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DIE ZIELE UND LEITBILDER DER ENTSCHEIDUNGSFINDUNG VON UNTEN

Ein Blick auf Hierarchien und Dominanzverhältnisse


1. Einleitungskapitel im "HierarchNIE!"-Reader
2. Welchen Zielen dienen dient die Entscheidungsfindung von unten?
3. Ein Blick auf Hierarchien und Dominanzverhältnisse
4. Startaufstellung für den Weg zur Entscheidungsfindung von unten
5. 5 Leitbilder der Entscheidungsfindung von unten

Zur Zeit sind hierarchische Strukturen und Dominanzverhältnisse ebenso weit verbreitet wie Experimente und Diskussionen zum Abbau derselben kaum stattfinden. Allgemein herrscht selbst dort, wo emanzipatorische Ansprüche bestehen, eine Engagementslosigkeit in diesem Bereich. Die Existenz von Ungleichheiten, z.B. Intransparenzen oder ungleicher Zugang zu Ressourcen (Wissen, materielle oder finanzielle Mittel, Adressen und Kontakte usw.) wird fast überall hingenommen. Das verwundert, denn in vielen Bereichen ihres Lebens und ihrer Arbeit betreiben emanzipatorische Menschen und Gruppen einigen Aufwand, um sich nicht widerstandslos in die herrschenden Verhältnisse einzufügen - im Binnenverhältnis von Gruppen und anderen bewegungsnahen Zusammenkünften ist von diesem Engagement allerdings oft wenig zu spüren.

3.1 Herrschaft ausmachen
Dabei gilt auch "unter uns", was wir für gesellschaftliche Verhältnisse immer stillschweigend voraussetzen: Ohne eine willentlich und bewußt angestrebte Veränderung reproduzieren sich Macht- und Herrschaftsstrukturen fast automatisch. Erster Schritt zur Überwindung dieser Hierarchien ist, sie überhaupt erkennen und benennen zu können. Schon dieser erste Schritt erfordert jedoch eine eigene, bewußte und konkret für die jeweilige Situation vorgenommene Auseinandersetzung mit Dominanzen und Hierarchien sowohl im Umgang zwischen den Beteiligten, als auch im eigenen Verhalten - die Broschüre kann das nicht ersetzen, sie liefert Werkzeuge und Hilfsmittel dafür, aber sie enthält keine Patentrezepte. Entscheidungsfindung von unten - wie sie hier als idealtypischer Prozeß vorgestellt wird - funktioniert nur, wenn die Beteiligten selbst aktiv einen herrschaftsfeindlichen Umgang anstreben.

Der erste Schritt, das Erkennen von Hierarchien, kann schon deshalb nicht nach einer einheitlichen Prüfliste vorgenommen werden, weil es eine unendliche Fülle von Hierarchien und Dominanzverhältnissen in politischen Gruppen und Zusammenhängen gibt. Jede Aufzählung ist daher unvollständig, sie kann nie den subjektiven, situationsbezogene Eindruck der konkret Beteiligten ersetzen - es wäre widersprüchlich einen davon losgelösten Begriff von Herrschaft zu propagieren. Da Hierarchien und Dominanzverhältnisse zudem oftmals vielfältig miteinander verschränkt sind, widersprüchlich sind oder kaschiert werden, fällt das Erkennen von Dominanzen nicht immer leicht - oftmals unabhängig davon, ob man in dem jeweiligen Fall auf der Seite der Dominierten oder auf der Seite der Dominierenden sitzt. Entscheidungsfindung von unten ist also keine neue Struktur, sondern ein Prozeß der durch die ständige Reflexion der Beteiligten über Binnenverhältnisses von Zusammenhängen oder zwischen einzelnen Menschen angetrieben wird und der zum Erliegen kommt, sobald man sich nicht mehr drum kümmert.

3.2 Typische Hierarchien
Die folgenden Aufzählung soll unter Berücksichtigung der vorgenannten Einschränkungen einige Begriffe und Kategorien anbieten, mit denen man typische Hierachien erkennen und thematisieren kann.

3.2.1 Formale, zentralististische Hierarchien
Diese strukturierte Form der Hierarchie ist offensichtlich und sehr durchschlagend. Formal-zentralistische Konzepte der Organisierung beruhen auf Vorständen, VertreterInnenversammlungen, Kommissionen, Geschäftsstellen usw. mit besonderen Befugnissen. Manche BefürworterInnen solcher Organisationskonzepte behaupten zwar, daß formale Hierarchien transparenter seien als die in Zusammenhängen, wo es keine formalen Hierarchien gibt, aber das ist in der Regel nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sind formale Hierarchien zumeist mit informellen Unterschieden verbunden, d.h. ein Vorstand oder andere zentrale (Führungs-)Gremien können im Unterschied zu den normalen Mitgliedern nicht nur bestimmte Entscheidungen treffen oder sogar Weisungen erteilen, sondern sie verfügen gleichzeitig auch über bessere Zugänge zu Ressourcen (Geld, Geräte, Kontakte, Informationen usw.). Dadurch können sie ihre formale Stellung stark untermauern und sich informell auch dort durchsetzen, wo ihre besonderen Befugnisse eigentlich nicht hinreichend sollten. So hätte etwa ein Führungsgremium bzw. dessen Mitglieder innerhalb einer weitergehenden Versammlung (z.B. Vorstand innerhalb einer VertreterInnenversammlung) rein formal betrachtet nicht mehr Macht als andere Beteiligte, aufgrund der besseren Vorbereitung, des leichteren Zugangs zu Daten oder anderen Ressourcen, setzten sich Führungsgremien oder dessen Mitglieder aber leicht gegen Vorschläge aus der Basis durch. Eine Gegenmacht entsteht nur dann, wenn andere Zusammenhänge ebenso informelle Macht aufbauen, z.B. durch zeitintensiven Aufbau von Kontakten zu anderen Gruppen in der Vorbereitung entscheidungsbefugter Versammlungen.

3.2.2 Bewußte, informelle Hierarchien
Informelle Hierarchien sind solche Unterschiede in der Durchsetzungsfähigkeit von Menschen, die nicht formal vereinbart sind und somit auch nicht über "offizielle" Strukturen wirken. Sie sind oft intransparent. Zu unterscheiden sind einerseits bewußte und andererseits unbewußte, informelle Hierarchien. Es ist sehr wohl möglich, informelle Unterschiede gezielt zu schaffen oder sich selbst bzw. der eigenen Gruppe gezielt eine bessere Durchsetzungsposition zu erobern - durch Tricks in der Diskussion, ungleiche Zugänge zu materiellen Ressourcen und Wissen usw. Zu den Tricks in der Diskussion gehören abgesprochene Redebeiträge, bewußt dominantes Redeverhalten, gezielte Verunsicherung oder Diffamierung von Personen, die wegen abweichender Meinung oder aus anderen Gründen von der bewußt dominant agierenden Person oder Gruppe ausgegrenzt werden sollen. Dauerhaft informelle Hierarchien entstehen durch intransparente Zirkel und Kerngruppen, die besonderen Zugang zu den Ressourcen von Gruppen oder Vernetzungen haben, etwa Geldern, Geräten, Räumen, Internetseiten, Mailinglisten. Bewußte Dominanzverhältnisse sind sehr weit verbreitet - deutlich stärker, als üblicherweise zugegeben wird. Gezieltes Streben nach informeller Macht, Ausgrenzung anderer und die Durchsetzung eigener Positionen sind in fast allen Zusammenhängen alltäglich.

3.2.3 Unbewußte Dominanzverhältnisse
Neben den bewußten informellen Hierarchien sind (fast) überall unbewußte Dominanzverhältnisse zwischen Gruppen und Einzelpersonen zu finden, die auf unterschiedlichen Möglichkeiten innerhalb einer Gruppe oder Vernetzung beruhen. Unterschiedliche Zugänge zu Informationen und Ressourcen, unterschiedlich durchsetzungsfähiges Redeverhalten und vieles mehr prägen die politische Arbeit. Im Gegensatz zu den bewußten Dominanzverhältnissen ist hier den beteiligten Personen die Dominanz nicht klar. Ursache dafür ist meist ein Mangel an Transparenz und Reflexion, also Sensibilität für Machtverhältnisse.

3.2.4 Weiterbestehen gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse in politischen Zusammenhängen
Selbst dann, wenn eine Gruppe oder Vernetzung sowohl formale Hierarchien abschafft, bewußtes Dominanzverhalten abwehrt und unbewußte Unterschiede in der Durchsetzungsfähigkeit reflektiert, herausarbeitet, benennt und erfolgreich überwindet, bleibt noch eine vierte Form der Hierarchie: Die der unterschiedlichen Wertigkeitsempfinden zwischen den Menschen, die in ihrem Leben für eine bestimmte soziale Rolle beeinflußt, d.h. "konstruiert" wurden. Frauen gegenüber Männern, Jugendliche gegenüber Erwachsenen, Menschen ohne Abschluß gegenüber solchen mit akademischem Grad, Arme gegenüber Reichen, sog. Behinderte gegenüber "Gesunden", Nichtdeutsche gegenüber Deutschen (und jeweils umgekehrt) etc. - die mit diesen Rollenkonstruktionen verbundenen Unterschiede bestehen auch dann, wenn eine Gruppe frei aller sonstigen Herrschaftsverhältnisse wäre. Das ist nicht Schuld der Gruppe oder der Vernetzung, aber nichtsdestotrotz der Fall. Es handelt sich bei den Dominierenden bzw. Dominierten allerdings nicht um einheitliche Gruppen mit einheitlich konfigurierten Mitgliedern - aber es besteht eine Tendenz derartige Rollen zu "konstruieren", d.h. über Jahre und Jahrzehnte wird die mit solchen Rollen verbundene Erwartungshaltung in allen gesellschaftlichen und persönlichen Verhältnissen an die Menschen herangetragen und man entwickelt und verinnerlicht daraufhin ein entsprechendes Selbstwertgefühl. Innerhalb dessen leben Menschen "funktional" in den realen Gesellschaftsverhältnissen, d.h. sie empfinden ihre Position als richtig für sich selbst, nehmen sie deshalb nicht mehr als konstruiert wahr und wehren sich nicht gegen diese. Das setzt sich in politischen Zusammenhängen bruchlos fort und kann nur abgebaut werden, wenn solche Dominanzverhältnisse offengelegt und Vereinbarungen zum Abbau getroffen werden.

3.2.5 Die "Meta-Ebene" ... oft unerreichte CheckerInnen-Rolle
Eine Aktion läuft, ein Zentrum will organisiert sein, das Geld ist alle, Brot muß gebacken weren, aber beim letzten Mal wurde das Getreide alle und niemand hat was gesagt - so oder ähnlich kann es aussehen, wenn die "Meta-Ebene" gefragt ist. Das Wort steht für eine typisch menschliche Eigenschaft, nach der der Mensch gedanklich aus sich heraustreten und das Geschehen quasi als Unbeteiligter von oben beobachten kann. Von dieser "Meta-Ebene" können Verhalten und erwünschtes Ziel verglichen werden, die vorhandenen Ressourcen geprüft werden oder, sehr wichtig bei der Frage nach versteckten Hierarchien, ständig kontrolliert werden, ob eine Aktion auch so läuft wie vereinbart. Selbst wenn eine Aktion unter den Beteiligten hinsichtlich der vorzubereitenden Dinge gleichberechtigt aufgeteilt wurde, entstehen Dominanzen meist dadurch, daß nicht alle, sondern nur Einzelne (meist sogar nur eine Person) und immer dieselben darauf achten, ob eigentlich alles klappt, ob alle ihre zugesagten Sachen machen usw.

Die "Meta-Ebene" für eigenes Verhalten zu erreichen, wird in der normalen gesellschaftlichen Zurichtung systematisch unterbunden. Was würde schon geschehen, wenn Kinder anfangen, die Situation in der Familie oder die erzieherischen Maßnahmen der Eltern, Verwandten oder anderen auf ihren Sinn zu hinterfragen. Oder dort bzw. in der Schule die Gesamtsituation, die Ziele von Ausbildung, Lernen, Noten oder Strafen. Daher muß emanzipatorische Arbeit Chancen bieten, die Kontrolle über das eigene Verhalten wiederzuerlangen - den Blick zu schulen für das Geschehen. Die Zwänge überhaupt wahrzunehmen, die Interessen anderer Menschen und die eigenen, die getroffenen Vereinbarungen und deren Umsetzung zu verfolgen, den Bedarf für eine Intervention zu erkennen u.a.m. erreicht man durch einen Blick von der "Meta-Ebene". Kleine überschaubare Projekte in eigenständiger Umsetzung können helfen, den Einstieg in das faszinierende, aber oft auch frustrierende (weil Verhältnisse demaskierende) Beobachten aus der "Meta-Ebene" heraus zu finden. Eine Gesellschaft der "Freien Menschen in Freien Vereinbarungen" setzt ebenso wie eine gleichberechtigte, politische Bewegung voraus, daß alle gleiche Möglichkeiten haben - und damit auch die Fähigkeit, die "Meta-Ebene" einnehmen zu können.

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