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SELBSTENTFALTUNG

Wie geht's?


Einleitung · Egoismus als Antrieb · Wie geht's? · Was hindert uns?

Selbstentfaltung ist Gegenkultur. Fast alle Einflusse der Umwelt prägen heute in die andere Richtung. Menschen werden auf Rollen geprägt, ihnen wir eigenständige Handlungsfähigkeit, ja sogar der Willen dazu gekommen. Menschen verspüren nach einigen Jahren Schule keine Lust mehr auf Lernen und eignen sich nur noch (oft widerwillig) das an, was von ihnen verlangt wird. Ihre Schaffenskraft bringen sie nur ein, wenn sie dafür entlohnt werden. Sie lernen, dass sich eigene Initiative, eigenes Können außerhalb von Erwartungskorridoren nicht rentiert. Mitunter richten sie sich kleine, begrenzte Inseln kreativen Auslebens an - als Hobbies.

Ausbrechen, Freiheiten erkämpfen, das Leben wagen
Der erste Schritt ist eine Entscheidung: Ich will hier raus! Auch wenn Kooperationen die Selbstentfaltung fördern, wenn gegenseitige Hilfe die Handlungsmöglichkeiten erweitern - der Entschluss muss aus dem eigenen Willen erfolgen. Flucht allein ist nur ein Schein: Der Kapitalismus ist "schlau" genug, flexible Reaktionen auf Ausbruchsträume bereit zu halten. Zum einen werden rauhe Ränder offen gehalten, in die Menschen fallen können, wo sie aber auch nicht mehr stören - ob nun als Obdachloser auf der Straße, als Hartz-IV-EmpfängerIn in der Schlichtwohnung mit Kabelempfang oder als Punk am städtischen Brunnen, gefangen in der Illusion von Widerständigkeit. Zum anderen arbeiten überall Reparaturbetriebe, die Arbeitskraft wieder herstellen - Kurorte, Krankenhäuser, Psychiatrien, Gefängnisse, Familien, Schulen. Selbstverständlich stehen auch sie unter der allumfassenden Logik von Profit und Verwertung. Selbst für den Protest sind geordnete Kanäle vorgesehen, von Demonstrationszügen bis zu politischen Parteien. Sie spielen angesichts ständig neuer Verwerfungen eine wichtige Rolle, aufkommenden Protest in appellative Kraft zu wandeln und am besten die Maschine aus den Kritiken zu optimieren.

Der Ausbruch muss sich gegen die Maschine wenden. Er muss nicht gleich vollständig sein - kann aber. Wo er jedoch stattfindet, sollte er konsequent sein. Denn die Maschine ist gefräßigt. Sie saugt jede kulturelle Neuerung auf und macht sie zu einem Teil von sich selbst, wenn diese nicht widerständigen Abstand hält. Der Ausbruch muss gegenkultureller Art sein, d.h. es kommt nicht nur auf den Inhalt von Protest, sondern auch auf die Art an, wie er sich organisiert und vermittelt. Alles muss Sand im Getriebe und darf nicht vereinnahmbar sein.
Weniger wichtig ist, ob das Stück groß oder klein ist, das wir der Maschine von unserem Leben entreißen, um selbiges wieder selbst zu gestalten. Die Debatte um Reform oder Revolution ist sowohl für unseren Alltag wie auch insgesamt sinnlos. Entscheidend ist, dass das, was wir an Änderung herbeiführen (wollen), nicht die Maschine größer macht, sondern den Teil, der außerhalb der Maschine liegt - oder die Maschine direkt blockiert. Nach dem großen Schuh, der alles zum Stillstand bringt, werden wir lange suchen müssen. Es gibt keinen angreifbaren, alles verbindenden Mechanismus, der wie ein Schalter zu betätigen ist. Hinzu kommt der fehlende Willen auch bei den meisten Protestgruppen, die Verhältnisse umzuwerfen. Ein Schmiermittel der Maschine ist Gesinnung, die wie ein Naturgesetz bleiern über der gesamten Szenerie liegt. Es braucht daher bereits einen kraftvollen Willensentschluss, sich loszureißen - zumindest für ein kleines, vielleicht wachsendes Stück. Denn ein Gelingen kann Mut machen für mehr.

Experimentierfelder schaffen
Suchen wir uns für den Sprung aus der Maschine Orte, die es wert sind. Meist müssen sie erst geschaffen werden. Die Maschine lässt nicht einfach überall Schlupflöcher oder Leerstellen. Die Büsche des Maquis müssen gepflanzt werden! Das geht überall, aber manche Orte bieten sich im Besonderen an. Das sind zum einen die, die für den Betrieb der Maschine nicht so von Bedeutung sind oder die sich der Kontrolle leichter entziehen. Hier könnten selbstbestimmtes Leben und das Ausprobieren anderer Organisierungsformen leichter fallen als dort, wo konkurrierende Ansprüche schnell aufeinanderprallen, also z.B. am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung. Aber Achtung: Direkte Repression und autoritäre Verhaltenssteuerung sind nur ein Teil der äußeren Beeinflussung. Diese abzuschütteln, reicht nicht. Denn jeder Mensch spiegelt die Zurichtungen und Diskurse der Gesellschaft auch selbst wider. Sie müssen aktiv überwunden werden. Experimentierfelder, die wir wählen, müssen nicht groß, sollten aber konsequent sein. Sonst scheitern wir ziemlich schnell an uns selbst oder dem sozialen Umfeld, welches am Experiment beteiligt ist. Das ist schon allzu oft geschehen, dass Menschen ihre direkte Beherrschung abschüttelten, um dann selbst die Garanten der Normalität in ihrem Leben zu werden (siehe Vereine, selbstverwaltete Betriebe, neue Parteien, besetzte Häuser ...). Wir schleppen unsere Zurichtungen und Maßstäbe in neue Projekte und Experimente hinein, weshalb dort regelmäßig das Bisherige - vielleicht in leicht modernisierter Form - reproduziert wird. Spätestens bei Krisenstimmung brechen die alten Gewohnheiten durch, Kontrolle und Beschränkungen werden als Lösungsweg gewählt. Das zeigt dann, wie kleingeistig der Entwurf eigentlich war, und integriert die vermeintliche Keimzelle des Neuen in das Alte.
Zudem wirken überall die direkten Beeinflussungen in die Experimente hinein. Fast immer bleiben oder entstehen Notwendigkeiten, Gelder zu erwirtschaften oder zu beschaffen. Erarbeitete Ergebnisse sollen gesichert werden - von Eigentum über Außenbeziehungen bis zum Wissen. Das Neue befindet sich im Alten. Es kann im Falschen besser bestehen, wenn es nach den Regeln des Falschen handelt, also das eigene Wissen hortet, die Ressourcen als Eigentum behandelt und Werte schafft. Dummerweise wird es dann auch zum Falschen, denn genau das ist ja das Prägende im Hier und Jetzt: Konkurrierender Gebrauch von eigener Denk- und Schaffenskraft, von Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen.

Um ein Experimentierfeld zu schaffen, bedarf es also einer Konsequenz in alle Richtungen. Es bedarf nicht des revolutionären Einakters im Kleinen, also der vollen Entfaltung aller Möglichkeiten von Beginn an. Erstens würde das in vielen Fällen die eigenen Möglichkeiten überfordern, zweitens ist Selbstentfaltung ein Prozess, in dessen Verlauf sich die Möglichkeiten erst auftun, die dann ergriffen werden können. Es kommt also nicht auf die quantitative Radikalität des Anfangs, sondern die Konsequenz als dauernder Prozess an.

Den Alltag zum Experimentfeld wandeln
Ein besonderes Experimentierfeld sei noch genannt. Es ist das, was uns am direktesten umgibt und am meisten prägt: Unser eigener Alltag. Wie wir wohnen, wie wir uns fortbewegen, wie wir uns materiell reproduzieren, welche Beziehungen wir zu anderen Menschen pflegen, wie wir kommunizieren - das und vieles mehr ist zwar oftmals Selbstverständlichkeit im Tagesverlauf und deshalb nicht besonders stark im Bewusstsein. Aber tatsächlich liegen hier die effektivsten Veränderungspotentiale. Zudem muss niemand Aufwand betreiben, um an diese Orte der Veränderung von Lebensentwürfen zu gelangen. Der Alltag ist schon da. Immer. In ihm materialisiert sich alles, was an gesellschaftlicher Fremdsteuerung auf uns lastet: Unsere eigene Zurichtung, die Diskurse, die autoritären Formen der Verhaltenssteuerung, die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten. Der Wandel im Kleinen ist also, soll er nicht in einer Selbsttäuschung enden, die Auseinandersetzung mit dem Ganzen. Der Satz "Das Private ist politisch" gewinnt hier seine sinnvolle Anwendung - nicht jedoch in der Behauptung, es sei bereits eine politische Handlung, was jedeR privat macht. Wer aber den Alltag oder Teile davon bewusst zu verändern beginnt in Richtung selbst gewählter Gestaltung des eigenen Lebens, wird mit eigenen Prägungen und dem Einfluss von außen in Konflikt kommen. Das provoziert Handlungen, die Wirkung nach außen entfalten - und dann politisch sind.

Kein Sprung aus den vorgegebenen Rillen dieser Gesellschaft ist der Wechsel der Rillen. "Alternativ" leben ist heute meist nur eine unbedeutende Entscheidung für ein andere Flussbett, in dem mensch sich dann weiter treiben lässt. Es ist weder selbstbestimmt, mit viel Geld umweltgerechte Produkte zu kaufen, noch mit inzwischen von vielen Modefirmen gecoverten Che-Guevara-T-Shirts oder Nietengürteln in der Gegend herum zu laufen oder zu sitzen. Darin steckt kein eigener Impuls, alles wurde schon zigmal durchgekaut und vorgegeben. Mitunter sind es sogar diese gefühlt alternativen Szenen, die am stärksten die Einhaltung der Verhaltenscodes von den Mitgliedern ihrer identitären Gemeinschaften einfordern.

Autonomie stärken, Fähigkeiten und Möglichkeiten aneignen
Die Macht kapitalistischer Gesellschaft beruht wesentlich auf dem Entzug von Möglichkeiten außerhalb kapitalistischer Bezüge. Es ist das Ziel kapitalistischer Zurichtung, Menschen auf eine bestimmte Rolle in der Maschine vorzubereiten, ihnen dafür Wissen und Handlungskompetenz zu geben, sie aber für alles andere unmündig und unfähig zu halten. Die Lust, sich über das zur Existenz als Rädchen in der Maschine erforderliche Wissen hinaus mehr an Fähigkeiten anzueignen, geht immer mehr gegen null - eine unglaubliche Erfolgsgeschichte des Kapitalismus. Er organisiert sich Menschen, die nicht mehr willens und fähig sind, außerhalb ihrer eigenen Verwertung in der Maschine überhaupt zu existieren. Sie brauchen die Maschine, um die Tauscheinheit (Geld) für ihre eigene Reproduktion zu erhalten. Ohne diese wären sie hilflos. Das Mitmachen erscheint funktional, weil es das Überleben sichert - alternativlos.

Selbstentfaltung geht anders herum. Nicht mehr das, was für das Funktionieren in der Maschine wichtig ist, sondern das, was für die eigene Entfaltung passt, steht im Mittelpunkt. Vielfach fehlt dazu heute die Motivation. Es mag für manche Menschen leichter sein, in ganz kleinen Schritten anzufangen. Andere schaffen es eher mit großen Sprüngen. Das muss jedeR selbst entscheiden und ausprobieren. Ohne die Aneignung von Fähigkeiten wird es aber kaum gehen. Der Zeitgeist ist in die andere Richtung gegangen. Die modernen Medien und Techniken setzten immer stärker auf die Anwendbarkeit ohne viel Wissen. Wer heute im Internet unterwegs ist, hat nur noch selten irgendwelche Ahnung, wie was funktioniert. Treten Probleme auf, sind die meisten AnwenderInnen auf die - mit schönen Werbeworten - angebotenen Instantlösungen per Download angewiesen. Klemmt es an der Hardware, hilft meist nur noch der Neukauf eines Geräts, bei dem - wieder der Werbung folgend - alles besser sein soll. Dabei wäre Selbsthilfe hier noch einfach. Um einiges komplexer sind Fragen, wie Menschen wohnen, genug zu essen beschaffen oder sich ihren Freundeskreis nicht von äußeren Gegebenheiten diktieren lassen. Auch da drängt der Zeitgeist unaufhörlich in die falsche Richtung: Facebook & Co. sind riesige und von vielen, insbesondere jüngeren Leuten genutzte Plattform sozialer Vernetzung, die per Computerklick den Freundeskreis zusammenbauen - nach standardisieren Parametern, wer zu wem passt. Die Welt am Draht oder die biotechnologische Optimierung des Menschen auf die Anforderungen der großen Maschine ist gar nicht mehr nötig. Es ist längst so, dass wir uns von Beruf bis FreundInnen alles aus Behörden- oder technischen Apparaten heraus vorgeben lassen können.

Dabei ist nicht die Technik als solches das Problem. Sie könnte auch für die Selbstentfaltung des Menschen hilfreich sein. Dann aber müsste der Mensch die Technik bewusst einsetzen, also selbst das Subjekt bleiben. Dafür bedarf es der Fähigkeit, d.h. der Aneignung des Wissens über die Handhabung der Technik, die dann als Hilfsmittel zur Selbstentfaltung dient. ExpertInnenwissen ist dabei gar nicht notwendig, aber schon soviel, um selbst der/die DirigentIn des eigenen Lebens und des Einsatzes von Hilfsmitteln in demselben zu sein.

Erich Fromm (1990): „Die Furcht vor der Freiheit“, dtv in München (S. 82)
Wir vergessen, dass zwar jede Freiheit, die bereits errungen wurde, mit äußerster Energie verteidigt werden muss, dass aber das Problem der Freiheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives ist; dass wir nicht nur die traditionelle Freiheit zu bewahren und zu erweitern haben, sondern dass wir uns auch eine neue Art von Freiheit erringen müssen, die uns in die Lage versetzt, unser individuelles Selbst zu verwirklichen und zu diesem Selbst und zum Leben Vertrauen zu haben.

Aus dem "Potsdamer Manifest 2005 (Infoseite und als PDF)
Das schöpferisch-erfinderische Potenzial, das sich in der individuellen Besonderheit des eigenen Weges ausdrückt, erhöht den Ideen- und Entwicklungsreichtum für eine Vielzahl von Lebensstilen, für Neu- und Fortentwicklungen von Bestehendem und stellt so einen unersetzbaren Wert dar. So realisiert sich die hohe produktive Potenzialität menschlich-schöpferischen Handelns auch ökonomisch im Sinne eines alle bereichernden Plus-Summen-Spieles.

Wahrnehmung trainieren
Die Ausdehnung von Handlungsmöglichkeiten ist ein entscheidender Vorgang der Selbstentfaltung. Denn zwischen diesen Handlungsmöglichkeiten kann ich dann wählen. Dazu gehört nicht nur die Aneignung von Fähigkeiten, sondern auch das Trainieren der Wahrnehmung. Denn das eigene Umfeld bietet Handlungsmöglichkeiten - wenn ich sie entdecke. Wer einen Überblick hat, wo in der eigenen Umgebung welche Hilfsmittel bereitstehen, wo was auszuleihen ist, wer welches Wissen hat oder wobei helfen kann, wo welche Rohstoffe zu bekommen sind usw., wird eigene Entscheidungen sehr viel schneller umsetzen können. Kooperationen und Kommunikation zwischen Menschen können deshalb auch immer die Selbstentfaltung stützen, weil die eigenen Handlungsmöglichkeiten schneller ausbaubar sind.

Oder anders herum: Es ist eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen und Nichtnutzung von Handlungsoptionen, dass sich die BewohnerInnen eines Reihenhauses untereinander nicht kennen, alle in ihren eigenen vier Wänden das Überleben aus eigener Kraft versuchen und sich wahrscheinlich alleüber die angebotenen Mechanismen der kapitalistischen Welt reproduzieren (aufwendig die eigene Arbeitskraft verkaufen, um mit dem dafür erhaltenen - oftmals mickrigen - Geld dann die Arbeitskraft anderer für eigene Zwecke einkaufen zu können).

Wer seine Umwelt bewusst wahrnimmt und auf Handlungsmöglichkeiten überprüft, dehnt die Handlungsfähigkeit enorm aus. Zudem ist aktive Wahrnehmung dessen, was rund um das eigene Leben passiert, sinnvoll, um die bestehenden Ressourcen zu schonen. Denn auch das will geübt sein: Erkennen, wo und wie ein Eingreifen nötig ist, damit bestehende Handlungsmöglichkeiten nicht ständig verloren gehen.

Fragend voran: Selbstreflexion
Wer viel macht, macht viele Fehler. Dieses Sprichwort ist zwar recht einseitig, denn erstens ist Mitschwimmen im Strom der Normalität ja nicht frei von Fehlern, zweitens vor allem ein gesamter großer "Fehler". Zudem übt "Machen", d.h. es führt zur Aneignung von Möglichkeiten. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Prozess der Selbstentfaltung selbstreflektierend verläuft. Die aktive Wahrnehmung wird auch auf die Folgen des eigenen Handelns ausgedehnt, diese also kritisch hinterfragt. Fehler haben dann einen Nutzen - zum Lernen.
Nicht gemeint ist damit die Selbstreflexion in Fremdsteuerung. Sie war und ist historisch verankert, dient aber eher der Kontrolle von Abweichungen. Kirchliche Beichten sollen ebenso wie Benotungen, Strafjustiz, Disziplinarverfahren oder die Erklärung von Menschen als (geistes)krank die Dominanz des Normalen sichern.

Selbstreflexion als Beitrag Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht anders aus. Sie führt eher zu Abweichungen von der Norm - als gesamtgesellschaftlicher Prozess sogar zur Auflösung der Norm (und damit zum Ende von Strafe, Justiz, Psychiatrisierung usw.). Es geht nicht um den Vergleich des eigenen Handelns mit den gesellschaftlich vermittelten Erwartungen, sondern um das Hinterfragen, ob das konkrete Handeln oder die erreichten Situation mit dem übereinstimmen, was mensch wollte oder will. "Fragend schreiten wir voran" - so benannten die Zapatistas ihren Aufstand gegen die Unterdrückung durch die mexikanische Regierung und, allgemeiner, gegen die Bevormundung durch eine kapitalistische Gesellschaftsordnung. Das Emanzipatorische dieser Idee, die dort für einen Befreiungskampf vieler Menschen galt, lag in der Annahme, dass es nicht möglich sein würde, das Endergebnis planerisch so vorwegzunehmen, dass nur noch ein geordneter Ablauf von "Revolution" nötig wäre, um zum Ziel zu kommen. Zudem müsste das erreichte Ziel ja dann auch noch verteidigt werden - ein Denkfehler, an dem fast alle bisherigen Revolutionen scheiterten, in dem sie selbst zum konservativen Moment gegenüber weiteren Entwicklungen mutierten.
Wie im Großen, so auch im Kleinen: Selbstentfaltung ist ein Prozess, der davon lebt, immer neue Möglichkeiten, aber auch die entstehenden Grenzen, Chancen der Überwindung und Irrwege, Zaghaftigkeiten und mehr zu entdecken. Das geht allein im Nachdenken über die Entwicklungen, aber oft besser zusammen mit anderen in einer hinterfragenden, nicht - wie in vielen identitären Gruppen - ständig nur selbstbestätigenden Kommunikation.
Methoden dazu müssen entwickelt werden. Soziale Innovationen sind dringend nötig.

Pippi Langstrumpf
Wenn die Fähigkeit zu bewussten Denken und damit die Basis kulturellen Lebens in Verbindung steht mit der im Laufe der Evolution gewachsenen Länge der Kindheit und Jugend, dann müsste die aktuelle Politik der Verkürzung dieser Phase (Stichwort: G8, d.h. die Reduzierung der Schulzeit zum Abitur auf 12 Jahre) alle Alarmglocken läuten lassen. Hier wird Raubbau an der Menschheit betrieben! Die IdeologInnen von Normierung und Unterwerfung knabbern an den materiellen Grundlagen der Evolution, an Selbstbestimmung und Autonomie. Noch dazu sind ihre Vorgehensweisen entlarvend. Denn während sie bei der Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre (politische Debatte im Jahr 2010) argumentieren, die Menschen würden ja auch insgesamt länger leben, handeln sie bei der Verkürzung der Jugendphase genau gegenteilig. Es geht also eher darum, Menschen länger auszubeuten. Für das Funktionieren im Arbeitsmarkt sind selbstbewusste Menschen dabei störend. Die entsprechende Bildung soll zwar Talente wecken und fördern, aber in vorgegebene Bahnen hinein.

Emanzipation als Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit muss also für das kämpfen, was die Idee von Kindheit und Jugend ist: Ausprobieren, neue Orientierungen entwickeln, sich aus der Umklammerung von Erwartungshaltungen zu befreien - soweit es halt geht. Eigene Wege finden, sich entwickeln, kreativ sein und Neues wagen - das menschliche Gehirn und die gesamte materielle Basis des Lebens bleiben bis zum Tod wandlungsfähig. Es gibt keinen Grund, diese Idee der Jugend nicht in das gesamte Leben zu retten, zumindest als Teil des Ganzen, denn fraglos werfen manche Merkmale im "erwachsenen" Leben (eigene Kinder, langandauernde Projekte usw.) neue Fragen z.B. von Verbindlichkeit auf, die mit Pippis Idee, nicht erwachsenen werden zu wollen, in einen - hoffentlich produktiven - Widerspruch geraten.

Im Original: Kindheit, Jugend und Hirnentwicklung
Aus Gopnik, Alison, "Kleinkinder begreifen mehr", in: Spektrum der Wissenschaft, 10/2010 (S. 69)
Vermutlich entstand die lange Hilflosigkeit und Abhängigkeit unserer Kinder als evolutionärer Kompromiss, denn das gibt dem jungen Gehirn viel Zeit, passende Schaltkreise einzurichten - Zeit für Lernen und Kreativität. ...
Zu den auffälligsten biologischen Besonderheiten des Menschen zählt die extrem lange Kindheit. Warum aber ist unser Nachwuchs so lange dermaßen hilflos und warum müssen wir so viel Mühe und Sorge aufwenden, damit er am Leben bleibt? Bei vielen Tierarten korrelieren Intelligenz und gesitige Beweglichkeit der Erwachsenen mit dem Grad von Unreife der Jungen. Auf der einen Seite verfügen beispielsweise die Küken von so genannten nestflüchtenden Vögeln, etwa Hühnern, über Anlagen, dank deren sie sich in ihrer spezifischen Umwelt zurechtfinden. Die Jungen solcher Arten kommen relativ weit entwcikelt zur Welt und werden oft rasch selbstständig. Auf der anderen Seite setzen viele Nesthockerarten, die ihre Jungen lange füttern und bereuen müssen, verstärkt auf Lernen - wie etwas Krähen, die mit ihrer Erfindungsgabe schon oft überrascht haben, zum Beispiel wenn sie sich aus einem Draht ein Werkzeug herstellen.
In der Jugend ausgiebig zu lernen, hat als Lebensstrategie zwar viele Vorteile. Allerdings ist bei solchen Arten ein unerfahrenes Junges deswegen noch hilflos und gegenüber Gefahren besonders gefährdet. Als Lösung entstand in der Evolution eine Arbeitsteilung zwischen Eltern und Nachwuchs. Sie gewährt den Kindern eine beschützte Zeit, in der sie die Welt um sich her kennen lernen dürfen, ohne schon Alltagsaufgaben meistern zu müssen. Später können sie das Gelernte zum eigenen Überleben und zur Fortpflanzung nutzen - und es auch bei der Versorgung der nächsten Generation anwenden. In diesem Sinn sind Menschenkinder geradezu zum Lernen geboren.
Manche der Gehirnmechanismen hinter dieser hohen Lernkompetenz verstehen Neurowissenschaftler langsam. Das Gehirn eines kleinen Kindes ist plastischer als das eines Erwachsenen. Es weist zunächst deutlich mehr Verbindungen zwischen Nervenzellen auf. Zwar wirken diese Kontakte meist nicht besonders effizient. Aber mit der Zeit werden ungenutzte Anschlüsse verworfen und viel genutzte Bahnen verstärkt. Das Kleinkindgehirn ist zudem reich an Molekühlen zum Umstrukturieren von Neuronenverschaltungen.
Auffallend langsam reift beim Menschen eine bei ihm besonders ausgeprägte Partie des Stirnhirns, der so genannte präfrontale Kortex, also die Großhirnrinde im Stirnbereich. Sich auf etwas konzentrieren, Handlungen planen und effizient durchführen, überhaupt höhere kognitive Leistungen gehen von dort aus. Die Grundlage dafür schafft die lange Lernphase in Kindheit und Jugend. Vielleicht sind die Verschaltungen in diesem Hirnteil erst im Alter von Mitte 20 einigermaßen komplett. Die mangelhafte Kontrolle durch den präfrontalen Kortex bei jungen Menschen mag als großes Manko erscheinen. Doch dieses Handikap dürfte dem Lernen immens zugutekommen. Schließlich hat das genannte Stirnhirngebiet später die Aufgabe, gerade unwichtige und nebensächliche Gedanken oder Handlungen zu unterdrücken. Ohne derartige Hemmungen erforscht sich die Welt vermutlich viel unvoreingenommener.


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