Offener Raum

IM NAMEN DES VOLKES: KONSTRUIERUNG EINES KOLLEKTIVSUBJEKTES

Volk als Kollektivsubjekt


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Aus: Informationen für politische Bildung Nr. 216 "Recht" (Neudruck 1991, S. 10)
Volkssouveränität
Im demokratischen Staat der Gegenwart liegt einer der Geltungsgründe des positiven Rechts (nicht der einzige, wie wir noch sehen werden) in der Idee der Volkssouveränität. Das Recht soll gelten, weil es sich auf den Willen des Volkes zurückführen läßt.

Aus Hobbes "Leviathan", Kapitel XVI (zitiert und ergänzt von Altvater, Elmar (2005): "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen", Westfälisches Dampfboot in Münster (S. 201)
A multitude of men are made one person when they are by one man, or one person, represented.
Daran schließt Altvater an:
In der Repräsentation darf nicht die Verschiedenheit verschwinden. Doch eine Vereinheitlichung von Zielen und Formen der Auseinandersetzungen ist notwendig ...

Rechts: Junge Welt, 31.5.2005 (S. 8)

Aus Hans Vorländer, Wege zur modernen Demokratie, in: Informationen zur politischen Bildung 284 (S. 16)*
Eine demokratische Revolution alleine hätte das Problem der Souveränität noch nicht lösen können. Denn trat der Demos an die Stelle des Monarchen, dann wurde zwar der Träger der Herrschaft ausgewechselt, das Problem der Bindungen und Beschränkungen aber blieb bestehen. Politische Souveränitätsausübung musste jedoch generell beschränkt werden, um zu verhindern, dass sie zur Despotie entartete.

Aus der Präambel des Grundgesetzes der BRD
Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundge-setz für das gesamte Deutsche Volk.


Neben dem Kollektivsubjekt existiert eine Kollektividentität, die über Symbole des Gemeinsamen und Diskurse über kollektive Bestimmungen und Überzeugungen hergestellt wird.

Aus Forndran, Erhard (2002), "Demokratie und demokratischer Staat in der Krise?", Nomos in Baden-Baden (S. 76)*
Verfassungen beinhalten den ordnungspolitischen Grundbestand einer Gesellschaft. Sie halten die gemeinsamen, bei aller Pluralität bestehenden, Gemeinschaft bildenden Werte fest und symbolisieren sie. Neben Fahne, Hymne und Feiertagen stellen sie die geistige Einheit einer Gesellschaft her und drücken durch das je spezifische Ordnungsmodell die Eigenstaatlichkeit einer Gesellschaft aus. Neben der Steuerungsfunktion für politische Prozesse symbolisieren sie die kollektive Identität einer Gesellschaft. In ihnen spiegelt sich das jeweilige Menschenbild wider und in ihrem Wertgehalt beinhalten sie moralische Implikationen. Die Vorstellungen von einer guten Ordnung der Politik - seien sie nun durch das Naturrecht, Common sense oder andere Wurzeln von Wertpositionen begründet - führen zu einem normativen Regelwerk, das freilich erst durch seine Annahme von seiten der Bürger Einheit stiftet. ... Patriotismus und vor allem Verfassungspatriotismus ermöglichen offene Gesellschaften, weil sie individuelle Sicherheit zum unbefangenen Umgang mit dem Fremden erlauben. ...
Zusammenfassend läßt sich demnach festhalten: Verfassungen regeln nicht nur die Beziehungen zwischen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen sowie zwischen Staatsorganen, sie beschreiben nicht nur die Freiheitsrechte des Einzelnen, sie formulieren in der Regel auch einen Grundkonsens der - dem Anspruch nach - für alle Angehörigen einer Nation geltenden Wertvorstellungen. In der politischen Praxis werden diese durch politische Eliten oder höchstens durch Mehrheitsbeschluß gefaßt, theoretisch aber verlangen sie die dauerhafte und grundsätzliche Zustimmung aller Bürger, soll aus ihnen eine Gemeinschaft begründet und das Gemeinwohl bestimmt werden.


Aus Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): „Multitude“, Campus Verlag in Frankfurt (S. 268 f., mehr Auszüge ...)
Viele der großen revolutionären Denker des 18. Jahrhunderts nämlich standen der Demokratie nicht nur reserviert gegenüber, sie fürchteten und bekämpften sie sogar ganz explizit und konkret. Repräsentation diente ihnen als eine Art Schutzimpfung gegen die Gefahren absoluter Demokratie; damit gibt man dem sozialen Körper eine kleine, wohl bemessene Dosis Volksherrschaft, und gleichzeitig impft man ihn gegen die gefürchteten Exzesse der Multitude. Häufig verwenden diese Autoren des 18. Jahrhunderts deshalb den Begriff Republikanismus, um diese Distanz gegenüber der Demokratie deutlich zu machen. ...
Das Volk ist für Rousseau nur dann souverän, wenn es einheitlich, homogen ist. Das Volk, so erklärt er, entsteht dadurch, dass es gemeinsame Verhaltensweisen, Sitten und Ansichten auf eine Weise bewahrt oder schafft, dass die Bevölkerung mit einer Stimme spricht und mit einem Willen handelt. Differenz ist ein Feind des Volkes. Eine Bevölkerung kann jedoch Differenz niemals vollständig eliminieren und mit einer Stimme sprechen. Die Einheit des Volkes lässt sich nur durch einen Vorgang der Repräsentation herstellen, der es von der Multitude trennt. Trotz der Tatsache, dass das Volk in eigener Person zusammenkommt, um seine Souveränität auszuüben, ist dabei die Multitude nicht präsent; sie wird lediglich vom Volk repräsentiert. Die Herrschaft aller wird bei Rousseau also paradoxer-, aber gleichwohl notwendigerweise auf die Herrschaft eines Einzelnen durch den Mechanismus der Repräsentation reduziert.


Aus Besson, W./Jasper, G. (1966), "Das Leitbild der modernen Demokratie", Paul List Verlag München (herausgegeben von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, S. 14)
Auch muß klar sein, daß es letztlich die Gesellschaft selbst ist, die sich durch das Medium des Staates diese Spielregeln setzt, deren Ziel die freiheitliche Ordnung des sozialen Lebens ist. Ordnung bedeutet deshalb hier immer nur Ordnung für die Freiheit, nie Ordnung um ihrer selbst willen.

Rechts: FR-Kommentar ... gleich die ganze Menschheit!

Aus Le Guin, Ursula K. (1974), "Planet der Habenichtse", Wilhelm Heyne Verlag in München (S. 9 f.)
Da sie Mitglieder einer Gemeinschaft waren und nicht Elemente einer Masse, waren sie auch nicht von Kollektivgefühlen beherrscht; es gab so viele verschiedene Gefühle hier, wie es Menschen gab.

Richter, Emanuel (2004): "Republikanische Politik", Rowohlt in Reinbek (S. 11, 45)
Der Republikanismus ruft die natürliche Bindung des Individuums an das kollektive Leben in Erinnerung und verlängert diese Einsichten zu normativ schlüssigen Grundsätzen kollektiven Handelns. Die einzelnen Subjekte werden als soziale Elemente des kollektiven Lebens in den Mittelpunkt der Begründung von Politik gerückt. Die republikanische Grundsatzreflexion ruf nachdrücklich die Ausgangsposition des kollektiven Hanelns in Erinnerung: Politik ist ein strategisches Erfordernis des kollektiven Regelungsbedarfs zwischen interagierenden Individuen, aber sie ist auch ein Element der Sinnstiftung und Selbsterfüllung jeder Person durch die Einbindung in die kollektiven Entscheidungsprozesse. ...
Demokratie als Legitimationsform bedeutet die Rückführung aller politischen Herrschaft auf die kooperative Grundstruktur menschlicher Existenz und auf den kollektiv vermittelten Willen der Bürger. ... Die Volkssouveränität bringt die Soziabilität der je eigenen Existenz im öffentlichen Leben zum Ausdruck. Die Demokratie muss sich darin ausweisen, dass sie für alle Mitglieder eines Kollektivs die Erfahrung der Kooperation ermöglicht. Auf diese Weise stärkt die Demokratie den Zusammenhalt des Kollektivs, denn alle Bürger erleben im Rahmen eines territorial begrenzten Verbandes die gleichen politsichen Prozesse und Institutionen als eine Verkörperung ihrer jeweiligen kooperativen Bindungen. Aus dieser Hervorhebung kollektiver Bindungen reultiert die klassische republikanische Nähe zum Patrotismus, der affektiven Bindung der Bürger an das eigene Kollektiv.


Aus Elizabeth Heger Boyle/John W. Meyer, „Das moderne Recht als säkularisiertes globales Modell: Konsequenzen für die Rechtssoziologie“ in: Meyer, John W. (2005), "Weltkultur", Suhrkamp Verlag in Frankfurt (S. 184, der gesamte Text ...)
Der moderne Staat und seine Zwecke erlangen ihre Zentralstellung unter dem behaupteten kulturellen Dach des (vormals göttlichen) Rechts, das sich inzwischen in Wissenschaft und "Natur"recht verwandelt hat (obwohl auch heute die direkte Erwähnung spiritueller Kräfte keine Seltenheit ist). Souveränität ist ein höchst eigenartiger Anspruch: Beansprucht wird autonome Entscheidungsgewalt, aber gemäß externen, universellen Prinzipien und gerichtet an ein externes, oft universell gedachtes Publikum. Der Gedanke der Souveränität selbst entspringt nicht aus den einzelnen Nationen, sondern aus der globalen Anerkennung der Nationalstaatsform. ...
Als Legitimationsgrundlage für ihre Autorität behaupten moderne Staaten, von anderen Elementen als nur von der gesetzgebenden Instanz konstituiert zu sein: Die "Gesellschaft" wird entdeckt, und die Individuen erscheinen als "Bürger". Hier werden wieder in großem Stil ältere religiöse Prinzipien der Gleichheit vor Gott übernommen, die jetzt säkularisiert und mit Hilfe von Prinzipien des wissenschaftlichen und des Naturrechts definiert werden. Die gewaltige Mobilisierungskraft des modernen Staates (Tilly 1975; 1990), aber auch eine Form kultureller Abhängigkeit, stammt aus seinem Anspruch und seiner Fähigkeit, sich Gesellschaft und Individuen in seine Struktur einzuverleiben.


Aus Marti, Urs (2006), "Demokratie - das uneingelöste Versprechen", Rotpunkt in Zürich (S. 124)
Die Idee der Volkssouveränität steht für den Anspruch auf Selbstbestimmung, den eine Gruppe von Menschen erhebt, die sich - im Sinne der Theorie - als Volk, das heißt als politisches Gemeinwesen, konstitutiert hat, oder - wie es in der realen Politik häufig der Fall ist - als Volk, das heißt als Gemeinschaft von Menschen, die sich nicht fremd sind, fühlt.

Aus einem Interview mit dem ehemaligen venezolanischen Außenminister Ali Rodriguez Araque, in: Junge Welt, 10.3.2007 (Beilage)
Ebenso müssen wir auf politischer Ebene die Macht neu organisieren. Wir befinden uns in einer Revolution, die vom Volk getragen wird. Dazu müssen wir neue Entwicklungen anstoßen. U.a. müssen wir diese Volksmacht institutionalisieren.

Aus einem Interview mit Radim Gonda, stellvertretender Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes Tschechiens (KSM), in: Junge Welt, 5.5.2007 (Beilage)
Der Streit um das Referendum und um direkte Demokratie ist äußerst aussagekräftig bei der Beantwortung der Frage, wer tatsächlich für die Volkssouveränität kämpft, und wer zwar oft das Wort "Demokratie" benutzt, aber zugleich jeden Versuch bekämpft, den Menschen reelle Macht in die Hände zu geben.

Selbst Wahlen (!) sind zu individuell ...
Aus Michael R. Krätke, "Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft", in: Widerspruch 55 (2/2008, S. 11)
Das Volk, das arbeitende wie das nichtarbeitende, weiß auch bei hinreichender Allgemeinbildung keineswegs immer schon, was es will. Kollektive Entscheidungen lassen sich eben nicht, wie nach (neo)liberaler Phantasievorstellung, bruchlos in individuelle Entscheidungen auflösen. Kollektive und individuelle Entscheidungen haben unterschiedliche Zeithorizonte und unterschiedliche Reichweite. Kollektive Entscheidungen über gemeinsame, gesellschaftliche Angelegenheiten, im einzelnen Betrieb ebenso wie in der Gesamtwirtschaft, müssen vorbereitet, ermöglicht werden; ein kollektiver, politischer Wille muss geformt werden. ... Gerade wenn der gegenwärtige Vorrang individueller Wahlakte vor kollektiven Entscheidungen durchbrochen wird, wird es umso wichtiger, die Verbindlichkeit und die Verantwortlichkeit kollektiver Entscheidungen zu organisieren.

Iwan Skworzow-Stepanow, bolschewistischer Abgeordneter in der Konstituante (verfassungsgebende Versammlung 1918 in Russland), zitiert nach: F.F. Raskolnikow. Tales of Sub-Lieutenant Ilyin: The Tale of a Lost Day, Moscow, 1934, English translation London, New Park Publications Ltd, 1982
Für einen Marxisten ist ‚das Volk‘ eine ungreifbare Vorstellung, das Volk agiert nicht als eine Einheit. Das Volk als Einheit ist eine Fiktion und diese Fiktion wird von den herrschenden Klassen benötigt.

Leicht manipulierbar: "demos" der Demokraie (Beispiele: Zuwanderung und Verkehrswende)
Populismus ist eine sehr typische Begleiterscheinung in der Demokratie. Oder genauer: Eine typische Haupterscheinung. Denn die Herrschaft des "demos" basiert darauf, dass ein einheitlicher Wille von eigentlich völlig unterschiedlichen und gar nicht in Verbindung stehenden Menschen behauptet wird. Dafür wird zunächst eine Gruppe von Menschen abgegrenzt (von anderen) und zu einer Einheit erklärt - zB das Volk in einem Staat. Diese Einheit gibt es gar nicht, sondern sie wird durch deren Sprecher*innen/Vertreter*innen/Verblender*innen behauptet, ist dann aber als allgemeine Halluzination in den Köpfen. Als nächste Stufe entsteht dann der Eindruck, dass die Aussagen der Sprecher*innen/Vertreter*innen/Verblender*innen die Meinung aller sind - der sogenannte Gemeinwille wird konstruiert. Populistische Positionen sind besonders geeignet, als dieser Gemeinwille wahrgenommen zu werden. Das ist keine Fehlentwicklung in der Demokratie, sondern der Fehler der Demokratie selbst. ++ demokratie.siehe.website ++ volk.siehe.website

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