu Gunsten der Bedürfnisbefriedigung einer Mehrheit über die Bedürfnisse von Minderheiten hinweg gefällt werden würde. Das geht in einer anarchistischen Gesellschaft nicht. Die Zwischengremien hätten keinerlei Entscheidungsfunktion, sie wären Diskussionsgremien, Kreise, in denen sich alle Betroffenen einfinden können, um mit zu diskutieren. Ziel ist es dabei, einen Vorschlag, der für alle Seiten gangbar ist, heraus zu arbeiten und diesen Vorschlag an die Basisgruppen zurückzugeben. Auf diese Weise würde eine überregionale Kooperation möglich. Um sich das vorzustellen, dass das auch tatsächlich umsetzbar und realisierbar ist, braucht man sich heute nur vorzustellen, dass auch die Post auf der Ebene von Staaten und auch zwischen Staaten funktioniert, ohne dass es eine Weltpostbehörde gibt. Menschen sind also durchaus in der Lage, mit Hilfe von Gremien auch überregionale Belange zu organisieren.

Aus Fotopoulos, Takis (2003): "Umfassende Demokratie", Trotzdem in Grafenau (S. 427 ff.)
Demotische Versammlungen föderieren sich auf der regionalen, nationalen und schließlich auch kontinentalen und globalen Ebene. Föderale Versammlungen bestehen aus (normalerweise per Rotations- oder Zufallsprinzip ausgewählten) Delegierten, die von den demotischen Versammlungen jederzeit wieder abberufen werden können. Die Funktion der föderalen Versammlungen besteht nur in der Implementierung und Koordinierung der politischen Entscheidungen der demotischen Versammlungen.

Wie groß die Verwirrung über Rätesysteme ist, zeigen anarchistische Texte, in denen Räten plötzlich umfangreiche Rechte eingeräumt werden - sie erscheinen plötzlich wie Regierungen und Parlamente in einem. Falls es Konflikte gibt, übernimmt ebenfalls ein Rat die Rolle der Justiz. So enthielt ein deutschsprachiger Anarchietext den Vorschlag, die gesamte gesellschaftliche Macht auf vier Räte zu verteilen - eine Art der Gewaltenteilung, die dem modernen Rechtsstaat ziemlich ähnlich wirkt.

Im Original: 4 Räte, Wählen, Richten, Steuern
Aus Stehn, Jan (1995): "Eine Struktur für die Freiheit"
Der politische Bereich - vier regionale Räte:

  • Der Kapitalrat vergibt den gesellschaftlichen Reichtum als Kredit.
  • Der Ökologierat setzt die ökologischen Rahmenbedingungen. Naturschutzgebiete begrenzen die Bodennutzung. Umweltauswirkungen der Betriebe und Projekte werden erfaßt und über Ökosteuern ein finanzieller Anreiz gegeben, negative Umweltfolgen zu reduzieren.
  • Der Sozialrat finanziert ein Gesundheitswesen, das kostenlos genutzt werden kann.
  • Der Konfliktrat ist den anderen Räten übergeordnet und wird aktiv, wenn er angerufen wird, von Menschenb, die sich in ihrer Freiheit ungerechtfertigt beschränkt oder geschädigt sehen. ... Der Konfliktrat mobilisiert die gesellschaftliche Selbstverteidigung gegen Menschen, die (wiederholt) sich der Bearbeitung eines Konfliktes verweigern: Öffentliche Nennung des Konfliktes und des 'Konfliktverweigerers', sozialer und ökonomischer Boykott, Beschlagnahmungen u.ä. ...
Libertäre Demokratie ...
Anstelle von Regierungen und Parlamenten, die über fast alles entscheiden dürfen, treten Fachräte (z.B. Ökorat) mit klar begrenzten Aufgabenbereichen.
Dezentralisierung der politischen Strukturen, z.B. Konflikträte auf kommunaler Ebene, Kapitalräte auf Ebene von heutigen Bundesländern.
Machtteilung durch Parallelstrukturen, Minderheiten können eigenen Konfliktrat, eigenen Kapitalrat wählen.
Nicht nur Personen sondern auch ihr Programm wird gewählt und ist verbindliche Grundlage für die Arbeit der Räte


Ja nichts verändern: Alle 4 Jahre wählen
Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995)
Die Leitungsgremien der Räte (...) werden etwa alle vier Jahre von der Bevölkerung gewählt. ...
(S. 13)
Wenn nach vier Jahren der Ökorat erneut gewählt wird ...
(S. 16)

Rätehierarchie und Finanzhoheit (gleiche Quelle, S. 50 f.)
Jeder Ökorat stellt den Regionen, von denen seine Region Schadstoffe empfängt, eine Rechnung aus in Höhe der eigenen Umweltschadensverwertung. ...
Untergeordnet wären zusätzlich lokale Ökoräte sinnvoll. Sie regeln z.B. im Umfeld von 50 km die unmittelbaren Umweltprobleme.


Aber AnarchistInnen sind oft ziemlich theorielose Gutmenschen - sozialisiert im Kern des Gutmenschentums, dem BildungsbürgerInnentum. Dort wird der Gedanke an strukturelle Herrschaftsförmigkeit und diskursive Beeinflussung oft weggewischt. Es dominiert der Appell an den Menschen: Alles wird gut, wenn wir es nur wollen und danach handeln ...

Im Original: Das gute Regieren
Aus einem Text über die Zapatistas in der Jugendzeitung "Utopia", Ausgabe Nr. 1 / Herbst 2007 (S. 4, Download über www.jugendzeitung.net)*
In den Schriften der Zapatistas findet man keine Aussagen, die jeden Staat klar ablehnen. Zudem gibt es in den fünf autonomen Regionen jeweils einen „Rat der Guten Regierung“ (in Abgrenzung zur „schlechten Regierung“ des mexikanischen Staates).
Diese „Räte der guten Regierung“ scheinen zunächst einen Widerspruch zu anarchistischen Ideen darzustellen, da Regierungen
stets mit Herrschaft verbunden sind.
Das „Regieren“ der Zapatistas wird jedoch von einigen auch als „eine Umsetzung der Wünsche der Bevölkerung, also ein ‚gehorchendes‘ Organisieren“ bezeichnet. Tatsächlich haben die Räte der guten Regierung meist organisatorische Aufgaben. Es ist aber auch von der „Überwachung der Einhaltung von Gesetzen, die nach gemeinsamer Absprache mit den Gemeinden in den rebellischen Landkreisen gelten“, die Rede. Diese Aufgabe ist typisch für Staaten, allerdings ist bei den Zapatistas mit „Überwachung“ nicht unbedingt die gewaltsame Durchsetzung der Gesetze gemeint. Dazu fehlt den Räten der guten Regierung die Exekutive.
Es gibt keine Polizei oder Armee, die für die Einhaltung der Gesetze sorgt. In einzelnen Gemeinden haben die kommunalen Räte jedoch ein Gewaltmonopol und verhängen Strafen wie zum Beispiel Haft oder Ausschluss aus der Gemeinde. Der parlamentarischen „Demokratie“ der meisten Staaten stellen die Zapatistas ein Rätesystem sowie basisdemokratische Mittel wie das imperative Mandat gegenüber, für das das zapatistische Motto „gehorchend regieren“ bezeichnend ist.
Entscheidungen werden oft im Konsens getroffen. Dies ist zunächst positiv, jedoch wird es problematisch, wenn alle Veränderungen zwingend im Konsens beschlossen werden. Kollektive Entscheidungen sind zwar notwendig, Menschen werden aber nie in der Lage sein, alle Entscheidungen zwecksrational zu treffen, weshalb es immer Meinungsverschiedenheiten geben wird. Es gibt keinen Konsens, und somit auch keine Entscheidung. Keine Entscheidung? „Keine Entscheidung“ ist jedoch auch eine Entscheidung! Wenn kein Konsens gefunden wird, wird entschieden, dass alles so bleibt, wie es ist. Teilweise sogar gegen den Willen der Mehrheit. Kommt also kein Konsens zustande, sind Mehrheitsentscheidungen gegen den Willen von Minderheiten zwingend notwenig. Diese sind zwar nicht herrschaftsfrei, ermöglichen jedoch die größtmögliche Freiheit.
Das Argument, das sonst so häufig gegen Konsensverfahren, Anarchismus sowie andere Utopien angeführt wird („Der Mensch ist doch von Natur aus egoistisch“), ist natürlich Schwachsinn, was die Zapatistas auf einzigartige Art und Weise beweisen: In den Gemeinden wird gemeinschaftlich und solidarisch gearbeitet, gelebt und gekämpft – für Land und Freiheit!
*Hinweis: Die vermeintliche Jugendzeitung erschien anfangs in gleicher Machart, mit gleichen Positionen und gleichem V.i.S.d.P. wie die Graswurzelrevolution!

Eine Verbesserung könnten eventuell Kombinationen der verschiedenen Modelle, also demokratischer und Rätesysteme, bringen - sichtbar aber auch nur begrenzt. Etliche Formen von Herrschaft lassen sich aus einem Pyramidenaufbau eben nicht herausbringen.

Im Original: Räte und Demokratie verbinden?
Aus Michael R. Krätke, "Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft", in: Widerspruch 55 (2/2008, S. 9 f.)
Kann man sich eine funktionierende Wirtschaftsdemokratie ohne Parlamente, ohne politische Parteien, ohne allgemeine Wahlen vorstellen? Das wäre die Rätedemokratie, die ebenso funktional und territorial gegliedert sein kann wie heutige parlamentarische Demokratien. Ohne Repräsentation, ohne bindende Entscheidungen der gewählten Vertreter, ohne Wahlen, ohne eine funktionierende Arbeitsteilung zwischen Verwaltung, Regierung und Kontrolle (bzw. Justiz), ohne Kompetenzverteilung, ohne Hierarchie kommt auch eine Räteorganisation nicht aus. Sie braucht sogar, das wird Jürgen Habermas freuen, eine Art von Parlamentarismus im alteuropäischen Sinn des Wortes: Das Volk, das arbeitende wie das nichtarbeitende, weiß auch bei hinreichender Allgemeinbildung keineswegs immer schon, was es will. Kollektive Entscheidungen lassen sich eben nicht, wie nach (neo)liberaler Phantasievorstellung, bruchlos in individuelle Entscheidungen auflösen. Kollektive und individuelle Entscheidungen haben unterschiedliche Zeithorizonte und unterschiedliche Reichweite. Kollektive Entscheidungen über gemeinsame, gesellschaftliche Angelegenheiten, im einzelnen Betrieb ebenso wie in der Gesamtwirtschaft, müssen vorbereitet, ermöglicht werden; ein kollektiver, politischer Wille muss geformt werden. Vor allem dann, wenn statt der Routine des Business as usual Entscheidungen über die stets unsichere Zukunft anstehen. Das braucht öffentliches, allgemein zugängliches Wissen, das braucht Zeit und Gelegenheit zur öffentlichen Debatte des Für und Wider.
Idealiter wäre das die zentrale Aufgabe eines parlamentarischen Systems - einschließlich der politischen Parteien. Weil aber nicht alle Gesellschaftsmitglieder Arbeiter/innen sind, weil es verschiedene Arten und Grade der Beteiligung an der Produktion, Verteilung und Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums gibt, haben demokratische Sozialisten und Sozialistinnen für eine duale Struktur plädiert: Zwei Säulen demokratischer Organisation sollten einander stützen und ergänzen, die parlamentarische Säule für alle Bürger/innen ohne Unterschied und die Rätesäule, die als demokratische Organisation des Systems gesellschaftlicher Arbeit funktioniert. ...


Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Die kleinsten Einheiten der Föderation müßten überschaubar bleiben und ohne Repräsentativorgane arbeiten können. In den föderativen Zusammenschlüssen dieser Einheiten sollen sich die Befugnisse der "Zentralgewalten" auf zuvor vertraglich vereinbarte und kündbare Aufgaben und Leistungen beschränken. Mit zunehmender Größe der Föderation sollen sich die Befugnisse der "Zentralgewalten" gegenüber den Basiseinheiten und unteren Föderationen verringern. Die Entscheidungsträger der "Zentralgewalten" werden von den unteren Einheiten delegiert. Für Proudhon gilt der Grundsatz, dass die Gesellschaft derart umzustrukturieren ist, dass möglichst viele Entscheidungen dezentral von den Basiseinheiten getroffen werden können. Das schließt überregionale Zusammenschlüsse, selbst eine weltweite Kooperation nicht aus. Die Vertretungen der Provinzen, der "Staaten" und der Welt haben begrenzte Entscheidungskompetenzen, sind aber nicht in allen Entscheidungen abhängig von den jeweiligen Basiseinheiten. Ein solches System gewährleistet bei Freiheit und Unabhängigkeit der unteren Ebene die Koordination der politischen Einheiten und stellt eine organisatorische Grundlage für ökonomische und politische Absprachen und Planungen dar. ... (S. 77)
Die politisch autonomen Einheiten müßten unter Wahrung ihrer vollständigen Autonomie auf der Basis freier Vereinbarungen kooperieren und zu verschiedenen Zwecken und über festgelegte Zeiträume untereinander Föderationen bilden. Eine Vergesellschaftung herrschaftlich-staatlicher Strukturen könnte auf kommunaler Ebene über die Bildung von Rätevertretungen ermöglicht werden, wobei die Organisation der regionalen und überregionalen politischen Entscheidungen durchaus andere Formen aufweisen könnten als die kommunalen - etwa auch parlamentarisch-demokratische, sofern die Vertreter unter bestimmten Voraussetzungen jederzeit abberufbar sind und Entscheidungen von weitreichenderer Bedeutung über Plebiszite getroffen werden könnten.
Zu bedenken bliebe, ob nicht für die unterschiedlichen Vertretungs- bzw. Entscheidungsebenen unterschiedliche Vertretungssysteme angemessen sind; z. B.: Vollversammlungen entscheiden auf der untersten Ebene der Nachbarschaften und wählen von Fall zu Fall Delegierte, die die getroffenen Entscheidungen zu vertreten haben; für einen bestimmten Zeitraum gewählte Räte vertreten auf kommunaler und regionaler Ebene die Interessen ihrer Wähler, unterliegen aber dem imperativen Mandat; daneben könnten auf überregionaler Ebene - der Ebene der politisch autonomen Einheiten - gewählte Vertreter aus politischen Parteien in Form einer parlamentarischen Demokratie ihre weitergehenden, aber durch Plebiszite eingeschränkte Entscheidungskompetenzen wahrnehmen. Damit wäre eine politische Handlungsfähigkeit möglich, die nicht gegeben wäre, wenn jede politische Entscheidung von den Betroffenen selbst getroffen würde. Auf der Ebene der dezentralen, politisch autonomen Einheiten bedarf es Instanzen mit einem gewissen Handlungsspielraum - nicht zuletzt, um im Rahmen einer Föderation der politisch autonomen Einheiten weitergehende, auch weltweite, Kooperationen zu ermöglichen. ... (S. 95)


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