Offener Raum

KRITIK UND OFFENE FRAGEN: DEBATTE UM DIE IDEE FREIER MENSCHEN IN FREIER VEREINBARUNG

Umgang mit Gewalt in einer herrschaftsfreien Utopie


1. Rechte oder Vereinbarungen?
2. Umgang mit Gewalt in einer herrschaftsfreien Utopie
3. Eine Mail - und die Reaktionen
4. Kritik am Christoph Spehrs "Gleicher als andere"
5. Links

Aus Dirk Swaab, "Unser kreatives Gehirn" mit Bezug auf eine Frage von Abel J. Herzberg, wie verhindert werden kann "dass unsere Kinder zu brutalen Mördern werden" (S. 494)
Es wird immer Gehirne geben, die unter entsprechenden Verhältnissen (während eines Krieges oder wenn Menschen aus anderen Gründen Macht über andere ausüben) ihr psychopathisches Verhalten ausleben. Die einzige Antwort, die man ganz im Sinne Herzbergs geben kann, ist daher: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich solche Verhältnisse möglichst selten ergeben.

Thesen zu Gewalt, Gewalt- und Herrschaftsfreiheit
1. Es gibt keinen idyllischen Idealzustand, nur Annäherungen
Auch in einer herrschaftsfreien Gesellschaft wird es Gewalt geben - aber deutlich weniger und einen anderen Umgang damit ... und das ist den Versuch allemal wert. Eine anarchistische Gesellschaft ist nicht cooler, weil sie perfekt ist, sondern weil es dort weniger Gewalt und Herrschaft geben wird und die optimalen Rahmenbedingungen für gewalt- und herrschaftsfreie Konfliktlösung gegeben sind.

2. Gewalttätige Verhältnisse erzeugen gewalttätiges Verhalten
In autoritären, konkurrenzorientie rten Gesellschaften werden Menschen von Geburt an systematisch darauf zugerichtet, Gewalt auszuüben. Wer nicht Respekt vor den eigenen und Grenzen anderer erfahren hat, wird im späteren Leben immer wieder zu Grenzüberschreitungen und Gewaltausübung neigen. Gerade der Umgang mit Kindern ist z.B. extrem gewaltförmig - ständig werden Kids bevormundet, zurecht gewiesen und körperlich angegangen. Viele Grenzüberschreitungen (ungewollte Anmache/Anfassen bis hin zur Vergewaltigung) haben mit der patriarchalen Zurichtung zu tun. Würde diese Zurichtung wegfallen und könnten Menschen selbstbestimmt und gewaltfrei aufwachsen, gäbe es deutlich weniger Gewalt - ob Grenzüberschreitungen, rhetorische Dominanz oder sexualisierte Übergriffe. Ein Aufwachsen ohne Erziehung und Zwang ist eine Grundvoraussetzung dafür.

3. Herrschaftsstrukturen fördern Konkurrenz und Gewaltanwendung
Wo es Herrschaftsstrukturen (Polizei, Knäste, Militär, Justiz usw.) gibt besteht immer auch die Möglichkeit, eigene Interessen gegen den Willen anderer Menschen durchzusetzen. Der größte Anteil von organisierter Gewalt geht von Militär- und Polizeiapparaten aus. Allein die Existenz von Armeen und Massenvernichtungswaffen erhöht die Anwendung von Gewalt. Und wo jederzeit die Polizei zur Verfügung steht, um Widerstand zu brechen, ist es für die jeweils Herrschenden immer möglich, Diskussionen abzubrechen. Wenn es keine Organe zur Herrschaftsausübung mehr gibt und relative Gleichberechtigung hergestellt wird, werden kooperative Lösungsfindungen am wahrscheinlichsten.

4. Institutionen und kollektive Identitäten begünstigen Gewaltanwendung
Die höchste Gewaltbereitschaft ist da, wo Menschen institutionell in extrem autoritäre, militärische Strukturen eingebunden und ihre Gewalt rechtlich abgesichert ist bzw. gesellschaftliche Akzeptanz (z.B. rassistische oder sexistische Diskurse) erfahren - also innerhalb von Polizei- oder Militärapparaten, aber auch in Fascho-Kameradschaften oder Hooligan-Cliquen. Befehlstrukturen oder kollektive Identitäten, die Herausbildung eines Mobs bzw. einer amorphen Masse, welche beide zur Ausschaltung von Individualität und Selbstreflexion führen, fördern Gewalttätigkeit und Brutalität. Verstärkt wird dies insbesondere die Möglichkeit aus der Anonymität der Masse heraus agieren können, die uniformierten PolizistInnen ebenso wie vollmaskierten Nazis gegeben ist - und auch bei vermummten Autonomen sind ähnliche Tendenzen spürbar, wenn diese als Kollektiv oder amorphe Masse handeln (ungeachtet dessen, das Vermummung durchaus sinnvoll sein kann und nicht zwangsläufig solche Effekte produziert). Rassistische Pogrome sind ein extremes Beispiel, zu was Menschen fähig sind, wenn ein Mob entsteht, in dem Nazis und jubelnde BürgerInnen zusammen agieren, d.h. kollektive Identitäten sich mit gesellschaftlich breiter Akzeptanz für Gewalt gegen Schwächere paart.

5. Bestrafen und Wegsperren machen alles noch schlimmer
Alle Formen Bestrafung sind Herrschafts- bzw. Gewaltdurchgriffe, die weitere Gewalt schaffen. Insbesondere Knast reißt Menschen aus ihrem sozialen Zusammenhang und unterwirft sie einem völlig stupiden, fremdbestimmten Tagesablauf - die Kontakte zur Außenwelt brechen bei längeren Haftstrafen ab, der Knast wird zur „Ersatzfamilie“ ... mit dem „normalen“ Leben kommen viele Knackis nicht mehr klar, weshalb die Rückfallquote extrem hoch ist. Nirgends wird so viel Gewalt ausgeübt wie im Knast, nirgends so viel vergewaltigt. Auch Rassismus, Sexismus und Mackerigkeit - die im Knast absolut prägend sind - werden hier gefördert. Insofern ist Repression keine Lösung, sondern Teil des Problems. MassenmörderInnen werden zwar medial als Bedrohung konstruiert, aber die meisten Morde sind im Übrigen ungeplante Affekthandlungen, die im privaten Rahmen statt finden und daher nicht von der Polizei verhindert werden könnten. Diese Morde bleiben in der Regel Einzelfall - der oder die MörderIn ist selbst häufig so geschockt von der Tat und wird das restliche Leben damit beschäftigt sein, das zu verarbeiten.

6. Direkte Intervention statt Stellvertretung und Bestrafung
In einer herrschaftsfreien Gesellschaft zählen weder Institutionen noch plenare Debatten, sondern das beherzte, unmittelbare Eingreifen bei Gewalt und Diskriminierung. Direkte Intervention umschreibt dabei das Sich-Positionieren, zur Rede stellen usw. Wo Gewalt, sexistisches Verhalten usw. sofort auf den Protest vieler trifft und nicht mehr durch das Schweigen der Masse gedeckt wird, ist viel eher wahrscheinlich, dass Denkprozesse einsetzen und Menschen ihr Verhalten auch ändern werden. Direkte Intervention ist eine wichtige Methode, die auch heute schon ausprobiert werden kann, auch wenn die Rahmenbedingungen immer wieder Rückfälle usw. produzieren.

7. Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit aller
In einer Gesellschaft, wo es keine anonymen Institutionen mehr gibt, „die es schon regeln werden“ und Menschen ihr Verhältnis zueinander direkt klären, ist es sehr wahrscheinlich, dass alle Menschen mit sehr viel mehr Aufmerksamkeit für Gewalt und herrschaftsförmiges Verhalten durchs Leben wandeln, frühzeitig mitbekommen, wo Prozesse schief laufen und direkt intervenieren statt auf andere zu hoffen. Auch das Verhältnis der Menschen zueinander wird insgesamt viel weniger anonym sein.
(aus einer Mail der Hoppetosse-Mailingliste, Absender: espi, 23.5.2003)

Gewaltfreie Utopie

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Wie schon erwähnt, kennzeichnete Kant die Anarchie als "Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt", die "wahre bürgerliche Verfassung" hingegen als "Gewalt, mit Gesetz und Freiheit."(1980,686). Die Gewaltlosigkeit unterscheidet damit die Anarchie von der "bürgerlichen Verfassung".
Das Gesellschaftsideal der Anarchisten wäre demgemäß mit dem Ideal der Gewaltlosigkeit bestimmbar. Auch Malatesta, ein italienischer Anarchist und Syndikalist, unterscheidet mit dem Kriterium der Gewaltlosigkeit die Anarchisten von den Marxisten, Sozialisten und Liberalen: "Anarchie bedeutet Gewaltlosigkeit, bedeutet Nicht-Herrschaft des Menschen über den Menschen, Nicht-Zwang durch die Gewalt ( ... ) Was jedoch die Anarchisten von allen anderen unterscheidet, ist gerade der Abscheu der Gewalt, der Wunsch und das Ziel, die Gewalt, das heißt die materielle Gewalt, aus den Beziehungen der Menschen untereinander zu verbannen." (Malatesta 1980, 166 f.) ...
(S. 61 f.)

Umgang mit Gewalt: Alternativen zur Strafe

Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin (S. 75)
Können, wollen wir ohne Polizei und Gefängnisse leben? Die Antwort darauf kann die Theorie nicht geben. Was klar ist, ist der Interpretationsrahmen: gescheiterte Kooperation. Wir weigern uns z.B., in einer gesellschaftlichen Kooperation mit einem Mörder zu leben, und da es zur Gesellschaft als ganzer keine vergleichbaren und vertretbaren Alternativen gibt, müssen wir mit dieser Situation umgehen und uns so weit trennen, wie es geht. Der Betreffende kann sich dabei auf seinen Anteil am historisch-kollektiven Reichtum der Gesellschaft berufen; es ist keine Nettigkeit von uns, dafür zu sorgen, dass die Umstände der Separation möglichst gut sind. Der Interpretationsrahmen ist nicht: Strafe, Vergeltung, auch nicht Resozialisierung oder Erziehung. Dies steht uns nicht zu. Wir können Angebote machen, wie wir uns eine Kooperation wieder vorstellen können, unter welchen Bedingungen; oder wir können konkrete Kooperationen suchen, die den Betreffenden unter bestimmten Bedingungen aufnehmen. Wir sind angehalten, solche Angebote zu machen, weil es keine vergleichbare und vertretbare Alternative zur jeweiligen Gesellschaft als ganzer gibt.43 Klar ist auch, dass im Fall von Ladendiebstahl bestenfalls die Kooperation mit einem konkreten Supermarkt als gescheitert angesehen werden kann (jedenfalls aus Sicht des Supermarkts).


Gewaltfetisch von offizieller Seite: Früher Drill ...
Aus der Broschüre "Sport und Gewalt" der Polizei und des TSV Kirchhain


Links zur Gewaltfrage

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