Stiftung Freiräume

WAS IST DER MENSCH?

Was prägt den Menschen?


1. Warum die Frage?
2. Was prägt den Menschen?
3. Abhängigkeit, Geborgenheit, Losgelöstsein
4. Fluchten: Die Matrix der Geborgenheit
5. Kollektive Identitäten als Ersatz-Vergewisserung
6. Statt Fluchten: Subjekt des eigenen Lebens werden
7. Entfesselte Autonomie?
8. Buchvorstellungen zum Themenbereich

Religionen, Ideologien, spirituelle bis esoterische Theorien - sie alle produzieren ein Bild des Menschen: Wie er ist, wie er sein soll, welche Wege dahin führen, woraus er seine Kraft schöpft usw. Ebenso ringen verschiedene Wissenschaftssparten um Antworten auf die Fragen nach dem Menschen und dem Sinn seines Lebens, von der Philosophie über Psychologie bis Anthropologie. Alle dort aufgeworfenen Themen zu klären oder auch nur den Stand der Diskussion nachzuzeichnen, würde dieses Kapitel sprengen. Für die Idee der Herrschaftsfreiheit sind aber einige zentrale Fragen von besonderer Bedeutung. Bevor es daher in der Entwicklung der Theorie weitergeht, bevor Entwürfe für eine herrschaftsfreie, den Menschen in der Selbstentfaltung fördernden Gesellschaft formuliert werden werden, seien diese mit einigen Klärungen hier aufgeführt.

Gut oder schlecht - welches Menschenbild liegt zugrunde?
Regeln, Gesetze, der ganze Staat und alle Entscheidungen mit Durchsetzungsmacht legitimieren sich aus der Annahme, dass Menschen nicht zu trauen ist. Sie müssen angeblich kontrolliert und ihr wildes Leben eingehegt werden, sonst würde mindestens Chaos, wenn nicht Mord und Totschlag auftreten.

Nun gibt es für die Behauptungen, dass "der Mensch des Menschen Wolf" (Hobbes) ist oder auch, zurückhaltender formuliert, sein im Überlebenskampf nützlicher Egoismus zwangsweise mit einem konkurrierenden Verhalten gegenüber anderen verbunden ist, keinerlei belastbare Quellen. Das dürfte auch schwierig sein, denn ein Experiment müsste ja Menschen voneinander isolieren, damit sie sich in ihrer "Natur" entwickeln. Um das dann auch statistisch abzusichern, müsste es ein umfangreicher Menschenversuch sein. Die Abschottung müsste viel totaler sein als in der Legende von Kaspar Hauser, der ja nicht von einer Stillmaschine ernährt oder vollautomatisch gewickelt wurde. Zum Beleg der These des von Natur aus bösen Menschen aber taugt Kaspar Hauser ohnehin nicht, denn er war selbst vor allem "unterentwickelt", aber nicht gewalttätig oder unterdrückend. Stattdessen wurde er erschlagen - mutmaßlich von Personen, die nicht isoliert, sondern im Gehege der Zivilisation aufgewachsen waren.
Obwohl es also Beweise nicht gibt, baut die Theorie moderner Staaten stark auf die Annahme des Menschen auf, der dem anderen Menschen Schlechtes will. Auch heute wird Menschen ständig Angst voreinander gemacht - sei es in den modernen Märchen der allgegenwärtigen Kriminalität oder im Wirtschaftsleben, wo sich Menschen als KonkurrentInnen um Marktanteile, Ressourcen oder Arbeitsplätze begegnen. In einer Welt, in der jedeR jedeN fürchtet, inszeniert sich der Staat als Hoffnungsträger und Garant für ein friedliches Zusammenleben - eine Propagandanummer, die bislang richtig gut zieht.

Im Original: Staat als Menschenschützer?
Aus Bakunin, Michael A., "Der Staat - das ist ein Gefängnis"
Der Staat hat nicht nur die Aufgabe, die Sicherheit seiner Bürger gegen alle Angriffe von außen zu verteidigen, er muss im Inneren seine Bürger auch voreinander und jeden vor sich selbst beschützen. Denn der Staat - und dies ist sein grundlegender Charakterzug -, jeder Staat, wie auch jede Theologie, setzt voraus, dass der Mensch seinem Wesen nach schlecht ist.

Aus "Anarchie - eine Einführung" (Faltblatt ohne AutorInnenangabe)
Menschen sind weder gut noch schlecht. Eigentlich jämmerlich, dass die Philosophen sich Jahrhunderte über diese Frage zerstritten haben. Die Versuche, überhaupt in diese Binärität einzuordnen, haben alle zum Ziel, dem Menschen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben und diese als naturgegegebene Wahrheit zu deklarieren, um bestimmte Meinungen (wie der Mensch lebe von Natur aus in Konkurrenz) zu stärken. Vielmehr sind die Handlungen eines Menschen daran orientiert, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen - ein egoistischer Mensch also. Die tatsächlich entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen ist aber: Wie handeln Menschen unter welchen Bedingungen ...?
Unter Konkurrenzbedingungen die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen heißt, sie auf Kosten Anderer zu erfüllen, Anderen etwas wegzunehmen (zu privatisieren) und die negativen Folgen auf Andere abzuwälzen. Wie aber würde ein Mensch dann aber unter Bedingungen handeln, unter denen nicht Konkurrenz, sondern freie Zusammenarbeit am effektivsten die eigenen Bedürfnisse erfüllt?
Anarchie bedeutet, genau diese Bedingungen zu schaffen, einen gesellschaftlichen Rahmen bereitzustellen, in dem Menschen ihre Bedürfnisse in freier Kooperation und unter Absprache mit allen an diesem Prozess Beteiligten erfüllen können.

Aus "Herrschaftsfreiheit oder gerechte Herrschaft?" in: Otfried Höfe (1979): Ethik und Politik, Suhrkamp (S. 405f)
Das ist unbestritten: Jede politische Ordnung, auch eine durch und durch gerechte, also keineswegs eine die Menschen ausbeutende, unterdrückende oder gar versklavende Ordnung, enthält Gesetze (Gebote und Verbote), die sich auch gegen den erklärten Willen von Betroffenen richten und sich notfalls mit Zwang bzw. unter Androhung von Sanktionen Geltung verschaffen. Man braucht nur an die Leib und Leben der Bürger schützenden Strafgesetze zu denken. Insofern eine politische Ordnung aus öffentlichen Gewalten besteht, in den neuzeitlichen Demokratien aus Legislative, Exekutive und Jurisdiktion, insofern durch sie Gesetze erlassen und ausgeführt werden, ist jede politische Ordnung eo ipso ein System der Unterdrückung. Durch eine Herrschaftsordnung wird aber die absolute (Willkür-)Freiheit von jedermann beeinträchtigt, was keiner gern hinnimmt. So gesehen ist der immer wieder neue Entwurf von Sozialutopien, die auf jegliche Herrschaft verzichten, nur "natürlich". Aber: Halten solche "konkreten Utopien" "herrschaftsfreier Kommunikation" (so auch Habermas, Apel, R.P.Wolff) einer näheren Analyse stand?
Im Gegensatz zu Sozialutopien marxistischer und nicht marxistischer Herkunft, im Gegensatz zur Vorstellung, politische Ordnung und damit Herrschaft seien für den Menschen entweder grundsätzlich oder wenigstens unter bestimmten Lebensbedingungen überflüssig, läßt sich zeigen, dass die Anwendungsbedingungen von Prinzipien politischer Gerechtigkeit für den Menschen grundsätzlich gegeben sind. Denn sie sind mit allgemeinen Bedingungen des Menschseins als solchen (der "Natur" des Menschen) und gleicherweise allgemeinen Beurteilungskriterien untrennbar verknüpft. Deshalb ist dieser Schluß unumgänglich: Ein vernünftiges, ein humanes Zusammenleben ist für den Menschen nicht bloß unter seinen bisherigen subjektiven und objektiven Lebensbdingungen, sondern in jedem Fall ohne eine politische, ohne eine Herrschaftsordnung nicht möglich. Die Legitimation von Prinzipien der politischen Gerechtigkeit und ihre Anwendung in der politischen Welt wird die Menschen so lange beschäftigen, wie es sie überhaupt gibt.

Aus Rolf Cantzen (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 17 f.)
Folgende Positionen zeichnen sich im Zusammenhang des uns gestellten Problems ab:
- ein "schlechter" Mensch braucht einen "guten" Staat, um in Gesellschaft friedlich miteinander leben zu können
- ein durch seine gesellschaftlich-soziale Umwelt determinierter Mensch wird schließlich zum "guten", wenn der "gute" Staat unter Mithilfe von Eliten die Gesellschaft für die Bevölkerung entsprechend gestaltet
- ein "guter" Mensch braucht keinen Staat, der ein friedliches und geordnetes Zusammenleben ermöglicht. ...
Schon Hobbes begründete im 17. Jahrhundert die Notwendigkeit des Staates damit, dass "der Mensch des Menschen Wolf" sei und dass aufgrund der egoistischen und unsozialen Naturanlagen des Menschen die Gesellschaft eines mächtigen Kontrolleurs bedürfe.


Die Propaganda des angeblich bösen Menschen als Legitimation von Kontrolle und Sanktion krankt aber nicht nur an der willkürlichen Annahme, dass der Mensch schlecht sei, sondern verfällt auch noch in einen zentralen logischen Fehler: Warum sollten, wenn Menschen von Natur aus schlecht sind und kontrolliert werden müssen, Kontrolle und Herrschaft eigentlich funktionieren? Schließlich wird die auch von Menschen ausgeführt, die zudem dann in ihrer Position nicht kontrolliert und beherrscht werden!

Aus Ilija Trojanow, "Freiheit, Skepsis, Totenkopf" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 12)
Die herkömmliche Binsenwahrheit muss auf den Kopf gestellt werden: Der Mensch ist zu schlecht, um gütig und uneigennützig über seine Mitmenschen zu herrschen, er kann nicht weise und abgeklärt mit den eigenen Privilegien umgehen. Wer an das Schlechte im Menschen glaubt, der müsste erst recht ein System der Gewaltenteilung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens propagieren, der müsste sich rigoros die Überwindung von Macht und Hierarchie auf die Fahnen schreiben.


Die Kritik darf aber nicht in die gegenteilige Behauptung verfallen, dass der Mensch von Natur aus gutmütig sei. Denn es auch dafür gibt keinerlei Beweise - aus den gleichen genannten Gründen, dass eine solche Erforschung mit statistischer Absicherung kaum möglich erscheint. Selbst die Zwillingsforschung wäre, auch wenn sie belastbare Ergebnisse über den Werdegang zweier Menschen mit gleicher genetischer Grundlage liefern würde, mit Vorsicht zu genießen, denn schon die neun Monate im Mutterbauch sind sozialer Einfluss, also in dem Sinne nicht mehr "Natur". Was überhaupt "Natur" ist, stellt sich zudem als Frage. Meist sind damit die Gene gemeint - aber die sind, wie das vorherige Kapitel zeigen sollte, gar keine so starre Angelegenheit, dass sie als Kochbuch für das spätere Leben herhalten könnten.
Hinzu käme eine weitere Schwierigkeit in der Definition von gut und schlecht. Diese Kategorien speisen sich in ihrem Inhalt aus dem jeweiligen Diskursen einer Zeit, sind als veränderbar und steuerbar. Die Frage, ob Menschen von Natur aus gut oder schlecht sind, ist wenig sinnvoll, weil mensch nicht etwas von Natur aus sein kann, was gar nicht durch die Natur bestimmt ist, sondern gesellschaftlich. Im Wandel des Begriffsinhaltes von "gut" und "schlecht" müsste sich sonst die Antwort mit verändern.

Letztlich hat die Frage für die Idee emanzipatorischer Gesellschaftsgestaltung keine Relevanz, wie noch gezeigt wird. Vorher soll es um einen weiteren großen Streitpunkt der Debatte "Was ist der Mensch?" gehen.

Der Mensch - ein Produkt der Natur oder der Kultur?
Steuern die Gene (plus eventuell ebenso beteiligter anderer Stoffe in den Zellen des Menschen) oder die äußeren Bedingungen, also die sozialen Einflüsse während des Lebens, die Persönlichkeit eines Menschen? Ist der Mensch bei Zeugung oder Geburt ein unbeschriebenes Blatt, dass durch die dann folgenden Einflüsse geformt wird oder bringt er mehr oder weniger Bestimmung schon mit? Auch diese Frage beschäftigt sein Jahren Anthropologie, Psychologie und Philosophie. Eine experimentelle Beantwortung scheidet erneut aus. Vergleiche können zwar gezogen werden, z.B. wieder in der Zwillingsforschung, aber nur mit begrenzter Aussagekraft, denn sowohl der materiell codierte Ausgangspunkt wie auch die Komplexität sozialer Einflüsse sind nur schwer messbar.
Zudem lassen sich die Sphären nicht trennen, denn die körperliche Ausstattung von Menschen, die angesichts der Ähnlichkeit zwischen den Menschen zumindest auch einen gemeinsamen, materiell codierten Ursprung hat, beeinflusst die Art, wie soziale Beziehungen entstehen, Informationen aufgenommen und verarbeitet werden. Das gilt ebenso anders herum, denn das äußere Geschehen und die Lebensweise eines Menschen wirkt sich auf dessen körperliche Konstitution aus - von der Muskulatur bis zur Struktur und Arbeitsweise des Gehirns.
Evolutionär gesehen ist Kultur eine Form der Organisierung auf der Basis des Lebens, welches wiederum die materielle Grundlage verändert. Kultur ist selbst eine Ausdrucksform des Materiellen und bildet sich im Materiellen ab. Materie, Leben und Kultur sind im Menschen gleichzeitig verwirklicht und jeweils unersetzlich. Bei Materie und Leben ist das unmittelbar einleuchtend, die Fähigkeit zur kulturellen Entwicklung ist aber das typisch Menschliche und daher als Bestandteil des Menschseins ebenfalls nicht wegzudenken.

Im Original: Besonderheiten der menschlichen Natur
AUs Erich Fromm, "Haben oder Sein" (S. 132)
Angesichts dieser Fakten kann die Spezies Mensch als jener Primat definiert werden, welcher an dem Punkt der Evolution auftrat, als die instinktive Determinierung ein Minimum und die Entwicklung des Gehirns ein Maximum erreicht hatte.

Aus Günter Dux, "Die Logik der Weltbilder" (S. 43)
Wenn bei höherentwickelten Lernleistungen eingefügt werden, so unzweideutig auf Kosten der instinktíven, d.h. genetisch bereits festgelegten Anteile am Verhaltensablauf. ...
Es hat schlechterdings keinen Sinn zu sagen: die Vielzahl der kulturellen Verhaltensweisen sei dem gleichen instinktiven Unterbau aufgepfropft Wo ist der instinktive Unterbau? Wo ist die Vielzahl der Verhaltensregulierungen, die auch ohne kulturelles Lernen sich ausbildeten? Und wie sehen sie aus?
In Wahrheit ist das, was geblieben ist, der rudimentäre Rest einiger weniger Formen, die ausreichen, um den Prozeß des Lernens in Gang zu setzen, und darüber hinaus einige eng der Körperzone verhaftete Ausdrucksweisen. Alles andere ist gerade genetisch nicht geformt. ...
Der Mensch ist das am meisten lernfähige und lernbedürftige Wesen. So umfassend seine Lernfähigkeit, so umfassend die Reduktion seiner instinktiven Fixierungen im Innen-Außen-Schema.


Aus Schlemm, Annette: "Wie kommen wir auf eine menschengerechte Weise zu einer menschengerechten Gesellschaft?"
Menschliches Sein geht über das Tierische hinaus durch:
  • Entwickelte psychische Fähigkeiten und kulturelle Traditionen (besonders im Zusammenhang mit der möglichen und notwendigen "Durchbrechnung der Unmittelbarkeit" – der Entwicklung von kognitiver Distanz und planendem Denken);
  • Typisch menschliche Bedürfnisse sind nicht mehr nur Beseitigung individueller Mangelzustände, sondern beinhalten eine kooperativ-vorsorgende Schaffung und Aufrechterhaltung von günstigen Lebensbedingungen (Hungerhilfe ist deshalb nur dann wirklich human, wenn nicht nur Nahrung verteilt wird zur unmittelbaren Tilgung von Hunger, sondern die Menschen die Möglichkeit bekommen, sich selbst zu versorgen);
  • Jedes Individuum will sich selbst erhalten, d.h. reproduzieren. Das heißt für Menschen, dass sie über seine eigenen Lebensbedingungen verfügen wollen – was gleichzeitig bedeutet: teilzuhaben an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß. Diese Möglichkeit des Menschen, (nur) über die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß seine eigene Existenz zu reproduzieren, wird "Handlungsfähigkeit" genannt (Holzkamp 1983/85, S. 241). Die Aufrechterhaltung/Ausweitung der Handlungsfähigkeit ist das grundlegendste menschliche Bedürfnis.
  • Es gibt keine nicht-gesellschaftlichen Menschen. "Ein Mensch ist kein Mensch". Jeder Mensch hat das Gesellschaftliche in sich. Jeder Mensch ist natürlicherweise immer gesellschaftlich.
  • Menschliche Freiheit ist deshalb nicht ausgehend von gedachten vereinzelten Individuen zu diskutieren und zu definieren, sondern von vornherein als gesellschaftliches Phänomen: "Die Gemeinschaft der Person mit anderen muss daher wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden.." (Hegel 1801, S. 82).

Aus Graswurzelrevolution (Hrsg., 1999): "Gewaltfreier Anarchismus", Heidelberg (S. 86 f.)
Was aber ist "der Mensch", wenn nicht die Idee meiner selbst? Wie bewegt sich die Menschenmasse, wenn nicht jede/ r einzelne Schritte macht? Es ist sicher nicht anmaßend zu behaupten, dass der dergrößte Teil der Menschheit in etwa folgende Vorstellung vom guten Leben hat: etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf, sich den Neigungen gemaß entfalten, in einer selbstgewählten Gemeinschaft von Menschen leben, denen er/sie emotional zugetan ist. Das ist ein bescheidener Traum vom Glück, frei von Aggressivität und nicht unvereinbar mit demselben Traum einedeiner anderen. Die natürlichen Ressourcen stellen für jeden auf der Welt lebenden Menschen die Möglichkeit bereit, sich diese Wunsche zu erfüllen. Warum leben die Menschen ganz anders? Wenn wir es uns leicht machen wollen, antworten wir, der Mensch sei schlecht, d.h. egoistisch, trage, mindestens latent aggressiv und nicht fähig, mit seinesgleichen in Frieden zu leben. Die Gemeinschaft muss den/die Einzelneh letztlich zwingen, ein soziales Wesen zu sein, weil sonst nichts herrschen würde als das Recht des Stärkeren, häufig genug mißverstanden als 'Anarchie'.
Wir haben in diesem Jahrhundert mehrere Ansätze erlebt, eines planvollen Staates zu wandeln - und lernen müssen, den individuellen Wildwuchs in die geordnete Harmonie, dass das höchste Maß an Ordnung auch die größte Grausamkeit hervorbringt. Warum wehren sich die meisten Menschen so hartnäckig, diese offensichtliche Tatsache anzuerkennen?


Aus Niels Boeing, "Rip, Mix & Fabricate" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 188)
Anders als Arendt sehe ich den Menschen als "zóon technikón": ein Wesen, das die Welt nach seinen Bedürfnissen umgestaltet. Das tun zwar auch manche Tierarten, doch anders als sie kann der Mensch neue Bedürfnisse entwickeln ob unsinnig oder nicht, spielt hier erst einmal keine Rolle. Neue Bedürfnisse entspringen auch Dingen, die er zuvor gebaut hat, um ursprünglichere Bedürfnisse zu befriedigen. Diese fortwährende Umgestaltung der Welt durch den Menschen ist für mich die Essenz von Technik, und sie ist, von urzeitlichen Anfängen vielleicht abgesehen, immer auch rekursiv: Sie gibt auch Antworten auf Fragen, die sie selbst erst aufgeworfen hat.

Ob gut, ob böse, ob Natur oder Kultur - Herrschaftsfreiheit ist immer richtig!
Wir können die Fragen, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist und wie hoch überhaupt der Anteil ist, der durch die unter anderem in den Genen codierte Anfangsausstattung vorgegeben ist, aber einfach beiseite lassen. Der Streit um die Natur des Menschen mag weitergehen, noch Generationen von PhilosophInnen und VerhaltensforscherInnen dürfen gerne ihre Debatten ins Unendliche fortsetzen. Für die gesellschaftliche Praxis der Emanzipation ist sie aber völlig unbedeutend. Denn was auch immer der Ausgangspunkt ist, d.h. ob Menschen nun vermeintlich als gute oder böse Wesen ins Leben starten, ob sie als unbeschriebenes Blatt oder genetisch codiert daherkommen, spielt keine Rolle mehr, wenn als Ziel besteht, dass sich Menschen mit ihren Fähigkeiten gleichberechtigt entfalten. Denn ob jedeR Einzelne eher von der Entfaltung oder von der Unterdrückung Anderer Nutzen hat, wird das Verhalten beeinflussen unabhängig vom Ausgangspunkt.
Wer Emanzipation zum Ziel hat, wird also immer auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die daraus folgende soziale Zurichtung von Menschen schauen. Würden Menschen, was sich zur Zeit abzeichnet und angesichts der dominanten gesellschaftlichen Kräfte und Diskurse einige Sorgen bereiten kann, die Codierungen z.B. in den Genen gezielt verändern, so wäre das eine kulturelle Handlung und nicht mehr die definierte Natur des Menschen.
Wer im eigenen Leben erlebt, dass die ständige Konkurrenz Nachteile bringt, während das Anwachsen eines gemeinsamen Reichtums an Wissen, Ideen und Ressourcen, gegenseitige Hilfe und Kooperationen Vorteile bringen, wird dazu neigen, sich in dieser, für ihn/sie nützlicheren Weise zu verhalten. Egoismus als Antrieb und Gemeinnutz als Effekt fallen dann zusammen. Verhältnisse hingegen, die einzelnen Menschen ermöglichen, sich Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen, ohne eigene Nachteile fürchten zu müssen, sind das Gift für eine solche Gesellschaft. Sie fördern konkurrierendes Verhalten und machen das Handeln des Einen zum Nachteil der Anderen. Genau diese Bedingungen herrschen dort, wo Macht ausgeübt wird. Beeinflusst davon sind alle - egal ob sie als gute oder schlechte, biologisch festgelegte oder freie Wesen gestartet sind.

Es geht also immer darum, gesellschaftliche Verhältnisse so zu organisieren, dass sie Selbstentfaltung und Kooperation fördern - unabhängig vom Ausgangspunkt guter, schlechter oder gar nicht festgeschriebener Menschen. Hinzu kommt, das erstens manches dafür spricht, dass für das soziale Verhalten der natürliche Einfluss vor allem der Gene gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen den geringeren Einfluss hat. Zweitens sind die Codierungen der Vererbung als hochkomplexe, dynamische Materie selbst mehr Einflüssen ausgesetzt als das starr materialistische Bild der Welt vorgaukelt. Die Zweifel an der Unabänderlichkeit der Chromosomen mehren sich - für Wissende um die Dynamik von Materie sicher keine Überraschung.
Es spricht also alles dafür, die sozialen Verhältnisse zu verändern und so die Befreiung des Menschen zu erreichen. Denn die soziale Zurichtung wirkt stark und schreibt sich im materiellen Körper fest: Wer täglich eingebläut bekommt, dass das Leben ein Daseinskampf ist und die besten sich die Vorteile und Ressourcen sichern, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit als normal empfinden, sich genau so zu verhalten. Was ihm seine Gene mitgegeben haben, spielt keine Rolle mehr. Wer aber lernt und selbst auslebt, dass das Leben reicher ist, wenn neben eigenen Fähigkeit auch alle anderen Menschen ihre Fähigkeiten frei entwickeln können, wird es ebenso als normal empfinden, dass alle Menschen ihre Freiräume behalten und sich nicht gegenseitig kommandieren.

Individuum und/oder soziales Wesen?
In den vielen Debatten, Büchern und philosophischen Darstellungen zum Menschen taucht als weitere Frage auf, ob der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, also auf Gemeinschaft oder Kooperation orientiert ist, oder ob er eher ein Einzelgänger ist, der sich mit anderen zusammenschließen kann, aber nicht muss. Die Frage zerfällt in einen praktischen und einen theoretischen Teil. Von der Theorie läuft die Frage auf ein klares Ja zum sozialen Wesen hinaus. Denn wenn als typisch menschlich die kulturelle Evolution auf der Basis der vorherigen stofflichen Entwicklung und dann der des Lebens definiert wird, dann gehört zum Menschen der Austausch mit anderen Menschen - denn Kultur ist immer auch Kommunikation.
Aus der Praxis ergibt sich die gleiche Antwort: Der Mensch ist die ersten Jahre seines Lebens gar nicht allein überlebensfähig. Er wächst zwangsweise in einer Umwelt auf, die selbst dann, wenn andere Menschen darin nicht (mehr) leben würden, von menschlicher Schaffenskraft gestaltet wurde. Es würde also auch für eine Person, die sich irgendwann zum völligen Rückzug aus menschlichem Zusammenleben und -wirken entschließt, gelten, dass die mit Anderen aufgewachsen ist und in der von Anderen geprägten Welt lebt.

Im Original: Soziale Interaktion ist wesentlich
Aus Erich Fromm, "Psychoanalyse und Ethik" (S. 116)
... jeder braucht Hilfe, und jeder ist vom andern abhängig. Ein menschliches Zusammengehörigkeitsgefühl ist die notwendige Voraussetzung für die Entfaltung der Individualität.

Aus Klaus Roth, Interpretation zu Aristoteles in: Massing, Peter/Breit, Gotthard (2002): „Demokratie-Theorien“, Wochenschau Verlag Schwalbach, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (S. 41)
Aristoteles begreift den Menschen als zôon lógon echón, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, sowie als zôon politikón, als ein politisches Lebewesen, das seinen Sinn und Zweck (télos) nicht in sich selbst, sondern nur in der Interaktion und Kooperation mit seinesgleichen finden kann (Politik I, 1253 a 2 f.; III, 1278 b 19 ff.)

Aus Höfe, Otfried (1979): „Ethik und Politik“, Suhrkamp Verlag in Frankfurt
Einerseits steht der Mensch zwar im Unterschied zu reinen Naturwesen unter mannigfachen biologischen, dann auch psychologischen und soziokulturellen Bedingungen. Keineswegs ist er absolut frei im Sinne von "indeterminiert". Durch diese Bedingungen ist er aber weder vollständig noch eindeutig festgelegt. Er kann sich vielmehr in ein Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen setzen und kraft Selbstverständnisses die Bedingungen benennen und beurteilen, er kann sie sich aneignen und schöpferisch erarbeiten, er kann sie anerkennen oder verwerfen und sich gegebenenfalls um ihre Veränderung bemühen. Während Tiere durch spezialisierte Organe und ererbte Verhaltensreaktionen (Instinkte) umweltgebunden sind, ist der Mensch - negativ formuliert - in seinem Organ- und Instinktbereich verunsichert und deshalb den natürlichen Widrigkeiten und Feinden zunächst weitgehend schutzlos ausgeliefert. Doch bedeutet dies zugleich und damit positiv gewendet, dass er - ohne Erbmotorik und mittels vielseitig verwendbarer Organe - seiner Natur nach ein weltoffenes, ein plastisches Wesen mit einem ungewöhnlich weiten Spielraum ist, innerhalb dessen er als einzelner, als Klein- oder Großgruppe unterschiedlich sich entwickeln und tätig werden kann. Mit Sprache und Vernunft begabt, kann der Mensch überlegen und wählen, kann er sich Vorstellungen vom Lebens notwendigen, vom Angenehmen, Nützlichen sowie vom Guten und Gerechten machen; er kann sich Zwecke setzen, die solchen Vorstellungen entsprechen, und kann durch sein Tun und Lassen die Zwecke zu realisieren trachten. In diesem Sinn ist er ein praktisches Vernunftwesen. Bei der Realisierung der Zwecke kann er erfolgreich sein oder auch seine Zwecke verfehlen, sei es aufgrund widriger Umstände, sei es aufgrund konkurrierender Zwecke. Er kann methodische Verfahren zur Realisierung seiner Zwecke entwickeln und die Verfahren zu Fertigkeiten, zu Künsten und Wissenschaften ausbilden. ...
(S. 407)
Zu einem konkreten Menschen wird man nicht durch biologische Faktoren einerseits und eine gesellschaftlich geschichtlich abstrakte Vernunft andererseits. Man wird es erst durch vielfältige und auch unterschiedliche kulturelle Vermittlun gen, so dass die Variabilität zur Natur des Menschen, so dass die Nichtkonstanz zu den anthropologen Konstanzen grundsätzlich hinzugehört. Der Mensch ist ein offenes, ein dynamisches Ganzes.
(S. 409 f.)

"Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 11)
Sehr unterschiedliches Gewicht hat die Rolle des Individuums. Das hängt natürlich damit zusammen, wie das Wesen der Individualität des Menschen theoretisch gefaßt wird. Das reicht von der radikalen Sicht des Individuums als Einzelnem bei Stirner - ein Wesen, von dem es schwerfällt, es überhaupt als "politikfähig" zu begreifen - über die Varianten des individualistischen Anarchismus, bei dem die Individuen den Staat durch freiwillige Zusammenschlüsse ad absurdum führen, bis zu - implizit oder explizit dargelegten - Vorstellungen einer revolutionären Individualität, die im Grunde in Kollektiven aufgeht. Gerade die anarchistische Pädagogik setzt sich immer wieder und an zentraler Stelle mit diesem Spannungsverhältnis auseinander.

Aus Fromm, Erich (1985): "Über den Ungehorsam", dtv München
Die Gesellschaft besteht aus Menschen, und jeder Mensch ist mit einem Potential leidenschaftlicher Strebungen - archaische und progressive - ausgestattet. Dieses menschliche Potential als Ganzes wird von der Gesamtheit der ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte geformt, welche für die jeweilige Gesellschaft kennzeichnend ist. Diese Kräfte des gesellschaftlichen Ganzen erzeugen ein bestimmtes gesellschaftliches Unbewußtes und bestimmte Konflikte zwischen den verdrängenden Faktoren und den vorhandenen menschlichen Bedürfnissen, die für ein gesundes Funktionieren des Menschen wesentlich sind (etwa ein bestimmter Grad von Freiheit, Anregung, Interesse am Leben und Glück). Tatsächlich kommen - wie bereits erwähnt - in Revolutionen nicht nur neue Produktivkräfte zum Ausdruck, sondern auch der verdrängte Teil der menschlichen Natur. Revolutionen verlaufen darum nur dann erfolgreich, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Die Verdrängung, ob sie nun individuell oder gesellschaftlich bedingt ist, entstellt den Menschen, sie fragmentiert ihn, beraubt ihn seiner vollen Menschlichkeit. Das Bewußtsein repräsentiert den "gesellschaftlichen Menschen", wie er von der jeweiligen Gesellschaft geprägt ist; das Unbewußte repräsentiert den universalen Menschen in uns, den guten und den schlechten Menschen, eben den ganzen Menschen, ... (S. 35)

Dürr, Hans-Peter (2010): „Warum es ums Ganze geht“, Ökom in München (S. 145)
Die Höherentwicklung des Lebendigen durch eine Kombination aus Differenzierung und kooperativem Zusammenspiel von Verschiedenartigem ergibt eine neue Ganzheit, ein neues "Holon". Auch der Mensch ist so ein Ganzes, das eine gewisse Abgeschlossenheit hat. Aber wenn wir sehen, wie viel Gegensätzliches in uns wirkt, auf wie vielen Ebenen wir immer wieder dieses Gleichgewicht herstellen müssen, dann offenbart sich hier eine hoch integrierte, globale Struktur des Systems. Globalisierung ist also an sich nichts Bedrohliches, im Gegenteil, sie ist notwendig, um eine höhere Entwicklungsstufe zu erreichen, vorausgesetzt, dass Verschiedenartigkeiten zu einem Plussummenspiel führen. Dieses muss sich nicht nur für alle verständlich und verträglich erweisen, sondern in diesem Spiel muss der Vorteil des einen auch zum Vorteil der anderen werden. Es kann nicht eine Gruppe von Menschen behaupten, diese oder jene Eigenschaft wird deshalb globalisiert, weil sie wichtiger oder wertvoller ist als anderes, was dann unterdrückt und als störend behandelt wird.

Dürr, Hans-Peter (2010): „Warum es ums Ganze geht“, Ökom in München (S. 167)
Wir müssen unser Denken erweitern und unser jetziges Verhalten grundlegend korrigieren. Hierbei können gerade die revolutionär erweiterten Einsichten der neuen Physik einen hilfreichen Einstieg liefern. Sie besagen, dass der einzelne Mensch, wie alles andere auch, prinzipiell nie isoliert ist. Er wird im allverbundenen Gemeinsamen in seiner nur scheinbaren Kleinheit zugleich unendlich vielfältig einbezogen und bedeutsam. Unser individuelles Handeln beeinflusst auch wieder die gesamte gesellschaftliche Verfasstheit und verändert die sich ständig dynamisch wandelnde Potenzialität der lebendigen Wirklichkeit. So ist die Einzigartigkeit des Einzelnen tragender Bestandteil unseres gemeinschaftlichen kulturellen Evolutionsprozesses. Wir sind angehalten, in einem neuen Denken zu einem umfassenderen Verständnis unserer Wirklichkeit zu gelangen, in der auch wir uns als Faser im Gewebe des Lebens verstehen, ohne dabei etwas von unseren besonderen menschlichen Qualitäten opfern zu müssen. Wir lernen, dass wir, wie alles andere auch, untrennbar mit dieser wundersamen irdischen Geobiosphäre verbundene Teilnehmende und Teilhabende sind.

Allerdings sagt das nur aus, dass der Mensch immer in einem Verhältnis mit anderen Menschen lebt, also nicht von diesen isoliert. Es sagt aber nichts darüber aus, wie diese Gesellschaftlichkeit des Menschen aussieht. Muss sie überhaupt eine bestimmte Form haben? Wie frei ist der Mensch, der gezwungen ist, in einem Austausch mit anderen Menschen zu leben, in der Gestaltung der Art dieser sozialen Beziehung? Aus emanzipatorischer Sicht darf Gesellschaft kein Gebilde mit kollektiven Werten sein, denen sich die Menschen als Bestandteile unterzuordnen haben, d.h. der Sinn des Lebens leitet sich nicht aus dem Sinn von Gesellschaft ab. Sondern die Gesellschaft ist ein Ort, in dem die einzelnen Menschen ihre Chance zur Selbstentfaltung und zu einer möglichst selbstbestimmten Form des Miteinanders finden. Das setzt voraus, dass ein Höchstmaß an Individualität und Eigenart erreicht wird - und zwar als Möglichkeit für alle, d.h. also weder des Einen auf Kosten der Anderen noch der Wenigen auf Kosten der Vielen oder der Mehrheit zu Ungunsten der Minderheit.

Im Original: Subjektivität fördern
Aus Mümken, Jürgen: "Keine Macht für Niemand"
Innerhalb der anarchistischen Gesellschaften müssen erst neue Formen der Subjektivierung und Individualität hervorgebracht werden, die eine anarchistische - d.h. auf Freiheit ausgerichtete - Individualität ermöglichen. In diesem Sinne gibt es auch keine Autonomie - im aufklärerisch-klassischen Sinne - des Individuums, da dieses immer auch ein Produkt gesellschaftlicher Konstituierungspraktiken ist, wichtig und zentral ist nur, dass diese Praktiken von allen Herrschaftszuständen befreit werden und es auch bleiben. Es muss in den anarchistischen Gesellschaften darum gehen, jedem Individuum eine „anarchische Subjektivität“ (Schäfer 1995, 53-76) zu ermöglichen, diese besteht darin, „sich kritisch gegen jede Form des Daseins zu verhalten, sich keiner Lebens-, Denk- oder Sprechweise verpflichtet zu wissen, kurz: der Welt nicht verfallen zu wollen“ (Schäfer 1995, 54). Es sollte in den anarchistischen Gesellschaften nicht darum gehen, dem Menschen eine bestimmte Form von Subjektivität und Individualität - um ihrer/seiner Freiheit willen - abzuverlangen, denn es geht hier um Freiheit „als die Fähigkeit, sich vom Zwangscharakter des Gegebenen, von der Eingebundenheit in die Selbstverständlichkeit des als 'wahr' geltenden Gegenwärtigen, zu lösen“ (Schäfer 1995, 44).
An dieser Stelle kommt auch die Foucault'sche Vorstellung von „Autonomie“ zu tragen. Er geht nicht - wie z.B. bei Kant - von einer Identität des ethischen Subjekt aus, dass das Individuum auf ein vermeintliches authentisches Selbst verpflichtet. Autonomie ist bei Foucault „die Fähigkeit und Bereitschaft von Individuen, sich immer wieder 'von sich selbst zu lösen' und mit sich zu 'experimentieren', d.h. bisher (wodurch auch immer) ausgeschlossene Arten des Selbstseins als Möglichkeiten anzuerkennen“ (Schäfer 1995, 49).

Aus dem Internet (Quelle einschl. der Links)
Unter einer Persönlichkeit versteht man im allgemeinen ein Individuum, dem es gelungen ist, sich aus der Masse zu erheben. So sieht denn die Kritik am Individualismus zwei Möglichkeiten: Das anonyme Aufgehen des Einzelnen in der Masse, die unter Umständen von kollektivistischen Bewegungen organisiert werden und dann geschichtsträchtig werden können. Die andere Möglichkeit ist die Höherentwicklung des Individuums zur eigenständigen, emanzipierten Persönlichkeit.


Individualität als Prozess der Selbstentfaltung gelingt am besten in einer Gesellschaft der Vielen, die sich selbst entfalten. Denn die Entfaltung der Anderen schafft, wenn es keine Abschottung von Wissen und Sachen durch Eigentumsbildung zwischen den Menschen gibt, auch jedem/r Einzelnen wiederum bessere Handlungsmöglichkeiten. Wer sich selbst entfalten will, hat ein eigenes Interesse, dass sich alle entfalten können, um den dadurch entstehenden materiellen und Ideenreichtum selbst zu nutzen. Das verbindet die oft konträr gegenüberstehenden Entwürfe von Egoismus und Altruismus (Eigennutz und Gemeinnutz), von Individual- und sozialer Anarchie, von Freiheit und Gleichheit (im Sinne gleicher Möglichkeiten).

Dass Kooperation und Kommunikation zum natürlichen Wesen des Menschen behört, also seiner biologischen Ausstattung, die er dann sozial überprägt (aber eben unter ihrer Nutzung), zeigt sich in der Evolution. Der Menschen überlebte und setzte sich dominant durch, weil er kooperierte und kommunizierte.

Im Original: Kooperation und Kommunikation als Natur
Aus Kurt Darsow, "Geist und Kosmos", in: Junge Welt, 19.10.2014 (S. 13)
Im Gegensatz zu den Menschenaffen bleibt der Homo sapiens auf seinem Wissen nicht sitzen, sondern teilt es seinen Artgenossen bereitwillig und geradezu lustvoll mit.
Zu diesem Zweck verfügt er in Gestalt der Sprache über ein Mittel der Verständigung, das für den geistigen Austausch wie geschaffen ist. Es befähigt ihn, kurzfristig und flexibel auf veränderte Lebensbedingungen zu reagieren, und nicht – wie die übrige Lebenswelt – den langwierigen Weg der genetische Anpassung zu gehen. Die Menschwerdung ist also nicht nur eine Sache der reinen Verstandeskraft, sondern auch der "sozialen Intelligenz". Erst wenn es zum Gegenstand kollektiver Lernprozesse wird, kann sich das geistige Potential richtig entfalten. ...
Es mag technisch noch so eindrucksvoll sein, dass unsere Großhirnrinde in einem Kubikmillimeter ihrer grauen Substanz nicht weniger als 40.000 Nervenzellen enthält, die allesamt miteinander "verschaltet" sind und noch dazu ein intensives "Ferngespräch" über alle Hirnregionen hinweg unterhalten; biologisch gesehen ist es der pure Luxus. Erst das "Gespräch der Gehirne" verleiht diesem funktionellen Überschuss seinen praktischen Sinn und erfüllt die "Schaltebene" mit Leben.
Die Frage nach dem Geist berührt also das Selbstverständnis des Menschen: Wer er ist und wie er sich zu verhalten hat, entscheidet kein ominöses Weltgesetz, sondern letztlich nur er selbst. Nur durch das "Gespräch der Gehirne" kann er seinen Spitzenplatz in der Natur behaupten, und nur auf dieser Verständigungsebene wird darüber entschieden, ob er eine Zukunft hat oder lediglich über "Zähne und Klauen" der anderen Art verfügt, wie der biologische Pessimist Charles Darwin glaubte. Mit anderen Worten: Er muss endlich lernen, über seinen biologischen Schatten zu springen und die Erde als einmalige, unwiederholbare Chance zu begreifen.


Individuum und Masse können zusammenpassen: Vereinzelung und Vermassung im Gleichklang
Während also die Selbstentwicklung zu Individualität und Eigenart verbunden ist mit einer Kooperation sich selbstentfaltender Anderer, passen Isoliertheit als Individuum und Masse zusammen. Wer sich nicht entfaltet, sondern - mitschwimmend im Strom - vor allem Produkt sozialer Zurichtung ist, die erwarteten Rollen im Ganzen spielt und sich mit fremddefinierten Kontakten (Verwandtschaft, computergenerierte FreundInnenkreise, traditionelle Vereinsmitgliedschaften usw.) zufrieden gibt, kann beides gleichzeitig sein: Isoliertes Individuum und Teil einer Masse, also der Gesamtheit ohne Differenz. Das passt sogar hervorragend zusammen: Nationen, Volk, die fanatische AnhängerInnenschaft von Göttern, ProphetInnen oder Fußballmannschaften leben davon, innerhalb dieser kollektiven Identitäten ihre eigene Persönlichkeit zu verlieren. Mit "Du bist nichts, Dein Volk ist alles" zeigte sich zum Beispiel der Nationalsozialismus als Meister der Inszenierung von Masse ohne Differenz. Bedauerlicherweise eifern etliche Konzepte oder Bilder einer einheitlichen Arbeiterklasse, des Proletariats, diesem Mythos der Gleichschaltung in kollektiver Identität ebenso nach wie schwarze Blöcke, einheitliche Demo-Marschformationen oder Organisierungsansätze der Geschlossenheit - ob nun per Konsens oder formaler Hierarchie. Das "Wir" ersetzt die Welt, in der viele Welten Platz haben ...

Im Original: Masse und Vereinzelung
Aus Annette Schlemms Philosophenstübchen
Im heutigen politischen Vorstellungsvermögen scheint das Bild des einzelnen, isolierten und auf sich bezogenen Individuums als alleinige Quelle von Selbstbestimmung und Freiheit beinah alternativlos. Gegenüber diktatorischen Herrschaftspraxen ist die Verteidigung der Freiheit des Individuums natürlich berechtigt. Das absolute Gegenteil ist jedoch keine vernünftige Alternative, sondern eine Falle. Das Bild des vereinzelt und nur für sich freien Menschen passt zur gegenwärtigen Herrschafts- und Unterdrückungspraxis wie der Deckel auf den Topf: Die sachlich-abstrakten Kapitalverwertungszwänge setzen das vereinzelte Individuum voraus und erzeugen es ständig wieder. In gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Menschen grundsätzlich als Konkurrenten um Lebenschancen agieren müssen, agieren sie als vereinzelte Wesen – sie sind dies aber nicht „von Natur aus“. Zum Menschen wird jedes Individuum durch das, was es mit allen anderen Menschen teilt. Erst unter konkurrenzförmigen Bedingungen ist es ihr Vereinzeltsein, das sie teilen. Vereinzelt zu sein ist die Folge konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse.


Gibt es Entscheidungsfreiheit?
Menschen erzeugen im Unterschied zu anderen Teilen in der Natur ihre eigenen Lebensbedingungen – einschließlich der gesellschaftlichen Form und Verhältnisse, in denen sie das tun. Menschen handeln nie nur entsprechend vorgegebenen Erfordernissen, sondern sie können bewusst wählen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen – auch bezüglich der Rahmenbedingungen. Sie können im Rahmen gegebenener Bedingungen (gesellschaftliche Verhältnisse) bleiben oder darüber hinaus streben. Das „Darüber-hinaus-Streben“, das sich in „überschießenden“ Träumen, Wünschen, Vorstellungen, Gedanken und die Veränderung einfordernden Aktionen äußert, ist aber nicht beliebig, sondern erwächst selbst aus den jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten, der sozialen Zurichtung, Beispielen und Vorbildern. Der Mensch ist also nicht frei von seinem eigenen Leben als Erfahrungshintergrund und von den äußeren Bedingungen als zumindest empfundene Grenzen, Hindernisse oder Möglichkeiten.
Die Spannbreite der Entscheidungsfreiheit, also die Zahl der Möglichkeiten, aus denen gewählt werden kann, lässt sich durch Aneignung von Wissen und Fähigkeiten ebenso erweitern wie durch die Veränderung der Rahmenbedingungen. Aus emanzipatorischer Sicht, in der ja die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten ein Ziel ist, gehört beides zum Leben des Menschen.

Schopenhauer
Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.

Aus Schmidt-Salomon, Michael: "Ethik für nackte Affen", in: "Der neue Humanismus", Alibri in Aschaffenburg (S. 34)
Einstein schrieb: „Schopenhauers Spruch: 'Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will', hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten meines Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz. Dieses Bewusstsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefuhl und macht, dass wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen; es fuhrt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht lässt.""

Der Begriff der Freiheit ist nicht völlig klar. Er bezeichnet oft ganz allgemein das Fehlen von Zwängen. Mensch kann/darf alles - oder wahlweise auch nur in bestimmten Handlungsfeldern, wenn von Wahl-, Versammlungs-, Vereins-, Kunst-, Forschungs- oder Pressefreiheit gesprochen wird. Skeptische Blicke auf den Menschen und seine intensive Einbindung in soziale Verhältnisse werfen aber die Frage auf, wie weit diese Freiheit eigentlich geht oder ob sie nicht ehrlicherweise nur als die Möglichkeit betrachtet werden kann, unter mehreren Optionen wählen zu können. Diese Auswahl muss dann möglich sein, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.
  • Individuelle Freiheit und allgemeine Freiheit: Während der allgemeine Freiheitsbegriff eher als utopische Idealvorstellung oder philosophisches Ziel zu verstehen ist, ist die individuelle Freiheit der in der Realität verbleibende Handlungsspielraum eines Individuums vor dem Hintergrund real existierender Restriktionen, zum Beispiel physischer, rechtlicher oder materieller/ökonomischer Beschränkungen.
  • Handlungsfreiheit ist ein Begriff aus der Philosophie und der Rechtswissenschaft (Grundrecht). Sie bezeichnet das Vermögen eines Lebewesens, seiner Natur, seinen Interessen oder seinen Neigungen zu folgen.
  • Willensfreiheit: Der Freie Wille ist eine Bezeichnung für den Willen eines Wesens, den dieses Wesen selbst und frei bestimmt. Nach den Experimenten von Benjamin Libet, der das Aktionspotential, das eine Handlung initiert, messen konnte, bevor der Handelnde dazu bewusst den Entschluss fasste, haben Neurowissenschaftler Zweifel an der Willensfreiheit geäußert und eine heftige Diskussion entfacht.
  • Die Meinungsfreiheit ist das subjektive Recht eines jedes Menschen, eine eigene Meinung zu haben und zu äußern.
  • Informationsfreiheit, ist das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu informieren. Das relativ moderne Informationsfreiheitsgesetz soll zum Beispiel den Zugang zu Behördenakten ermöglichen.
  • Der Begriff Pressefreiheit bezeichnet das Recht der Presse auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit, vor allem das unzensierte Veröffentlichen von Informationen und Meinungen sowie alle damit verbundenen Tätigkeiten.
  • Die Religionsfreiheit wäre die Garantie, selbständig und ohne Diskriminierungsgefahr eine eigene Weltanschauung zu wählen und auszuüben. (Textgrundlage dieser Absätze)

Im Original: Wahl zwischen Alternativen
Gruppe Gegenbilder (1. Auflage 2000): "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen", SeitenHieb-Verlag in Reiskirchen (S. 27)
Gesellschaft ist ein Denkbegriff, der einen realen, aber unanschaulichen Sachverhalt fassen soll. Gesellschaft ist der überindividuelle Zusammenhang, der das Leben jedes Einzelnen vermittelt. Gesellschaft ist damit mehr als bloße Geselligkeit oder Sozialität, die Gesellschaft ist der unabhängig von konkreten Individuen selbstständig funktionsfähige Zusammenhang, der durchschnittlich von diesen Individuen geschaffen wird, ja werden muss, da er sonst ja nicht existieren würde. Diese eigentümliche Eigenschaft der Gesellschaft, die einerseits allgemein von Individuen geschaffen werden muss, andererseits aber von konkreten Individuen unabhängig ist, bestimmt die charakteristische Beziehung des einzelnen Menschen zur Gesellschaft. Da die Gesellschaft auch ohne mein unmittelbares Zutun funktioniert, habe ich grundsätzlich eine Möglichkeitsbeziehung zur Realität. Es gibt keinen Sachverhalt, der mein Handeln unmittelbar festlegt. Ich kann handeln, muss es aber nicht oder kann auch anders handeln. Diese gesellschaftliche Natur [èGesellschaftliche Natur des Menschen] mit der eingeschlossenen, grundsätzlichen Möglichkeits- oder Freiheitsbeziehung zur Welt kommt nur den Menschen zu!

Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden (S. 36 f.)
Je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist - und immer auch anders agieren könnte -, kann verantwortlich handeln. Das heißt: Wer jemand die Freiheit raubt und beschneidet, der nimmt ihm auch die Chance zum verantwortlichen Handeln. Und das ist unverantwortlich.
B.P. Aber wessen Möglichkeiten sollen vergrößert werden? Man kann doch nicht, um ein Beispiel zu wählen, die Chancen eines Propagandisten, bösartige Hetzschriften zu verbreiten, unterstützen. Das kann doch kein Ziel sein.
H.F. Warum nicht? Soll ich seine Schriften verbieten, die Bücher aus den Bibliotheken herausholen, weil sie nicht meiner Auffassung entsprechen? Die Alternative ist mörderisch. Wenn man die Wahlmöglichkeiten erweitert, dann kann man sich entscheiden, ein Kindermörder oder ein Schulbusfahrer zu werden. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg verknüpft einen mit der Verantwortung. Natürlich ist es bequem, sich zu entlasten, indem man etwas verbietet oder den Umständen, den Genen oder der Erziehung, nature or nurture, unserer Natur oder den bösen Eltern, die Schuld zu geben. Und es ist bequem, sich in einer Hierarchie zu verstecken und immer, wenn es eines Tages und am Ende des Krieges zum Prozeß kommt, zu sagen: "Aber ich habe doch nur Befehle und Kommandos ausgeführt! Ich kann doch nichts dafür! Es gab doch gar keine andere Möglichkeit!" Das sind, so würde ich sagen, alles Ausreden.
B.P. Glauben Sie nicht, daß man gelegentlich auch intolerant sein und die Verbreitung bestimmter Propagandamaterialien - ich denke hier etwa an neonationalsozialistische Schriften, die zur Gewalt aufrufen - verbieten muß?
H.F. Mit dieser Strategie des Verbietens kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen, wirklich, alles Gute; ich glaube, die Zensur funktioniert nicht. Sie macht alles nur noch schlimmer. Meine Vorstellung wäre es, die Absurdität neonazistischer Ideen durch andere Ideen, denen auch die Möglichkeit der Verbreitung gegeben werden muß, zu illustrieren.
B.P. Sie meinen, daß sich das Gute, Richtige und Schöne allein durch die Aufklärung durchsetzen wird?
H.F. Sie scheinen sich in diesem Bereich sehr genau auszukennen. Woher wollen Sie wissen, was dieses Gute, Richtige und Schöne ist? Wen fragen wir beide, um dieses Wissen zu erlangen? Die Konsequenz dieser absoluten Unterscheidungen zwischen dem Guten und dem Schlechten, dem Richtigen, dem Falschen, dem Schönen und dem Häßlichen ist, daß man sich zum Richter emporschwingt und als der ewig Gerechte, der alles ganz genau weiß, begreift. Das heißt nicht, daß ich nun für einen ethischen Relativismus plädiere, überhaupt nicht, das muß nicht die Konsequenz sein. Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, daß diese Unterscheidungen, die vermeintlich eine universale und absolute Gültigkeit besitzen, von Ihnen getroffen werden. Sie sind keineswegs losgelöst von Ihrer Person, sondern Sie tragen für ihre mögliche Durchsetzung die Verantwortung.

Aus Mechsner, Franz: "Wie frei ist unser Wille?", in: GEO 1/2003 (S. 65)
Wie ist so etwas wie Willensfreiheit möglich in einer Welt unverrückbarer Naturgesetze, denen auch wir unterworfen sind? Das menschliche Gehirn ist ein Organ, das nach den Regeln der Physik und Chemie arbeitet. Die Freiheit unseres Wollens und Handelns, im Alltag unbestreitbar, erscheint unter dieser Perspektive plötzlich unergründlich geheimnisvoll, wenn nicht gar prinzipiell unmöglich.
Bei erster Betrachtung stellen sich nur zwei Alternativen: Entweder müssen wir glauben, dass wir das natürliche Geschehen in Gehirn und Körper nicht auf naturgesetzliche Weise quasi von außen beeinflussen können, etwa über eine unsterbliche Seele. Dann macht uns ein von der materiellen Natur unabhängiges geistiges Prinzip zu freien und verantwortlichen Personen. Oder aber wir müssen annehmen, dass unser Denken, Reden und Tun sich im Rahmen der Naturvorgänge abspielt. Dann ist der freie Wille schlicht eine Illusion, und wir sind naturgesetzlich determinierte Automaten. (S. 65 f.) ...
Was aber ist eine Wahl? Bieri: „Eine Wahl ist nicht einfach der Sieg des momentan stärksten Motivs. Sie ist nicht der Ausgang eines blinden Kräftespiels. Wählen bedeutet, sich am Ende von einem Motiv leiten zu lassen, das einem inneren, distanzierten Prozess der Überlegung und Bewertung standgehalten hat.“ …
Uns Menschen zeichne jedoch aus, dass wir über uns selbst nachdächten und „Wünsche höherer Stufe“ zu bilden fähig seien: Wir können wünschen, meint Frankfurt, bestimmte Wünsche und Motive zu haben oder auch nicht zu haben. Wir können sogar wünschen, anders zu sein, als wir sind. … Unsere Fähigkeit, Wünsche zu bedenken, gegeneinander abzuwägen und uns schließlich mit einem Wunsch zu „identifizieren“, sei es vor allem, die uns Menschen zu „Personen“ mache. (S. 69) ...
Es gebe Grade der Willensfreiheit: Ein Wille sei umso freier, je umfassender er von Nachdenken – sei's im Bösen oder Guten – geleitet werde; und umso unfreier, je weniger dies zutreffe. So gesehen müssen wir uns die Freiheit unseres Willens im Lauf des Lebens immer umfassender erarbeiten: Persönliche Entwicklung geht einher damit, die Gestaltung unserer Entscheidungen und damit den „Grad der Willensfreiheit“ zu entfalten. (S. 69 ff.) …
(Über eine Romanfigur:) Wir werfen ihm vor, dass er bei den Entscheidungen der Vergangenheit nicht nachgedacht hat. Denn sie sind es, die im Laufe unseres Lebens unseren Charakter formen, der nun die Basis für künftige Entscheidungen ist. Somit kann ein schlechter Charakter schlechtes Benehmen nicht entschuldigen. Denn der Charakter, das Zentrum der Persönlichkeit, ist gewissermaßen geronnener Wille; in ihm manifestiert sich das versäumte oder geleistete Nachdenken in der Vergangenheit.
Von uns selber wie von jedem halbwegs intelligenten und verständigen Menschen verlangen wir, über eigene Entscheidungen nachzudenken und sich um die Selbsterziehung zu kümmern – die Chance zur Freiheit zu ergreifen. Wir bestehen sogar auf der Verantwortung des Unverantwortlichen; darauf, dass ein Mensch die Chance hatte und weiterhin hat, seine Freiheitsfähigkeit durch Selbstdistanz und Nachdenken zu entwickeln. …
Ob wir aber überhaupt auf die Suche gehen, sagt der Philosoph, „darüber entscheiden letztlich wir, und darin liegt unsere Selbstständigkeit im Trommelfeuer fremder Einflüsterungen. Es sind Einsicht und Verstehen, die uns zu befreiender Abgrenzung verhelfen, nicht Abschottung und das Verstecken in einem inneren Schützengraben“. (S. 71, Zitat von Bieri) …
„Da unten bildert es immer“, sagte der Philosoph Ernst Bloch. Und er meinte das unaufhörliche Herumdenken in uns, das Mäandern unendlicher Assoziationsketten, das Auftauchen und Verschwinden irrlichternder Fantasiefragmente, das Durcheinanderwirbeln von Obsessionen und Gleichgültigem.
Die überschäumende Mannigfaltigkeit im Hirn muss aber auch gebändigt und kanalisiert werden, damit sie sinnvoll nutzbar wird. Die fällige Auswahl aus dem reichen Angebot ähnelt jenem Prozess, den Charles Darwin als treibende Kraft der Evolution erkannt hat. Einem Prozess, der beide Seiten der Freiheit abbildet: Offenheit und sinnvolle Ordnung. Diese Balance muss gelingen. (S. 72) ...
Neue Fantasien und Ideen dürfen nicht zu beliebiger Gedankenflucht oder gar zu unüberlegten Aktionen führen, sondern müssen geprüft, bewertet und genutzt oder verworfen werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei „exekutive Funktionen“ im präfrontalen Cortex, jenes Teils der Großhirnrinde, der direkt hinter der Stirn liegt. Dies heißt aber nicht, dass diese Hirnregion gewissermaßen als übergeordnete Instanz im Kopf unser Denken, Reden und Tun dirigiert. Eine solche Instanz gibt es nicht. Stattdessen geschieht alles in einem Netz sich gegenseitige beeinflussender Neuronen, von deren Zusammenwirken wir noch wenig verstehen. (S. 73) … Unbedingt frei müsste doch wohl heißen: völlig unbeeinflusst. Ein unbeeinflusster Wille aber kann niemandem zugehören. Denn insofern er der Wille einer bestimmten Person wäre, wäre er von dieser beeinflusst. Ein derart losgelöster Wille wäre auch vollkommen zufällig – nicht beeinflusst von Gewohnheiten, Überlegungen, Abläufen im Gehirn und was auch immer. Ein unbedingt freier Wille wäre unbegründet, da Gründe Faktoren der Beeinflussung sind. Er wäre auch unbelehrbar, denn Belehrbarkeit bedeutet Beeinflussbarkeit. Und schließlich wäre ein solcher Wille unkontrollierbar, denn auch Kontrolle bedeutet Beeinflussung. Fazit für Bieri: Es lasse sich gar nicht verstehen, was der „unbedingt freie Wille“ eigentlich sein soll. (S. 78 ff.) …
Auch über die tatsächlichen Gründe für unser Handeln können wir irren. Stattdessen fabulieren wir uns in solchen Fällen plausible Motive zurecht. (S. 81)

Ergebnisse eines Experiments von Benjamin Libet (Quelle: Wikipedia)
Das Bemerkenswerte an diesem Ergebnis ist, dass der Zeitpunkt, zu dem die Handlungsabsicht bewusst wird, in jedem Fall deutlich nach dem Punkt liegt, an dem der motorische Kortex die Bewegung vorzubereiten beginnt. Akzeptiert man das Vorexperiment als Hinweis darauf, dass die Versuchspersonen in der Lage waren, die bewusst empfundene Handlungsabsicht korrekt zu datieren, so folgt daraus, dass die Absicht die Aktivierung des Motorkortex nicht kausal verursachen konnte. ...
Libet selbst folgerte zunächst aus seinen Resultaten, dass der Entschluss zu handeln von unbewussten Gehirnprozessen gefällt wird, bevor er als Absicht ins Bewusstsein dringt; die bewusste Entscheidung sei somit nicht ursächlich für die Handlung. Dadurch sah er die Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen in Frage gestellt.
Kurz darauf ging Libet zu der These über, dass es ein Zeitfenster von zirka 100ms gebe, innerhalb dessen der bewusste Wille eine bereits eingeleitete Handlung noch verhindern könne (Veto- oder Kontroll-Funktion des Willens). In diesem Sinne könne das Bewusstsein "willensbestimmte Ergebnisse selektieren und unter ihre Kontrolle bringen". Er untermauerte diese Position mit weiteren Experimenten, die zeigten, dass ein Bereitschaftspotential nicht zwingend zu einer Handlung führt, sondern bis zirka 50ms vor der Muskelaktivierung noch abgebrochen werden kann. Die angeführten 100ms errechnete er aus den 200ms von der bewussten Absicht bis zur Muskelaktivierung, abzüglich der 50ms, innerhalb derer die Bewegung nicht mehr aufzuhalten ist, sowie korrigiert um die 50ms, die sich im Vorexperiment als systematischer Ablesefehler der Uhr ergeben hatten.

Rezension dazu: "Gibt es einen freien Willen?" auf Deutschland-Radio

Verstand und Vernunft
Aus Erich Fromm, "Psychoanalyse und Ethik" (S. 116-119)
Der Verstand ist ein Werkzeug des Menschen für praktische Ziele; er hat den Zweck, die Aspekte einer Sache zu erforschen, die zu deren Gebrauch bekannt sein müssen. Die Ziele selbst, oder, was dasselbe ist, die Prämissen, auf die sich das "intelligente" Denken bezieht, werden nicht in Frage gestellt, sondern als erwiesen angenommen, sie können rational sein oder nicht. ... Meistens und notwendigerweise befaßt sich unser Denken mit dem Erreichen irgendwelcher praktischer Ergebnisse, mit dem quantitativen und Oberflächen-Aspekten der Phänomene, nicht aber mit der Gültigkeit der dazugehörigen Zwecke und Prämissen oder dem Versuch, die Natur und die jeweilige Qualität der Phänomene zu verstehen. Im Gegensatz zum Verstand schließt Vernunft eine dritte Dimension ein, die Tiefendimension, die zum Wesen der Dinge und Entwicklungsvorgänge hinführt. ...
Die Vernunft durchdringt das Außen der Dinge, um deren Wesen zu entdecken, ihre verdeckten Zusammenhänge, ihren tieferen Sinn. ...
Im produktiven Denkprozeß wird der Nachdenkende durch sein Interesse für das Objekt angeregt. Er ist von ihm betroffen und reagiert darauf; er nimmt teil und antwortet. Aber auch Objektivität charakterisiert das produktive Denken: der Respekt des Denkenden für sein Objekt, und die Fähigkeit, das Objekt so zu sehen, wie es ist, und nicht so, wie es nach seinem Wunschbilde sein sollte. Ein weiterer Gesichtspunkt, den man bezüglich der Objektivität im produktiven Denken zu beachten hat, ist der, daß die Totalität einer Erscheinung erkannt werden muß. Wenn der Beobachtende einen Aspekt des Objekts isoliert, ohne das Ganze zu sehen, wird er nicht einmal diesen einen Aspekt richtig verstehen.

Das Private und das Politische
Freisein ist jedoch zunächst nur graue Theorie. Denn wenn Handlungsspielräume zwar möglich sind, ich sie aber nicht nutzen kann, weil mir Wille oder Befähigung dazu fehlen, nützt es auch nicht viel. Es gibt drei Felder der Einschränkung:
  • Stärke des Willens, Charakter und mentale Vorprägung, d.h. die aus Nachdenken und Reflexion in der Vergangenheit gewachsene eigene Einstellung
  • Fähigkeiten zu Handeln (Methoden, Wissen usw.)
  • Äußere Zwänge

Anders ausgedrückt: Die persönliche Befreiung aus Zurichtungen und vorgegebenen Rollen, ein entschiedener Wille, die eigenen Abwägungen und Überzeugungen zum Handlungsmaßstab zu machen sowie die Aneignung eigener Fähigkeiten und die Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen hin zu mehr Handlungsfreiheiten und -möglichkeiten sind mehrere Seiten der gleichen Medaille. Das Private und das Politische kann, so mensch will, in eine Sphäre, die nicht oder nur begrenzt nach außen wirkt, und eine, bei der das Äußere verändert wird, getrennt werden. Beide Baustellen im Leben sind wichtig. Emanzipation kann in Beiden stattfinden und fördert sich gegenseitig. Denn wer sich nicht losmachen kann aus den Normierungen, die auf ihm/r lasten, wird sich auch in einer freieren Gesellschaft wenig selbst entfalten können. Das ist ja das Konzept moderner Demokratien: Sie garantieren gewisse Freiheiten, nehmen den Menschen aber durch übermächtige Diskurse, Entziehung ökonomischer Möglichkeiten und gewaltsamer Zurichtung auf bestimmte Rollen die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. So kann der Polizeiknüppel meist stecken bleiben. Die Menschen züchtigen sich selbst.

Im Original: Freiheit und Abhängigkeiten
Aus Christoph Spehr, 1999: "Die Aliens sind unter uns", Siedler Verlag München (S. 155)
Freiheit wird allerdings unterbunden, wenn wir uns aus einem Herrschaftsverhältnis nicht lösen können, ohne unsere Existenz aufs Spiel zu setzen, unser blankes Überleben. Solche existentielle Abhängigkeit entsteht, im Gegensatz zur "normalen", relativen Abhängigkeit, nicht automatisch. Sie wird gemacht. Sie ist das Ergebnis einer Politik der verbrannten Erde um das Herrschaftsverhältnis herum: Alle anderen Möglichkeiten werden vernichtet. Anders als bei direkter Gewalt wird uns nicht unmittelbar Böses zugefügt; oft sieht es sogar so aus, als ob uns etwas Gutes getan würde. Aber im Rücken des Guten geschieht etwas, das uns zuverlässig unterwirft: die Vernichtung dessen, was vielleicht auch ganz gut wäre und was wir wählen könnten, wenn es in der Kooperation nicht klappt.

Umgekehrt würde aber auch eine Beschränkung auf die private Ebene schnell an Grenzen stoßen, denn die äußeren Bedingungen blieben als Mauern und Zwänge erhalten. Am Ende stünde eine hohe Frustration oder der Rückzug auf eine kleine Insel in der Privatheit, die sich an den Widrigkeiten gesellschaftlicher Umgebung gar nicht mehr reiben will. Die qualitätskonsum-geilen Lohas und die in esoterischer Versenkung Verschwundenen bilden zwei Beispiele solcher Abkoppelung, d.h. der künstlichen Trennung von privat und politisch.

Wenig Sinn macht, beides einfach gleichzusetzen. Denn was in den eigenen vier Wänden (also Synonym für den nicht oder kaum nach außen dringenden Bereich des Lebens) geschieht, ist eben nicht politisch im Sinne einer gesellschaftsbeeinflussenden Kraft. Wer postuliert "Das Private ist politisch" ersetzt die notwendige Widerständigkeit durch die Illusion, im Rückzug Kraft nach außen zu entwickeln - ob nun durch Erkenntnisgewinn oder per morphogenetischen Feldern, einer beliebten Theorie für alle, die ihren Rückzug als politische Handlung umdefinieren wollen. Nein - das Private ist nicht per se selbst schon politisch. Aber es ist deshalb nicht unwichtig, ganz im Gegenteil. Und es sollte politisiert werden, in dem die Kollisionen, die ein selbstbestimmtes Privates mit dem normierenden Äußeren immer wieder herbeiführt, zum Akt des Protestes wachsen, um auch das Äußere zu verändern.

Im Original: Kritik an Überhöhung des Privaten
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 161 f., mehr Auszüge)
In diesem theistischen Umfeld neigen politische Aktivität und soziales Engagement dazu, sich vom Aktivismus in eine Wartehaltung und von gesellschaftlicher Organisationsarbeit, in privatistische Selbsterfahrungsgruppen zurückzuziehen. Es bedarf lediglich eines persönlichen Problems - sei es eine gescheiterte Beziehung oder beruflicher Mißerfolg - das man mit einem geeigneten Mantel umhüllt und schon wird es zu einem "politischen" Problem oder einer Form sexistischer Diskriminierung. Der Begriff vom "Persönlichen als Politischen" wird leichtsinnig bis zu einem Punkt strapaziert, bei dem politische Themen in einem zunehmend therapeutischen Jargon formuliert werden, so dass jemandes "Art", seine oder ihre Vorstellungen auszudrücken, als wichtiger betrachtet wird als der Inhalt der jeweiligen Aussage.
Die Form verdrängt mehr und mehr den Inhalt, und Beredsamkeit wird als "manipulativ" denunziert, mit dem Ergebnis, dass eine tödliche Mittelmäßigkeit Form und Inhalt der politischen Diskussion beherrscht. Die moralische Empörung, die einst den menschlichen Geist in den Donnerworten der hebräischen Propheten bewegte, wird als Beleg für "Aggressivität", "Dogmatismus", "Streitsucht" und "typisch männliches Verhalten" angeprangert. Was heute "zählt", ist nicht das, was jemand sagt, sondern wie es gesagt wird - selbst wenn es geradezu schmerzhaft naiv und nichtssagend ist. "Fürsorge" kann leicht zu Naivität und "Betroffenheit" zu kindischer Albernheit verkommen, wodurch die Politik eher infantil als feministisch wird.


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