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MURRAY BOOKCHIN: DIE NEUGESTALTUNG DER GESELLSCHAFT (AUSZÜGE)

Aus: 6. Vom Hier zum Dort


1. Einleitung
2. Aus: 6. Vom Hier zum Dort
3. Herrschaftskritik und herrschaftsfreie Utopien

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Die ökologische Bewegung ist in mehrere fragwürdige Strömungen gespalten, die sich häufig direkt widersprechen. Viele Menschen sind einfach nur ganz pragmatische Umweltschützer. Ihre Bemühungen konzentrieren sich auf punktuelle Reformen wie beispielsweise die Kontrolle von Sondermüll, den Widerstand gegen den Bau von Kernkraftwerken, Beschränkungen des urbanen Wachstums und dergleichen. Zweifellos sind solche Kämpfe notwendig und sollten nicht als beschränkt oder Stückwerk geringgeschätzt werden, bremsen sie doch den atemlosen Wettlauf in Katastrophen wie Tschernobyl oder Love Canal.
Sie können aber nicht die Notwendigkeit ersetzen, zu den Wurzeln der Verwerfungen der Umwelt zu gelangen. Solange sie sich auf bloße Reformen beschränken, tragen sie oft sogar zu der gefährlichen Illusion bei, daß die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung in der Lage ist, ihre eigenen Mißbräuche wiedergutzumachen. Die Denaturisierung der Umwelt muß immer als dem Kapitalismus inhärent gesehen werden, als das Produkt seiner eigenen Gesetzmäßigkeit, als Folge eines Systems unbegrenzter Expansion und Kapitalakkumulation. Den anti-ökologischen Kern der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung zu ignorieren - sei es in der westlichen Form der Konzerne oder der bürokratischen Form des (ehemaligen) Ostens - bedeutet, die allgemeine Sorge um die Tiefe der Krise und um wirksame Mittel zu ihrer Bewältigung zu beschwichtigen.
Als Reformbewegung der kleinen Schritte verstanden, erliegt die Umweltbewegung leicht den Verlockungen der Staatskunst, also der Teilnahme an Wahlen, parlamentarischen und parteiorientierten Aktivitäten. Es bedarf keiner großen Bewußtseinsänderung, um eine Lobbygruppe in eine Partei oder einen Petitionsschreiber in einen Parlamentarier zu verwandeln.
Zwischen dem Menschen der demütig von der Macht erbittet, und demjenigen, der sie arrogant ausübt, besteht eine düstere, nichts Gutes verheißende Symbiose. Beiden ist dieselbe Mentalität zu eigen, daß nämlich Veränderungen nur durch die Ausübung von Macht herbeigeführt werden können, und zwar durch die Macht genau jener sich selbst korrumpierenden professionellen Kaste von Gesetzesmachern, Bürokraten und Militärs, die man den Staat nennt. Die Berufung auf diese Macht dient unweigerlich der Bestätigung und Bestärkung des Staates, der am Ende das Volk entmachtet. Die Macht läßt im öffentlichen Leben kein Vakuum zu. Wo immer der Staat Macht erhält, geschieht dies auf Kosten der Volksmacht. Und umgekehrt: Alle Macht, die das Volk gewinnt, entreißt es dem Staat. Wer die Staatsmacht legitimiert, entlegitimiert im Endeffekt die Volksmacht.
Ökologische Bewegungen, die sich in parlamentarische Aktivitäten begeben, legitimieren nicht nur die staatliche Macht auf Kosten der Volksmacht, sondern sie sind auch gezwungen, innerhalb des Staates zu funktionieren und letzten Endes Blut von seinem Blute und Fleisch von seinem Fleische zu werden. Sie müssen sich an die "Spielregeln" halten, was bedeutet, ihre Prioritäten nach vorbestimmten Regeln zu setzen, über die sie keine Kontrolle haben.
Dabei bleibt es aber nicht bei einer bestimmten, Konstellation von Beziehungen, die sich aus der Teilnahme an der Staatsmacht ergeben; - vielmehr setzt ein fortwährender Prozeß der Degenerierung ein, die stetige Rückentwicklung von Idealen, Vorgehens_weisen und Parteistrukturen. Jede Forderung nach "wirksamer" Ausübung parlamentarischer Macht, erzwingt eine weitere Abkehr von den eigentlich unverzichtbaren Glaubens- und Verhaltensstandards. ... (S. 157 ff.)

Den Umweltbewegungen ist es in ihrem Verhältnis zur Staatsmacht nicht besser ergangen. Sie haben ganze Wälder für symbolische Baumreservate hergegeben. Riesige Wildnisgebiete wurden für Nationalparks aufgegeben. Endlose Wattenmeere wurden gegen ein paar Hektar ursprünglichen Strandes eingetauscht. Soweit Umweltschützer als Grüne in nationalen Parlamenten vertreten sind, haben sie im allgemeinen wenig mehr als öffentliche Aufmerksamkeit für ihre selbstgefälligen parlamentarischen Abgeordneten erzielt, aber fast nirgends die Zerstörung der Umwelt aufhalten können.
Die erste rotgrüne Koalition in Hessen Mitte der 80er Jahre nahm ein schmähliches Ende. Der "realpolitische Flügel" der Partei vernebelte nicht nur durch Kompromisse die höchsten Prinzipien der Bewegung, sondern er machte die Partei auch bürokratischer, manipulativer und "professioneller" - kurz, so etwa wie die politischen Gegner, die man einst bekämpfte.
Aber Reformismus und Parlamentarismus besitzen wenigstens noch eine konkrete Faßbarkeit, die ernsthafte Fragen der politischen Theorie und das Gefühl einer gesellschaftlichen Orientierung aufwirft. Die jüngste Strömung innerhalb der Umweltbewegung ist hingegen völlig geisterhaft und unfaßbar wie Luft. Grob gesagt besteht sie aus Versuchen, die Ökologie in eine Religion zu verwandeln, indem sie die Natur mit Göttern, Göttinnen, Waldgeistern und ähnlichem bevölkert - alles dargeboten von einer Garde finanztüchtiger indischer Gurus, ihren einheimischen Konkurrenten, Hexen aller Art und selbsternannten "Hexer-Anarchisten". ... (S. 159 ff)

Offenkundig widersprüchliche Fantasien werden mit Drogen und Rockmusik zu einem ekelerregenden Sud aus atheistischen Religionen, natürlicher Übernatürlichkeit, privatistischer Politik und selbst reaktionärem Liberalismus verrührt. ... (S. 160)

Daß die Ökologie, eine eminent naturalistische Sichtweise und Lehre, mit übernatürlichem Blödsinn angesteckt werden konnte, wäre ja noch zu erklären, wenn dieser Unsinn auf die USA beschränkt bliebe. Das Verblüffende ist jedoch, daß er sich wie eine weltweite Seuche nach Europa, insbesondere nach England, Deutschland und Skandinavien ausgebreitet hat. Im Laufe der Zeit wird er sicherlich auch die Mittelmeerländer erreichen.
Eine Art "kulturellen Feminismus" hat diese quasi-theologische Ökologie auf das Verhältnis der Geschlechter übertragen und inzwischen einen enormen und immer noch wachsenden Anhang in englisch- und deutschsprachigen Ländern gewonnen.
Aus der Hoffnung, daß die Ökologie den Feminismus bereichern würde, ist ein bizarrer theistischer "Öko-Feminismus" geworden, der sich um die spezifische "nährende" Rolle der Prau in der Biosphäre strukturiert. ... (S. 160 f.)

In diesem theistischen Umfeld neigen politische Aktivität und soziales Engagement dazu, sich vom Aktivismus in eine Wartehaltung und von gesellschaftlicher Organisationsarbeit, in privatistische Selbsterfahrungsgruppen zurückzuziehen. Es bedarf lediglich eines persönlichen Problems - sei es eine gescheiterte Beziehung oder beruflicher Mißerfolg - das man mit einem geeigneten Mantel umhüllt und schon wird es zu einem "politischen" Problem oder einer Form sexistischer Diskriminierung. Der Begriff vom "Persönlichen als Politischen" wird leichtsinnig bis zu einem Punkt strapaziert, bei dem politische Themen in einem zunehmend therapeutischen Jargon formuliert werden, so daß jemandes "Art", seine oder ihre Vorstellungen auszudrücken, als wichtiger betrachtet wird als der Inhalt der jeweiligen Aussage.
Die Form verdrängt mehr und mehr den Inhalt, und Beredsamkeit wird als "manipulativ" denunziert, mit dem Ergebnis, daß eine tödliche Mittelmäßigkeit Form und Inhalt der politischen Diskussion beherrscht. Die moralische Empörung, die einst den menschlichen Geist in den Donnerworten der hebräischen Propheten bewegte, wird als Beleg für "Aggressivität", "Dogmatismus", "Streitsucht" und "typisch männliches Verhalten" angeprangert. Was heute "zählt", ist nicht das, was jemand sagt, sondern wie es gesagt wird - selbst wenn es geradezu schmerzhaft naiv und nichtssagend ist. "Fürsorge" kann leicht zu Naivität und "Betroffenheit" zu kindischer Albernheit verkommen, wodurch die Politik eher infantil als feministisch wird. ... (S. 161 f.)

Die Tendenz, Vernunft, Wissenschaft und Technik zu verunglimpfen, ist vielleicht eine verständliche Reaktion auf die durch die Bourgeoisie verzerrten Ziele der Aufklärung. Sie ist ebenso verständlich angesichts eines individuell empfundenen Gefühls der Ohnmacht in einer Ära zunehmender Machtkonzentration und Zentralisation in den Händen von Konzernen und des Staates, der durch Urbanisierung, Massenproduktion und Massenkonsum bedingten Anonymität, sowie des fragilen Zustands des von nicht greifbaren und nicht kontrollierbaren gesellschaftlichen Gewalten belagerten menschlichen Egos.
So verständlich derartige Tendenzen als Reaktion auch sein mögen, so werden sie doch zutiefst reaktionär, wenn nämlich die Alternativen, die sie anbieten, den seit der Aufklärung auf den Menschen selbst gerichteten Blick wieder verengen und zu sexistischen Vorurteilen, zu Volks- und Stammestümelei anstelle eines emphatischen Humanismus und zu einer "Rückkehr zur Wildnis" anstelle einer ökologischen Gesellschaft zurückführen.
Sie werden unverblümt atavistisch, wenn sie ökologische Verwerfungen der Technik anlasten anstatt den Monopolgesellschaften und staatlichen Institutionen, die sich dieser bedienen. Und sie kehren zurück in das mythische Dunkel einer stammesorientierten Vergangenheit, wenn sie einen Horror vor dem "Außenstehenden" beschwören - sei es ein Mann, ein Immigrant oder ein Angehöriger einer anderen Volksgruppe - der angeblich die Integrität der "Insider"-Gruppe bedroht. ... (S. 165)

Der Anarchismus blieb sensibel gegenüber der Spontaneität gesellschaftlicher Entwicklung - einer Spontaneität allerdings, die von einem Bewußtsein und der Notwendigkeit einer strukturierten Gesellschaft geprägt ist. Der Marxismus kettete sich fest an eine "Embryo"-Theorie der Gesellschaft, an eine "Wissenschaft" der "Voraussetzungen" und "Vorbedingungen". Tragischerweise hat der Marxismus fast alle frühen revolutionären Stimmen mehr als ein Jahrhundert lang zum Schweigen gebracht und die Geschichte selbst im eisigen Griff einer ausgesprochen bourgeoisen Entwicklungstheorie gehalten, die sich auf der Beherrschung der Natur und der Zentralisierung der Macht gründet. ... (S. 167)

Soll die Technik natürliche Zyklen ablösen, die das Verhältnis von atmosphärischem Kohlendioxyd und Sauerstoff regeln, soll sie einen Ersatz für die sich zersetzende, das Leben vor tödlicher Sonnenstrahlung schützende Ozonschicht bieten; soll sie den Boden durch hydroponische Lösungen ersetzen? Alles dies, wenn es denn möglich wäre, würde ein hoch diszipliniertes System gesellschaftlichen Managements erfordern, das mit Demokratie und politischer Mitwirkung des Volkes völlig unvereinbar wäre. ... (S. 169 f.)

Wenn die Lebensprozesse auf diesem Planeten, auch die der Menschheit selbst, nicht von totalitären Systemen verwaltet werden sollen, muß die moderne Gesellschaft bestimmten grundlegenden ökologischen Geboten folgen. ... (S. 170)

Mehr noch: das revolutionäre Projekt muß seinen Ausgangspunkt von einem grundlegenden libertären Gebot nehmen: jedes normale menschliche Wesen ist fähig, die Belange der Gesellschaft und insbesondere der Gemeinschaft, welcher er oder sie angehört, zu regeln.
Dieses Gebot wirft jakobinischen Abstraktionen wie "das Volk" und marxistischen Abstraktionen wie "das Proletariat" den Fehdehandschuh hin mit der Forderung, die reale Gesellschaft müsse von realen, lebendigen Menschen "bevölkert" sein, die frei über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Gesellschaft bestimmen können. ... (S. 173)

Also ist eine Politik erst dann demokratisch legitimiert, wenn sie direkt durch die Menschen vorgeschlagen, diskutiert und entschieden worden ist - und nicht durch Stellvertreter oder Surrogate, gleich welcher Art.
Die Umsetzung dieser Politik kann hingegen Ausschüssen, Kommissionen oder einem Kollektiv qualifizierter, sogar gewählter Personen überlassen werden, die dieses Mandat des Volkes nur unter strenger öffentlicher Kontrolle ausüben dürfen und dabei den entscheidungsbefugten Versammlungen volle Rechenschaft schuldig sind. ... (S. 173)

Aufgrund dieser wichtigen Unterscheidung gewinnt die Frage, ob demokratische Abläufe eine Volksversammlung vorsehen oder nicht, eine eher funktionale als strukturelle Bedeutung. Im Prinzip können diese Versammlungen unter beliebigen demographischen Siedlungsbedingungen funktionieren - im Häuserblock, in der Nachbarschaft oder für die ganze Stadt. Es bedarf lediglich der Koordination über geeignete Verkoppelungen, um sie zu einer Form der Selbstregierung zu machen.
Unter modernen logistischen Bedingungen kann kein Notfall so dringend sein, daß Versammlungen nicht rechtzeitig einberufen werden könnten, um wichtige politische Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluß zu fällen und die entsprechenden Gremien mit ihrer Durchführung zu beauftragen, ganz gleich wie groß die Gemeinschaft oder wie komplex das Problem ist. Stets werden Experten bereitstehen, um für speziellere Probleme der Gemeinschaft ihre Lösungen anzubieten - möglichst sogar mehrere konkurrierende, um die Diskussion anzuregen. ... (S. 174)

Weiterhin müssen wir uns den Gedanken abgewöhnen, daß in großen Gruppen immer ein Konsens erreicht werden kann. Eine Minderheit hat nicht das Recht, die Entscheidung einer Mehrheit zu verhindern - sei es in einer Versammlung oder im Verhältnis der Versammlungen untereinander. ... (S. 174)

Eine Tyrannei des Konsens zieht, wie die berühmte "Tyrannei der Strukturlosigkeit" eine freie Gesellschaft herab. Sie neigt dazu, die Individualität im Namen der Gemeinschaft und den Widerspruch im Namen der Solidarität zu untergraben. Wenn die Entwicklung des Einzelmenschen durch öffentliches Mißfallen abgewürgt wird und seine abweichenden Vorstellungen durch den Druck der öffentlichen Meinung "normiert" werden, so fördert dies weder wahre Gemeinschaft noch Solidarität. ... (S. 175)

Brot ist mit Verlaub "heiliger“ als priesterlicher Segen; Alltagskleider "gesegneter" als kirchliche Gewänder; der persönliche Wohnraum spirituell wichtiger als Kirchen und Tempel; das bessere Leben auf Erden ist segensreicher als das im Himmel verheißene. Die Lebensgrundlagen müssen als das gelten, was sie buchstäblich sind: Grundlagen, ohne die das Leben unmöglich ist. Sie Menschen vorzuenthalten, ist schlimmer als "Diebstahl" (um Proudhons Bezeichnung für Eigentum zu gebrauchen); es ist schlechterdings Totschlag. (S. 187)

Ich muß aber unzweideutig klarmachen, daß man größten Wert auf arbeitsersparende Geräte legt wird - seien es nun Computer oder automatische Maschinen - um die Menschen von unnötiger Plackerei zu befreien und um ihnen den zeitlichen Freiraum dafür zu sichern, an sich selbst als Einzelwesen und als Bürger zu arbeiten. Wenn neuerdings vor allem die amerikanische Umweltbewegung den Einsatz von arbeitsintensiven Technologien fordert, offenbar um auf den Knochen der arbeitenden Klassen Energie zu "sparen", so ist dies eine skandalöse, selbstgerechte Anmaßung der Mittelschichten. Diese Professoren, Studenten, Akademiker und der ganze übrige gemischte Salat der Leute, die diese Ansichten vertreten, sind meist solche, die noch nie in ihrem Leben gezwungen waren, einen mühsamen Arbeitstag etwa in einer Gießerei oder am Fließband einer Automobilfabrik hinter sich zu bringen. Ihre eigenen arbeitsintensiven Aktivitäten haben sich meistens auf ihre "Hobbies" beschränkt, die allenfalls Joggen, Sport und erholsame Wanderungen in Nationalparks und Wäldern einschließen. Ein paar Wochen heiße Sommerwochen in einem Stahlwerk würde sie schnell von der Vorliebe für arbeitsintensive Industrien und Technologien heilen. (S. 196)

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