Offener Raum

IM NAMEN DES VOLKES: KONSTRUIERUNG EINES KOLLEKTIVSUBJEKTES

Kollektive Identität: "Wir"


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Alles geht als "wir" - Bild-Schlagzeile nach Wahl eines Deutschen (oder Bayern? oder Katholiken? oder ...?) zum Papst

Aus "Wehrhafte Demokratie: Der innere Gegner", in: Junge Welt am 25.11.2024 (S. 12)
Die Freiheit, die Verfassung und Gesetze zum Inhalt dieses Universalismus machen, formuliert ein »Wir«, das alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger umfasst und damit schon vom Prinzip her jegliche Anliegen, die dieses »Wir« in Frage stellen, ins Abseits stellt. ...
Was die staatliche Gewaltausübung von anderen Herrschaftsformen unterscheidet und sie als demokratisch adelt, ist ihre Legitimation durch das Volk. ...
Das Volk als Einheit existiert insofern nur als Objekt der Herrschaft, die über es ausgeübt wird, während es als Subjekt der Herrschaft im Wahlakt an der Erzeugung der staatlichen Ordnung beteiligt ist, die dann sein durch Recht und Verfassung fundamentiertes Gewaltmonopol ausübt.


Aus Junge Linke, "Proud to be... so what? - Überlegungen über das Verhältnis von Emanzipation und kollektiven Identitäten" (Quelle)
Sagt man über einen Menschen, er habe eine Identität, dann kann das vernünftigerweise meinen, dass er sich als denkendes Wesen in einem Körper weiß, dass dieses Wesen in dieser Einheit einiges mitzumachen hat und dies auch bereits getan hat, ehe es so recht angefangen hat, begrifflich zu denken. Menschen wird aber noch eine andere Art Identität zugeschrieben: "Wir brauchen die emotionale Intelligenz der Frauen" (Heiner Geissler), "Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher" (der Staat), "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" (Kinderspiel), "Das schwule U-Boot in den sicheren Hafen der Ehe einlaufen lassen" (Volker Beck) Usw. Usf. Bei diesen und anderen Beispielen ist Gewalt im Spiel.
Menschen werden als Gruppen zusammengefasst: Als Geschlechter, Völker, Rassen, Hetero- oder Homosexuelle und noch einiges mehr. Und das ist mehr als die harmlose Angabe, welche physischen Eigenschaften ein Mensch hat, wie stark pigmentiert seine/ihre Haut ist, wo er/sie lebt und in wen er/sie sich verliebt. An diesen Sortierungen entscheidet sich einiges an materiellen Umständen und psychischen Zustände und auch der Dauer der eigenen Existenz. ...
Stehen diese "Wesensurteile" einmal im Raum, muss die Gruppe, auf die sie sich beziehen, darauf reagieren: Die Urteile werden zurückgewiesen, positiv oder negativ aufgenommen, oder auch kritisiert. Oder sie spalten sich in Unterkollektive anhand der Debatte über die ,Antwortstrategie'. ...
Und das ist die eine Crux jeder Bestätigungspolitik, d.h. eine Politik die darauf abzielt, eine unterdrückte Gruppe dadurch zu emanzipieren, dass sie ihre Mitglieder in ihrer kollektiven Identität bestätigt und bestärkt: Die beste Bestätigung verschafft allemal die Integration in die bestehende Mehrheitsgesellschaft, das, was man platt die "Integration in den Mainstream" nennen könnte - außer natürlich man gründet selber eine Mehrheitsgesellschaft. Die Herausbildung von Konteridentitäten pflegt deswegen begleitet zu werden von der Aufforderung sowohl zur anpasslerischen Identitätsveränderung als auch zur Akzeptanz von Teilen der eigenen Gruppe, die dies bereits vollzogen haben. Dementsprechend sind Vertreter der ,Community' häufig groß darin, selbstkritisch die Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft als Voraussetzung für die Integration anzuerkennen.
Die zweite Crux besteht in der repressiven Tendenz der subkulturellen Homogenisierung. Anders ausgedrückt: Auch abweichendes Verhalten kann eine Norm werden, vom Kleiderkult bei den Autonomen bis zum Verratsvorwurf bei einer heterosexuellen Liebelei. Nicht zu reden von der positiven Besetzung der Essentialisierung: Auch die VertreterInnen unterdrückter Gruppen halten oft ihre ,Identität' für einen Nachvollzug ihrer Natur. "Ich bin, was ich bin, weil ich so bin". ...
Darum ist die Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft im Regelfall kein Mittel für die eigene Emanzipation.


Aus einem Interview mit Stefan Leber (Dozent für Waldorfpädagogik) in: Flensburger Hefte Nr. 63 (IV/98, S. 83)
"Der Geist ist wesentlich Individuum; aber in dem Elemente der Weltgeschichte haben wir es nicht mit einzelnen oder mit partikularer Individualität zu tun. Der Geist in der Geschichte ist ein Individuum, das allgemeiner Natur, dabei aber ein bestimmtes ist, d.h. ein Volk Überhaupt; und der Geist, mit dem wir es zu tun haben, ist der Volksgeist. Die Volksgeister aber unterscheiden sich wieder in der Vorstellung, die sie sich von sich selber machen [ ... ]. Was der Geist von sich weiß, davon hängt das Bewußtsein des Volkes ab. [ ... ] Das Bewußtsein der Geister ist das Substantielle, auch wenn die Individuen es nicht wissen. [ ... ] Kein Individuum kann über diese Substanz hinaus, es kann sich wohl vom einzelnen Individuum unterscheiden, nicht aber vom Volksgeist. "
Damit wird deutlich, daß auch die Volksgemeinschaft als etwas gesehen werden kann, was der Entwicklung unterliegt. Dann schaue ich nicht auf den einzelnen, sondern auf das Soziale, die Gemeinschaft, das Kollektiv. Da kann ich anders werten als gegenüber dem einzelnen. Diese Blickrichtung ergreift Steiner in seinen Bemerkungen, wenn er über Volks- oder Rassenzugehörige spricht. Er meint da niemals den einen, konkreten Menschen.
Ich zitierte Hegels "Philosophie der Geschichte". Ob dieser Kontext denen, die als progressive Anthroposophen meinen, sich von Steiner distanzieren zu sollen, bewußt ist, bezweifle ich. Hegel weiter: "Der Geist eines Volkes ist also so zu betrachten als die Entwicklung des Prinzips, das in der Form eines dunklen Triebes eingehüllt ist, der sich herausarbeitet, sich objektiv zu machen strebt. Ein solcher Volksgeist ist ein bestimmter Geist. Er muß in seiner Bestimmtheit erkannt werden. Weil er Geist ist, läßt er sich nur geistig durch den Gedanken fassen. Der Geist ist lebendig und wirkend." (Hegels Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1979 ff, Bd. 12, S.42, oben S.36 f)


Aus der Rede von Hugo Chavez, Staatschef von Venezuela, vor der UN-Vollversammlung, dokumentiert in: Junge Welt, 23.9.2006 (S. 3)
... was passiert, ist, daß die Welt erwacht und überall wir, die Völker, uns erheben. ... ich kenne den größten Teil der Seele dieser Völker, der Völker des Südens, der angegriffenen Völker.

Das "Wir" in allen Kollektivsubjekten

Menge, Masse und der jeweilige "demos" (Kollektivsubjekt)

Aus Gölitzer, Susanne, "Wir und die Anderen", in: FR, 18.11.2006 (S. 9)
Christen, Frauen, Deutsche - wer mit Begriffen eingesperrt wird, verliert an Selbstbestimmung
Politiker und manche Medien benutzen es häufig: Das große "Wir". Damit wird eine falsche Gemeinsamkeit hergestellt, denn weder sind die mit "Wir" Gemeinten eine einheitliche Gruppe noch sind die "Anderen", sprachlich Ausgeschlossenen, so viel anders. ...
Dieses "Wir" setzt immer ein "Ihr" voraus, es ist ein großgeschriebenes "Wir". Ein solches "Wir" kann nur in Abgrenzung gedacht werden: wir Christen, wir Deutsche, wir Frauen und die Anderen. Im Feuilleton der Zeitungen, im Polit- und Kultursegment des Fernsehens schlagen sich die Themen mit Wir-Gefühl gegenseitig ab. Dieses "Wir sind anders als die Anderen" gehört zum kulturellen Ein- und Ausschließungsspiel dazu. Wer das Spiel gewinnt, gewinnt Verteilungskämpfe, kann Geltungsansprüche durchsetzen und emanzipatorische Kräfte aller Couleur unter Kontrolle halten. Das scheint auch nötig, denn Emanzipation kann man als die begründete Ablehnung aller kategorischen Ausgrenzung verstehen. ...
Also: Schluss mit dem großgeschriebenen "Wir und die Anderen", sehen wir uns lieber genauer an, was verschiedene Menschen wollen und brauchen, um in Deutschland selbstbestimmt und nicht gleichgültig anderen gegenüber leben zu können.


Wo Autonomie verschwindet, das Ich im Ganzen aufgeht und das Kollektiv entsteht - da wird alles gut
Aus einem Bericht auf der Sportseite zum von "Linken" gehypten Club FC St. Pauli, in: Junge Welt, 13.82.007 (S. 16)
Teamchef Holger Stanislawski schlich noch bis zehn Minuten vor dem Anpfiff schweren Schrittes allein über die Baustelle der Südtribühne und qualmte eine. Er muß sich eigentlich keine Sorgen machen, denn die Mannschaft wird mit dem Abstieg nichts zu tun haben. Sie ist ein echtes Kollektiv.


Innen und außen
Aus Marti, Urs (2006), "Demokratie - das uneingelöste Versprechen", Rotpunkt in Zürich (S. 122 ff.)
Die geschichtliche Entwicklung hat indes, wie Arendt darlegt, gelehrt, dass keine politische Autorität fähig oder bereit ist, Rechte von Menschen zu schützen, die nicht zu einer politischen Gemeinschaft gehören und darin ihre Staatsbürgerrechte wahrnehmen können. Die Erfahrungen massenhafter Flucht und Staatenlosigkeit haben die Welt mit der Frage konfrontiert, ob es überhaupt unveräußerliche Menschenrechte gibt, die nicht von einem besonderen politischen Status abhängig sind. Erst aus der Lage der Rechtlosen lässt sich erkennen, welches Recht so elementar ist, dass sein Verlust absolute Rechtlosigkeit bewirkt. Für Arendt ist dies das Recht auf Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Der Verlust der Menschenrechte findet somit statt, "wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind" (Arendt 1986, 461f). ...
Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass sich das Prinzip der staatlichen Souveränität - dies wird gerade in der gegenwärtigen Periode der Globalisierung deutlich - als ambivalent erweist. Einerseits steht es für eine politische Institution, die über die Kompetenz verfügt, Rechtsgleichheit durchzusetzen, andererseits für einen Mechanismus der Inklusion und der Exklusion, der einigen Menschen Rechte zuspricht, die er anderen abspricht. Wer nicht Bürger eines Staats ist, kann mit den Bürgern dieses Staats nicht alle Rechte teilen, insbesondere nicht die Staatsbürgerrechte. Das tönt zunächst trivial, stellt aber sowohl angesichts der globalen Migration wie auch vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ein Problem dar. Wenn das Menschenrecht ein Recht ist, das prinzipiell allen Menschen als Menschen zukommt, praktisch aber, wie Arendt meint, nur von jenen genutzt werden kann, die Staatsbürgerrechte besitzen und in eine politische Gemeinschaft integriert sind, können heute zahllose Menschen die Menschenrechte nicht in Anspruch nehmen.


Aus Marti, Urs (2006), "Demokratie - das uneingelöste Versprechen", Rotpunkt in Zürich (S. 129)
Die Trennung der Menschen in höher- und minderwertige Teile ist für das vormoderne politische Denken elementar gewesen, zu denken ist etwa an die Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren oder zwischen Adligen und Gemeinen. In der Neuzeit kommt dann der Aufteilung der Menschheit in Rassen immer stärkere Bedeutung zu, wobei rassistische Ideologien sowohl der Rechtfertigung der Unterwerfung außereuropäischer Völker sowie des Sklavenhandels als auch der Diskreditierung der Demokratie dienen.


Der Untergang analytischen Denkens im Kollektiv
Aus Mark Winter: " " (leider ist die Quelle verlorengegangen - wer sie kennt, bitte melden)
In erster Linie sind es jedoch die psychologischen Experimente zum Gruppenverhalten, die das Modell vom rationalen Menschen auf eine harte Probe stellen. Denn in der Gruppe vertraut der Mensch besonders gern auf sein Gefühl und folgt kollektiven Verhaltensmustern, die von außen betrachtet den Anschein erwecken, als seien sie von unsichtbarer Hand gesteuert. Kollektive Phänomene gibt es indes auch in der Natur. Und sie werden im Rahmen der Theorie der Selbstorganisation mitunter so gut beschrieben, dass ihr Verhalten in Grenzen vorhersagbar ist. Manche Wissenschaftler sind daher geneigt, mit dieser Theorie auch soziale Prozesse zu untersuchen. Ein solches Vorgehen habe sich in einigen Fällen als durchaus sinnvoll erwiesen, meint der amerikanische Physiker Mark Buchanan, der in einem ebenso provokanten wie anregenden Buch "Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik" vorstellt. Warum sind Aktienmärkte so unberechenbar? Wie entstehen Staus auf Autobahnen? Warum gelingen manche Revolutionen und andere nicht? So lauten nur einige der Fragen, die Sozialphysiker derzeit zu beantworten versuchen. Mit welchen Mitteln und Methoden sie das tun, sei hier kurz am Beispiel der Schwarmbildung erläutert. Ein Schwarm ist ein Kollektiv, das sich geordnet auf ein Ziel zu- bewegt, ohne dafür einen Befehlsgeber zu benötigen. Stattdessen genügen ein paar simple Verhaltensregeln, so haben Ethologen der Universität Leeds am Computer herausgefunden, um eine lose Menschenmenge in einen Schwarm zu verwandeln. Diese Regeln könnten für den Einzelnen etwa so aussehen: Bewege dich immerfort! Bleibe in der Gruppe! Halte kurzen Abstand zu deinem Nachbarn! Das WDR-Wissenschaftsmagazin "Quarks & Co." hat die Voraussagen der britischen Forscher in einem einzigartigen Großexperiment getestet. 200 Freiwillige aus Köln bewegten sich in einer Halle streng nach den oben genannten Regeln. Ergebnis: In kurzer Zeit schon formte sich aus einem wahllosen Gedränge von Menschen ein Schwarm. 200 Frauen und Männer bewegten sich geordnet im Kreis, obwohl niemand dies zuvor beabsichtigt hatte. Ein Schwarm, so könnte man folgern, entwickelt seine eigene Intelligenz, welche die Einzelnen befähigt, sich ohne Kollisionen zu bewegen. Weiter wollten die Forscher wissen, wie vieler "Anführer" es bedarf, um eine derart effizient organisierte Menschenmenge zu manipulieren. Eine Person, so ergab der Versuch, war hierzu nicht in der Lage. Sobald jedoch zehn Personen (oder fünf Prozent aller Individuen) forsch ein neues Ziel anstrebten, zogen sie den Schwarm gleichsam magisch hinter sich her. An die Stelle der rationalen Entscheidung, meint Buchanan, tritt in der Gruppe oftmals die Nachahmung. Nicht wir selbst, sondern Angehörige, Freunde oder Kollegen entscheiden dann, was wir anziehen, was wir essen, was wir tun. Wie weit diese Unterwerfung gehen kann, demonstrierte schon vor Jahren und auf erschreckende Weise der Sozialpsychologe Solomon Asch. Auf einem großen Blatt Papier präsentierte er seinen Versuchspersonen eine vertikale Musterlinie und dazu drei Vergleichslinien, von denen eine genauso lang war wie die Musterlinie. Die beiden anderen fielen hingegen deutlich länger bzw. kürzer aus. Asch fragte nun: Welche der drei Vergleichslinien stimmt mit der Musterlinie überein? Gewiss eine kinderleichte Aufgabe, die alle Probanden mithin auch mühelos bewältigten. Dann jedoch änderte Asch die Versuchsbedingungen. Von jeweils zehn Probanden waren jetzt neun seine "Komplizen", und diese gaben nacheinander dieselbe falsche Antwort. Erst dann kam die "echte" Versuchsperson an die Reihe. Was würde diese tun? In mehr als der Hälfte aller Fälle, so das Ergebnis, schloss sie sich der offenkundig falschen Meinung der Mehrheit an! Doch es kommt noch besser: Als man das Experiment unlängst wiederholte, wurde die Gehirnaktivität der Probanden gemessen, um herauszufinden, ob diese wider besseres Wissen eine falsche Antwort gaben. Denn dabei hätte ihr Vorderhirn, das für Planungen und Problemlösungen zuständig ist, in höchste Aktivität geraten müssen. Was aber nicht geschah. Stattdessen stieg die Aktivität im Bereich des räumlichen Vorstellungsvermögens ungewöhnlich stark an. Das lässt vermuten, dass die betreffende Versuchsperson, um nicht als Außenseiter zu gelten, die Antwort der anderen gleichsam objektiviert hatte. Oder, wie Buchanan es ausdrückt: Das soziale Umfeld verändert die individuelle Wahrnehmung der Welt.

Aus "Die Fähigkeit, frei zu sein" (Gerhard Wagner über Le Bons "Psychologie der Massen"), in: Junge Welt, 7.1.2008 (S. 10)
Der einzelne, selbst der Angehörige sogenannter gebildeter Schichten, verliert, so eine von Le Bons Grundthesen, in der zumeist großstädtischen "Masse" der Arbeiter- und Angestelltenheere, unter dem Einfluß ihrer "Herrschsucht und Unduldsamkeit", ihrer "Beharrungsinstinkte" und ihrer Fixiertheit auf "äußerliche Dinge" seine kritische Distanz, seine Fähigkeit zur selbständigen Entscheidung. Er wird unter dem Druck der massenhaften wechselseitigen Identifikationen emotional labil und verhält sich affektiv und demonstrativ, zum Teil primitiv-barbarisch. Er wird "leichtgläubig" und unterliegt der "Ansteckung" durch "Nachahmung, Suggestion und Identifikation", neigt zu intellektuellem Gehemmtsein und "geistiger Angleichung", indem er die Massenphantasien und "Stimmungen" für seine eigenen hält. Er wird vom Individuum zum bloßen Massenglied, das Fremdzwang in Selbstzwang verwandelt. In der "Masse", die bei Le Bon oft als eine Art kollektiver Amok-Läufer erscheint, überlagert also eine primitive Tiefendimension die rationale Struktur des zivilisierten Bewußtseins.
Deshalb sei die "Masse" durch Führerpersönlichkeiten nicht nur mittels "Brot und Spielen", sondern auch mittels "energischer Behauptungen", "Bezauberung" durch "Wunderbares" und "Schmeicheln niedriger Instinkte" leicht zu lenken: "Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren." Die herrschaftsstrategisch eingesetzte "Volksphantasie" erscheint hier als eine wesentliche Machtstütze. ...
Denn "Einseitigkeit der Ideen, Erregbarkeit, Beeinflußbarkeit, Überschwenglichkeit der Gefühle, überwiegender Einfluß der Führer" – das waren und blieben für Le
Bon die wesentlichen Kennzeichen der "Masse". ... "Gerade das heutige Deutschland bietet den stärksten Beweis dafür, daß eine Massenbewegung besonders wertvolle Kräfte zutage fördern kann, da ein verantwortungsbewußter und von sittlichem Wollen beseelter Führer der Masse zum bewußten Erleben ihrer tieferen, ewigen und unwandelbaren Gemeinsamkeit des Blutes, der Rasse und der Verbundenheit mit dem Heimatboden verhilft." Dogmatisch schließt Moede hier "Freiheit" und "Führer-Willen" kurz, hebt die Spielräume des Individuums zwischen Distanz und Anpassung in der biologistisch begriffenen "Volksgemeinschaft" auf, die zur "völkisch"-nationalen Wiedergeburt führe: "Als eine organische Einheit, die mit ihrem Führer durch die Gemeinsamkeit des Blutes im Denken, Fühlen und Wollen zutiefst verbunden ist, handelt sie frei und selbstverständlich nach seinem Willen. Die Anschauungen Le Bons haben für sie keine Gültigkeit mehr."

Emma Goldman
Als Masse wird es immer der Vernichter der Individualität, der freien Initiative, der Originalität sein.

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Eine Integration in die staatlich organisierte Gesellschaft halten auch - oder gerade - Demokraten für eine Bürgerpflicht, die gegebenenfalls von der Staatsgewalt auch gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt wird. Man denke an die Wehr- oder Schulpflicht. Die so oft gegenüber dem "Kommunismus" hervorgehobenen Freiheiten meinen keinesfalls die individuelle Selbstbestimmung. ...
Goldman gelangte so zu einer Massenverachtung und zu einer entschiedenen Ablehnung des „Märchens von der Tugend der Mehrheit“: "jawohl, Autorität, Zwang und Abhängigkeit beruhen auf der Masse, aber nie die Freiheit, nie die freie Entfaltung des Individuums, nie die Geburt einer freien Gesellschaft ... das Volk als kompakte Masse... hat die Stimme des Menschen unterdrückt, den Geist des Menschen unterjocht, den Leib des Menschen gefesselt. Als Masse ist sein Ziel immer gewesen, das Leben gleichförmig, grau und eintönig wie die Wüste zu machen. Als Masse wird es immer der Vernichter der Individualität, der freien Initiative, der Originalität sein." (1972, 190f.)
Goldman hofft nicht auf Veränderungen, die von der Masse oder von demokratischen Mehrheiten ausgehen, sondern setzt ihr Vertrauen auf "intelligente Minoritäten" und freie Individuen: "Die Zivilisation ist ein ständiger Kampf des Individuums oder von Gruppen von Individuen gegen... die Mehrheit, die durch den Staat und die Staatsverehrung unterdrückt und hypnotisiert wird." (1977, 65) Die Kritik an der Masse und an der "Mehrheits-Demokratie" vieler Anarchisten ist also durchaus elitär - elitär allerdings nicht im Sinne eines Herrschaftsanspruchs einer Elite über die Mehrheit, sondern im Sinne einer Selbstbehauptung und Weigerung, die Vertretung ihres Anspruchs auf individuelle Selbstbestimmung Mehrheitsentscheidungen zu überlassen. ...
(S. 144 ff.)
Vorausschauend kritisiert Kropotkin um die Jahrhundertwende den Sozialstaat als Mitverursacher an der Zerstörung traditioneller Formen ("gesellschaftlicher") gegenseitiger sozialer Hilfe und konkreter Gemeinschaftlichkeit: "Der Staat allein und die Staatskirche dürfen sich um öffentliche Angelegenheiten kümmern, während die Untertanen lose Haufen von Individuen vorstellen müssen, die keine besondere Verbindung untereinander haben und verpflichtet sind, sich jederzeit, wenn sie eine gemeinsame Not empfinden, an die Regierung zu wenden." (1975, 208) ...
(S. 170)

  • Dummheit von Menschen in Massen (im Vortragsmitschnitt von Michael Schmidt-Salomon: Keine Macht den Doofen): Zu "Schwarmdummheit" nach ca. 40:45min

Kollektivität und Individualisierung passen zusammen
Aus Kühnl, Reinhard (1971): "Formen bürgerlicher Herrschaft", Rowohlt Taschenbuchverlag in Reinbek (S. 85 f., 89)
Hinzu kommt, daß Nationalismus und Volksgemeinschaftsideologie gewissermaßen natürlichen Bedürfnissen entgegenkommen. Der Wunsch, in einer solidarischen Gemeinschaft sicher aufgehoben zu sein, ist gerade angesichts der allgemeinen sozialen Unsicherheit leicht verständlich, und die Neigung, sich mit der Macht und dem Erfolg der eigenen Nation zu identifizieren, tritt gerade bei denen auf, die im gesellschaftlichen leben keine einflußreichen Positionen und keine Erfolgserlebnisse haben. ...
Die Psychoanalyse hat gezeigt, daß autoritäre Mentalität und Begeisterung für das Führerprinzip nicht immer unmittelbar aus konkreten sozialen Interessen herstammen müssen, sondern auch in einem allgemeineren Sinne gesellschaftlich vermittelt sein können: Die Undurchsichtigkeit der kapitalistischen Industriegesellschaft und die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins an anonyme Gewalten produzieren Angst, die nach einem festen Halt sucht. Das Ich kann sich unter diesen Bedingungen nicht zu einer selbstbewußten Instanz entwickeln, sondern sucht seine Rettung in der Unterwerfung unter eine starke Autorität. Das kann sich in der Identifizierung entweder mit einem mächtigen Kollektiv - dem Staat, der Nation, dem Unternehmen - oder mit einer Führerpersönlichkeit äußern ...
Hinweis: In der Liste der Kolletive fehlen als heute bedeutsame Identifikations-Kollektive Vereine und Verbände.


Le Bon, Gustave 1895, Psychologie der Massen, Stuttgart 1951, S. 16, zitiert in: Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): „Multitude“, Campus Verlag in Frankfurt (S. 288, mehr Auszüge ...)
In der Menge, so Le Bon, "versinkt das Ungleichartige ... im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen"

Hegel will anfangs noch den Staat abschaffen
Zitat von Hegel in "Ältestes Systemprogramm", zitiert in: Gebhardt, Jürgen/Münkler, Herfried (1993), "Bürgerschaft und Herrschaft", Nomos in Baden-Baden (S. 194)
Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.


Wir sind Papst. (Bild-Zeitung)
Deutschland wird Papst. (Frankfurter Rundschau, Internet-Jahresrückblick am 31.12.2005)

Matthäus 25, Vers 31 bis 35
Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit ... werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.

  • Schafe und Ziegen als Sinnbilder von Anpassung/Kollektiv/Volk und Autonomie
  • Bild rechts: Fotoposter der kirchennahen Firma Kawohl zum Psalm 23 (Ausschnitt)


Integration und Kanalisierung
Eine der entscheidenden Stärken der Demokratie aus der Sicht derer, die Herrschaftsformationen aufrechterhalten wollen, ist die Fülle von Mechanismen zum "Dampf ablassen". Wer unzufrieden ist, hat derartig viele Möglichkeiten, dass es kaum möglich ist, alle auszuschöpfen. Das allein führt bereits häufig zum Vorwurf des Nörgler, wenn jemand die Vielzahl von Rechten, Kritik zu üben, nicht nutzt. Bei näherem Hinsehen aber sind alle Instrumente nicht rechtlich bindend, es gibt keine Garantie, dass eine Beschwerde auch da ankommt, wo sie hingehört: Zu den Ursachen dessen, was stört. Der demokratische Rechtsstaat bietet seinen Bürgis an: Petitionsrecht, d.h. das mühselige Briefeschreiben an die Parlamente. Den Rechtsweg, d.h. das finanziell oft riskante Bemühen von Gerichten - bei unkalkulierbarem Ausgang und oft langen Verfahrenswegen, während derer sich die Sache selbst oft erledigt hat. Das Demonstrationsrecht, d.h. die geordnete, in enge Bahnen und vom Staat formulierte Spielregeln gelenkte öffentliche Meinungsäußerung. Bürgeranfragen, d.h. die meist schriftliche Form der Anfrage an Parlamente. Die Gründung einer Partei oder das Beitreten in eine bestehende, aber immer unter Akzeptanz derer Satzungen und der Parteigesetze, die enge Anforderungen an den einem herrschaftsförmigen Staat angepaßten Parteiaufbau stellen. Schließlich werden, gerade in den letzten Jahrzehnten demokratischer Modernisierung, immer neue Gremien geschaffen, die Partizipation suggerieren, aber nicht tatsächlich bieten, z.B. die umfangreichen Agenda-21-Runden ab Mitte der 90er Jahre. Diese und noch viel mehr Mittel können kritische Menschen auf Trab halten, sie beschäftigen und ihnen beim Kampf gegen die Windmühlen den Eindruck lassen, dass doch viele Möglichkeiten bestehen und sich das Engagement lohnt. Dass die Mitwirkung nicht tatsächlich und vor allem nicht an den wirklich interessanten Punkten von Planung und Entscheidungsfindung in dieser Gesellschaft stattfindet, fällt kaum noch auf. Verschleiert wird seit ca. 1990 zudem ein massiver Abbau formaler Beteiligungsrechte, die in Fachgesetzen wie Bau- und Verkehrsrecht oder in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehen waren und Stück für Stück demontiert wurden im Rahmen der Beschleunigungsgesetze allerorten.

Aus Besson, W./Jasper, G. (1966), "Das Leitbild der modernen Demokratie", Paul List Verlag München (herausgegeben von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, S. 56)
Die Aussicht freilich, nach den nächsten Wahlen tatsächlich an die Macht zu kommen, veranlaßt die Opposition jedoch, in der Kritik und in den eigenen Gegenvorschlägen maßvoll zu sein.

Aus Agnoli, Johannes (1967), "Die Transformation der Demokratie", Voltaire Verlag in Berlin (S. 64 f.)
Es sind vor allem zwei klassische Einrichtungen, die als Mittel der Kritik am Parlament und der Intervention des Volkes gedacht worden sind und staatsbürgerkundlich propagiert werden, in Wirklichkeit vorzüglich als Auffanginstrument sich eignen: die Interpellation und die Petition. Da das Petitionsrecht eine, wenn man so will, uralte Sehnsucht der Abhängigen stillt, sich bei den Mächtigen Gehör zu verschaffen, kann es in seiner manipulativen Bedeutsamkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden: ein noch so radikaler Protest gegen Willkür und Machtmißbrauch wird in eine Anerkennung der bestehenden Ordnung umgemünzt, wenn er sich in eine Petition umsetzen läßt.


Aus Heinrichs, Johannes (2003), „Revolution der Demokratie“, Maas Verlag in Berlin (S. 18 und 21, mehr Auszüge ...)
Die dynamische Identität von Regierten und Regierenden und darin die Selbstbezüglichkeit der Gemeinschaft machen gerade die Pointe von Demokratie oder Selbstregierung aus. ...
Demokratie hat entweder etwas mit dem Glück der Vergemeinschaftung, auch als staatliche Rechtsgemeinschaft, zu tun - oder ihre Sache ist vertan. Vielleicht ist das die eigentliche Alternative: Untätigkeit oder Mitgestaltung von Gemeinschaft?


Umgang mit Kritik
Das Schlechte an der Demokratie ist immer woanders ...
Aus D@dalos-Lexikon zu "Demokratie"
... besteht die Gefahr, dass die Beauftragten der Wähler, also die Abgeordneten und Parteien, die Verbindung zu ihren Wählern verlieren. Dann kann es zu einer Elitenherrschaft über das Volk, eventuell im Namen des Volkes kommen. In der DDR und den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks gab es eine solche Form der "Volksdemokratie" die in Wirklichkeit eine Herrschaft der Parteibürokratie war.


Volk, sozialer Organismus ... bei AnarchistInnen und MarxistInnen
Aus Gassner, Marcus, "Emanzipation als Maßstab für jegliche Organisation" in: Grundrisse 2/2002 (S. 36)
“Das bewusste Wollen des Reiches der Freiheit kann also nur das bewusste Tun jener Schritte bedeuten, die diesem tatsächlich entgegenführen. Und in der Einsicht, dass individuelle Freiheit in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft nur ein korruptes und korrumpierendes, weil auf die Unfreiheit der anderen unsolidarisch basiertes Privileg sein kann, bedeutet es gerade: den Verzicht auf individuelle Freiheit. Es bedeutet das bewusste Sich-unterordnen jenem Gesamtwillen, der die wirkliche Freiheit wirklich ins Leben zu rufen bestimmt ist...” (Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 318)
In diesen Worten Lukacs erkennt man unschwer einen jüdisch-christlichen Entsagungs- und Aufopferungsgeist. Emanzipation wird auf ein Endziel reduziert. Genau so kann aber Emanzipation nicht funktionieren. Eine Bewegung, die auf der Arbeitsteilung von Kopf- und Handarbeit beruht, wird auch wieder nur eine Gesellschaft hervorbringen, die auf Arbeitsteilung basiert. Alles andere zu glauben, würde bestenfalls Dummheit voraussetzen, schlimmstenfalls wäre es einfach nur reaktionär. - Ein Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft bedeutet gleichzeitig ein Kampf gegen die Organisationen, gegen die TrägerInnen der Unterdrückung in der Bewegung selbst. Verzicht auf individuelle Freiheit bringt niemals ein mehr an Freiheit, auch wenn dies noch so “dialektisch” erklärt wird.


Im Namen des Volkes ... bei der RAF (Quelle)
Wenn wir auch die Aktionen der RAF nicht von vornherein verdammt haben, so ist doch ihre Praxis vom anarchistischen Standpunkt aus anzugreifen. Die RAF entfernte sich im Laufe der Jahre immer mehr von der gesamten linken Bewegung und betrachtet sich als eine Avantgarde, als eine Elite, die danach strebt, dem Volk die „Befreiung" nach staatssozialistischem Muster aufzuzwingen. Sie entwickelte in ihren Pamphleten und Aktionen eine diktatorische, stalinistische Sprache. Wenn sie sagen: „Das Schwein wurde im Namen des Volkes erschossen", so fragen wir uns: In wessen Volkes Namen?


Forderungen für eine anarchistische Praxis bei AnarchistInnen (Quelle)
Für die Phase des Kampfes sind sie durch revolutionäre Volksarmeen und -patrouillen ohne hierarchische Struktur zu ersetzen.



Kritik
Aus Gölitzer, Susanne: "Wir und die Anderen", in: FR, 18.11.2006 (S. 9)
Politiker und manche Medien benutzen es häufig: Das große "Wir". Damit wird eine falsche Gemeinsamkeit hergestellt, denn weder sind die mit "Wir" Gemeinten eine einheitliche Gruppe noch sind die "Anderen", sprachlich Ausgeschlossenen, so viel anders. ...
Dieses "Wir" setzt immer ein "Ihr" voraus, es ist ein großgeschriebenes "Wir". Ein solches "Wir" kann nur in Abgrenzung gedacht werden: wir Christen, wir Deutsche, wir Frauen und die Anderen. Im Feuilleton der Zeitungen, im Polit- und Kultursegment schlagen sich die Themen mit Wir-Gefühl gegenseitig ab. ...
Also: Schluss mit dem großgeschriebenen "Wir und die Anderen", sehen wir uns lieber genauer an, was verschiedene Menschen wollen und brauchen, um in Deutschland selbstbestimmt und nicht gleichgültig anderen gegenüber leben zu können.


Volk und Führer
  • Extra-Abschnitt darüber, dass die Idee von Volk und Führer gut zusammenpassen

Demokratiebefürwortung von rechts
Konservative Identitätssuche
"Was Identität ausmacht", von Bischof Martin Hein, in: Hessenkurier, Zeitschrift der CDU, März 2007 (S. 29)
Der Brockhaus bietet als Antwort eine anspruchsvolle Definition: Kulturelle Identität sei eine"Bezeichnung für das im kulturhistorischen Zusammenhang erworbene (gelernte) Selbstverständnis eines Individuums, einer Gruppe oder einer Nation im Hinblick auf Werte, Fähigkeiten oder Gewohnheiten".
Was mag dann eine"deutsche Identität" sein? Zunächst: Es wäre verfehlt, mit Identität etwas Unverrückbares oder gar Ewiges zu verbinden. Identitäten sind ge _ schichtlich geworden und verändern sich. Die deutsche Geschichte ist hierfür ein gutes Beispiel: Nach ihrer Identität gefragt, hätten Deutsche zu Beginn des Wilhelminischen Kaiserreiches etwas anderes gesagt als nach den verlorenem Ersten Weltkrieg 1918 und 1945 wiederum etwas anderes als nach dem Fall der Mauer. Mit anderen Worten: Die unwandelbare deutsche Identität gibt es nicht.
Wohl aber lohnt es sich, nach identitätsstiftenden Faktoren Ausschau zu halten: Dabei ist gewiss die Geschichte als ein gemeinsamer Erfahrungshorizont zu nennen. Dieser gemeinsame Horizont entfaltet sich nicht nur anlässlich der großen geschichtlichen Zäsuren wie Kriege oder Revolutionen. Es kann auch ein mentalitätsgeschichtlicher Wandel sein, der die Identität einer Gemeinschaft oder zumindest Gruppen in ihr prägt: Unabhängig von einer inhaltlichen Bewertung ist es offenkundig, dass etwa das Jahr 1968 und seine Folgen unser Land geprägt haben -freilich durch Ereignisse und eine geistige Strömungen, die sich nicht allein auf Deutschland beschränken lassen. Auch gemeinsame Erlebnisse wie die hinter uns liegenden Fußball und Handballweltmeisterschaften hierzulande haben - glaubt man den schwarz-rot-goldenen Fahnen an Autos und Fassaden - zumindest für kurze Zeit eine "deutsche Identität" geschaffen.
Ein substantiellerer identitätsstiftender Faktor ist die Sprache. Nicht allein aus evangelischer Perspektive ist die deutsche Bibelübersetzung Martin Luthers ein Ereignis, das Denken, Sprache und Glauben bis heute nachhaltig prägt. Wer die Sprache eines Landes nicht beherrscht, bleibt kulturell draußen - und das beginnt im Schul- und Arbeitsalltag. Deshalb ist die Sprachförderung von Migranten, aber auch von Spätaussiedlern von Kindesbeinen an eine unserer wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben. Trotzdem ist auch nicht die Sprache allein identitätsstiftend. Österreicher und die Mehrzahl der Schweizer sprechen deutsch, werden sich aber kaum unter dem Etikett "Deutsche" subsumieren lassen wollen.
So können es schließlich gemeinsame Werte sein, die eine Nation verbinden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist hierfür ein großartiges Beispiel. Es formuliert die Werte und Ziele staatlichen Handelns, zugleich die Rechte jedes einzelnen Staatsbürgers. Umgekehrt gilt: Wer dem Grundgesetz nicht zustimmen kann, steht außerhalb der Identität unserer Landes. Die Begegnung mit dem Fremden und mit konkurrierenden Wertvorstellungen können wiederum hierzulande das Bewusstsein für die eigene Identität schärfen.
Dabei vermag der christliche Glaube kulturelle und nationale Identitäten zu würdigen und zu achten - und doch sind sie für ihn letztlich vorläufiger Natur. Die Kirche ist für alle Menschen offen; das Evangelium gilt allen ohne Unterschied:"Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus", stellt der Apostel Paulus fest.
Wie steht es um Identitäten in der Zukunft? Die Globalisierung stellt die Frage nach der nationalen Identität vor noch größere Herausforderungen. Der Streit um eine Europäische Verfassung in vielen Mitgliedstaaten der EU belegt, dass der Gedanke an eine nationale Identität auch in einem vereinten Europa durchaus präsent ist. Ob sich so etwas wie eine"europäische Identität" überhaupt entwickeln wird? Gegenwärtig ist eher zu beobachten, dass in einer Zeit wachsender Unübersichtsichtlichkeit und Verunsicherung regionale Identitäten wiederentdeckt werden: von Katalonien über Okzitanien bis nach Franken, von Hessen bis in die Bretagne. Und es ließen sich noch viel mehr Beispiele nennen!
Die Frage nach der Identität bleibt also aktuell und offen, sie bleibt in Bewegung. Dies aber ist das Beste, was ihr geschehen kann.

Der Autor ist seit September 2000 Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.

Neurechte Volks-Herrschaft
Interessant ist die Befürwortung der Demokratie beim neurechten Vordenker Alain de Benoist. Der steht damit zwar in offenem Widerspruch zu den meisten rechten Strömungen. Seine Begründung hat es aber in sich, denn er nimmt den Begriff wörtlich - und ist damit dichter an der Definition von Demokratie als die meisten bürgerlichen Befürwortis der Demokratie. Denn tatsächlich ist die "Herrschaft des Volkes" eine originär rechte Idee. Die Überhöhung des Volkes ist immer eine Negierung der Unterschiedlichkeiten und Antagonismen zwischen Menschen und ihren freien Zusammenhängen. Das Benoist für die Demokratie in ihrer reinen Form eintritt, entlarvt dieses Gesellschaftssystem als das, was es ist: Die Herrschaft eines konstruierten Kollektivs.

Aus Alain de Beniost: "Kritik der Menschenrechte"
Die Menschenrechtslehre verleiht unterschiedslos allen Menschen das Wahlrecht, weil sie Menschen sind ("ein Mensch, eine Stimme"). Die Demokratie verleiht allen Bürgern das Wahlrecht, verweigert es aber den Nicht-Staatsbürgern. "Die demokratischen Staatsbürgerrechte", sagt Carl Schmitt, "setzen nicht den einzelnen freien Menschen im außerstaatlichen Zustand der ,Freiheit', sondern den im Staat lebenden Staatsbürger, den citoyen, voraus." ... (S. 128f)
Demokratie jedoch bedeutet, wie Gauchet weiter verdeutlicht, "die Herrschaft des Kollektivs über sich selber in seiner Gesamtheit, und nicht nur in seinen Teilen. Sie ist - und muß sein - die Selbstregierung der politischen Gemeinschaft als solcher, ohne die sich die Rechte der Mitglieder und Bestandteile dieser Gemeinschaft letzten Endes als illusorisch erweisen. Die Menschenrechtsdemokratie ist eine verstümmelte Demokratie, die die eigentliche politische Dimension der Demokratie aus den Augen verliert; sie vergißt die Existenz der politischen Gemeinschaft, auf deren Ebene Demokratie letztlich stattfindet [...] Die Einführung des individuellen Rechtssubjekts in der Fülle seiner Vorrechte läßt das kollektive politische Subjekt der Demokratie unsichtbar werden." (S. 134f)

Aus Alain de Benoist (2011), „Aufstand der Kulturen“ (S. 9 und 28ff)
Wir brauchen heutzutage mehr konkrete Demokratie. Eine solche Demokratie kann aber nur an der Basis praktiziert werden, innerhalb von Gemeinschaften, die über besondere nomoi, das heißt über geteilte Werte, verfügen. …
Die Demokratie bezeichnet weder den Parteienstaat noch die Prozeßordnung des liberalen Rechtsstaats, sondern vor allem das politische System, in dem das Volk der Souverän ist. Sie beruht nicht auf dem Prinzip der ständigen Diskussion, sondern auf dem einer Kontrolle des Volkes über die hinsichtlich des Gemeinwohls getroffenen Entscheidungen. Seine Souveränität kann das Volk den politischen Führungskräften übertragen, die es bestellt, tritt sie allerdings damit faktisch zu deren Gunsten ab. Das Gesetz der bei der Wahl zutage tretenden Mehrheit heißt nicht, daß die Wahrheit aus der größten Zahl hervorgehe; dieses Gesetz ist lediglich eine Technik, die die größtmögliche Meinungsübereinstimmung zwischen dem Volk und seiner Führung zu gewährleisten ermöglicht. Die Demokratie ist schließlich die Regierungsform, die am ehesten in der Lage ist, der Vielzahl an Bestrebungen und Projekten innerhalbeiner Gesellschaft gerecht zu werden und deren friedliche Auseinandersetzung auf sämtlichen Ebenen des öffentlichen Lebens zu organisieren: friedliche Lösung der Meinungs- und Personenkonflikte, keine Zwangsverhältnisse zwischen Mehrheit und Minderheit; die Meinungsfreiheit der Minderheitenergibt sich aus dem Umstand, daß sie möglicherweise die künftige Mehrheit bilden werden.
Grundlegendes Prinzip der Demokratie, in der das Volk der Gegenstand der gesetzgebenden Gewalt ist, ist die politische Gleichheit. Dieses Prinzip unterscheidet sich von dem der Gleichberechtigung aller Menschen, das zu keiner Regierungsform führen kann (eine allen Menschen gemeinsame Gleichheit ist definitionsgemäß eine apolitische Gleichheit, da ihr die logische Folge einer möglichen Ungleichheit fehlt). Die demokratische Gleichheit ist kein anthropologisches Prinzip (sie sagt nichts über das Wesen des Menschen aus), sie stellt nicht auf, daß alle Menschen von Natur aus gleich sind, sondern nur, daß sie politisch gleich sind, weil sie alle gleichermaßen der gleichen politischen Einheit angehören. Es handelt sich also um eine substantielle Gleichheit, die auf der Zugehörigkeit gründet. Wie jedes politische Prinzip schließt sie die Möglichkeit einer Unterscheidung mit ein, im vorliegenden Fall zwischen Bürgern und Nichtbürgern. Der wichtigste Begriff der Demokratie ist weder der Einzelne noch die Menschheit, sondern die Gesamtheit der als Volk politisch zusammengeschlossenen Bürger. Die Demokratie ist die Regierungsform, die die Quelle der Rechtmäßigkeit der Macht in das Volk setzt und bestrebt ist, die größtmögliche Übereinstimmung zwischen Regierenden und Regierten zu verwirklichen: Sie ist der Auffassung, daß der tatsächliche, existentielle, Unterschied zwischen den einen und den anderen niemals ein qualitativer Unterschied sein kann. Diese Übereinstimmung ist der politische Ausdruck der Identität des Volkes, das über seine Regierenden die Möglichkeit erlangt, sich selbst politisch gegenwärtig zu sein. Die Demokratie setzt also ein Volk voraus. Das in der Sphäre des öffentlichen Lebenspolitisch zu handeln imstande ist. Die Wahlverweigerung und der Rückzug ins Privatleben bringen die Demokratie um ihren Sinn. …
In dieser Auffassung, die die imperialen und föderalen Entwürfe angeregt hat, verliert das Volk durch die Übertragung der Macht an den Souverän nie die Befugnis, Gesetze zu geben oder außer Kraft zu setzen. In seinen einzelnen organisierten Verbänden („Stände“) bleibt das Volk der alleinige oberste Inhaber der Souveränität und der Rechtmäßigkeit der Macht. Die Regierenden sind jedem einzelnen Staatsbürger zwar überlegen. sie bleiben aber dem von der Körperschaft der Bürger geäußerten allgemeinen Willen stets unterlegen. Das Subsidiaritätsprinzip läßt sich auf allen Ebenen anwenden. Die Freiheit eines Verbands und eine geteilte Souveränität stehen nicht im Widerspruch zueinander. und die geteilte Souveränität widerspricht nicht der Fähigkeit, an der Spitze – ob unter normalen Umständen oder im Ausnahmezustand — zu entscheiden. Das Feld des Politischen schließlich beschränkt sich nicht auf den Star: Die öffentliche Person definiert sich als voller Raum, als ununterbrochenes Gefüge von Gruppen, Familien, Verbänden, lokalen, regionalen, nationalen oder supranationalen Gebietskörperschaften. Politisches Handeln besteht nicht darin. diese organische Kontinuität zu leugnen, sondern sich auf sie zu stürzen.


Konstruktion des Germanentums als Ur-Demokratie
Aus Alain de Beniost: "Kritik der Menschenrechte" (S. 145)
Eins steht fest: Freiheit ist ein ur-europäischer Begriff. Das antike Griechenland hat ihren Wert zuerst erkannt. Die beständigste Ehrung aber scheint sie vor allem in Nordeuropa erfahren zu haben. Schon Tacitus stellte verblüfft fest, daß die germanischen Könige gewählt und von Versammlungen ernannt wurden. Die Germanen, staunte er weiter, kannten statt einer Steuerpflicht nur freiwillige Abgaben. Was der römische Historiker zu der Rolle der Frau sagt, zeigt ebenfalls, wie weitgehend die Freiheit der Person in Nordeuropa schon damals anerkannt wurde.


Menschen als Kollektiv denken? Ein Fall für den Verfassungsschutz
Absurd: Wer Menschen als Teil von Kollektiven denkt, ist Verfassungsfeind, sagt der Verfassungsschutz - aber meint nur die (in der Tat fragwürdige, weil veraltete) Analyse der Gesellschaft als in Klassen aufgeteilt. Das Volk, das viel einheitliche Kollektiv, scheint nicht das Problem zu sein ...

Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke am 5.5.2024 (BT-Drucksache 19/28956)
Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum „bloßen Objekt“ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der Einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln. Demgegenüber stellt die unbedingte Unterordnung einer Person unter ein Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion eine Missachtung des Wertes dar, der jedem Individuum um seiner selbst willen zukommt. Die Menschenwürde ist egalitär, d. h. sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht (vgl. Schenke, Wolf-Rüdiger, Kurt Graulich, Josef Ruthig [Hg.], Sicherheitsrecht des Bundes, München 2019, S. 1.272).

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