Stiftung Freiräume

GESCHICHTE SOZIALER ORGANISIERUNG

Wer macht Geschichte? Was prägt die Gesellschaft?


1. Soziale Organisation als Grundform menschlichen Lebens
2. Wer macht Geschichte? Was prägt die Gesellschaft?
3. Emanzipation: Das Herrschaftsförmige aus den Beziehungen verdrängen

Nun ist Geschichte nicht nur Schicksal. Zwar sind viele Aspekte und Einflüsse für den Menschen unabänderlich, aber selbst Materie und nicht-menschliches Leben unterliegt einem Veränderungsprozess, der als Evolution bezeichnet wird. In diesem Prozess entstehen neue Qualitäten, die die Ausgangsbedingungen der Weiterentwicklung verändern.
In der menschlichen Gesellschaft wirken diese Eigenschaften von Materie und Leben weiter. Hinzu kommt die kulturelle Entwicklung, die als neue Qualität aus dem Lebendigen heraus entstand und nun durch eigene Mechanismen wie Sprache, Dokumentation von Wissen, organisierten Lernen undWerkzeuggebrauch die Geschichte der menschlichen Gesellschaft vorantreibt. Dieser Prozess ist derart komplex, dass es schwerfällt, alle Antriebskräfte zu benennen. Wie üblich besteht in dem Versuch, dieses zu tun, bereits die Gefahr der Vereinfachung. Daher sind die folgenden Hinweise mit Vorsicht zu genießen. Erst recht gilt das aber für andere Theoriedebatten, wenn sie die gesellschaftliche Entwicklung auf nur einen der Prozesse zurückzuführen versuchen. Das entlastet des Kopf, weil das Denken über die Welt einfacher wird. Doch der ungeheuren Komplexität menschlicher Gesellschaft wird es nicht gerecht.
Trotzdem geschehen die Verkürzungen überall, auch im klassischen Geschichtsunterricht: Da stürzen sich stehende Heere in riesige Schlachten (Antike bis Mittelalter), später rekrutieren Führer ganze Bevölkerungen für ein noch blutigeres Gemetzel. Kreuzzüge verwüsten und scheitern, Bauernkriege und Arbeiterrevolutionen prägen die Jahreszahlen. Große Kriege und gesellschaftliche Schlachten werden in die Köpfe der SchülerInnen gedroschen, als wäre mensch im Mathematikunterricht. Die männliche Schreibweise reicht dabei, denn Frauen kommen in dieser Art historischer Betrachtung gar nicht erst vor. Sind es die großen Führer und Schlachten, die die Welt verändern? Welche Wirkung hatte die Erfindung der Glühbirne oder die erst allmähliche Erkenntnis, dass Rassen gar nicht existieren? Was trugen die PhysikerInnen zur Geschichte bei, die herausfanden, dass das Atom doch spaltbar ist - oder später dass die Bestandteile sich noch weiter zerlegen ließen bis zum ... tja, bis zum Nichts? Wer war wichtiger: Galilei oder Alexander, der Große? Und waren die beiden überhaupt die tatsächlich prägenden Figuren ihrer jeweiligen persönlichen Schlachten?

Geschichte ist die Geschichte der Elitenkämpfe
Auch wenn sich bis heute seltsame Theorien halten oder sogar verstärken, die kleine Kreise als Drahtzieher der Welt vermuten - MarionettenspielerInnen gleich -, das alles war und ist Unsinn. Die Welt ist zu groß und komplex, so voller Konkurrenzen und Streit, dass sie niemand allein, auch keine einzelne Gruppe regieren kann. Sie mag große Ressourcen für sich sichern und aufwändig verteidigen. Aber sie erreicht nicht die Winkel dieser Welt. Gerade zentrale Führungen nicht. Deshalb hat der Wandel von der Monarchie oder der Diktatur zum modernen Rechtsstaat ja auch Vor- und Nachteile: Den Vorteil, dass die Willkürlichkeit des Herrschens in der Sphäre der auf mehrere Staaten im Staate verteilten Macht zurückgeht. Aber gleichzeitig den Nachteil, dass durch die Ausstattung breiterer Kreise mit Macht diese sich in ihrer Wirkung ausdehnt und bis in die kleinsten Bereiche des privaten Lebens reicht.
Hinter allen Führungspersonen und -gremien fand sich immer eine Sphäre privilegierter Menschen. Ihre Privilegien und die Mittel, diese durch- und einzusetzen, habe im Laufe der Geschichte gewechselt. Kriege, Revolutionen, Krankheiten oder Wahlen konnten die konkreten Personen verdrängen und Platz für Neue schaffen. Das Prinzip aber bleib: Jede Gesellschaft und jeder gesellschaftliche Subraum bildet im Normalfall eine Führungsschicht heraus, die aufgrund ihrer Privilegien die Lage mehr beeinflusst als andere. Die einen verfügen über Apparate legitimer, direkter Gewalt (z.B. Polizei oder Militär). Die anderen beeinflussen stärker Diskurse (Medien, Bildungsanstalten) oder Moralvorstellungen (früher Religionen, heute Esoterik, z.T. Medizin). Zwischen ihnen und hin zu den Machtlosen bilden sich mehr oder weniger fließende Übergänge. Doch Grenzen bleiben - geprägt durch den Zugang zu Privilegien oder Verhaltenscodes und mehr. Diese Funktionseliten, wie sie heute bezeichnet werden, entstehen durch gesellschaftliche Position und Einflussmöglichkeiten, während früher der Zugang zur Macht stärker über politische Ämter, Adelszugehörigkeit oder - prägend in den letzten zwei Jahrhunderten - Besitz von Kapital und Produktionsmitteln organisiert war.
Innerhalb dieser Eliten besteht keine Einigkeit außer der, die Privilegien gegenüber den Nicht-Privilegierten oder gegenüber gesellschaftlicher Umgestaltung zu verteidigen. Darüber hinaus bestehen Konkurrenzen um Ressourcen und Privilegien, die in heftige Machtkämpfe oder sogar Kriege ausarten können. Es sind solche Elitenkämpfe, die sehr entscheidende Weichenstellungen für die Weiterentwicklung von Gesellschaft schaffen. Hier rollen nicht nur Köpfe, sondern auch materielle Ressourcen, Gelder, Land und mehr.

Im Original: Eliten
Aus Besson, W./Jasper, G. (1966), "Das Leitbild der modernen Demokratie", Paul List Verlag München (herausgegeben von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, S. 14)
Nicht die gleichförmig agierende oder bloß reagierende amorphe Masse ist das Spezifikum unserer Zeit, sondern die organisierten oder nicht organisierten Zusammenschlüsse der Träger gleicher Rollen, der Gleichgesinnten und Gleichinteressierten, durch die die industrielle Gesellschaft in ein ganzes Netzwerk menschlicher Beziehungen und Verbindungen aufgegliedert wird. Die industrielle Gesellschaft ist, solange sie freie, nicht von oben her zwangsweise geordnete Gesellschaft ist, deshalb immer auch pluralistische, in viele Gruppen aufgespaltene Verbandsgesellschaft.

"Die Transformation der Demokratie", Voltaire Verlag in Berlin (S. 31, 36)
Innerhalb eines Systems hingegen gehen nur Führungskonflikte vor sich, die im wesentlichen Konkurrenzkämpfe zur Ablösung der jeweiligen Führungsgruppe sind und die der teilweisen Umgruppierung innerhalb eines Oligarchienkreises dienen. Die Verkürzung des Herrschaftskonflikts auf den Führungskonflikt reproduziert staatlich-politisch den gesellschaftlichen Vorgang - und den manipulativ vorgenommenen Versuch - der Reduzierung des Antagonismus auf den Pluralismus. Diese Verkürzung - das eigentliche technisch-politische Kernstück des Friedens - trägt wesentlich zur Anpassung und schließlich zur Auflösung eines antagonistischen Bewußtseins gegen den Oligarchien bei. ...
Es entwickelt sich ein neuartiger, durch die Zusammenarbeit der Parteiführungsstäbe untereinander bedingter Herrschaftsmechanismus, in dem verdinglichte, obrigkeitliche Machtzentren in sich zirkulierend ein Konkurrenzverhältnis eingehen. Es versteht sich: hier ist die Rede von Parteien verschiedener Richtung aber gleichen Typus: von Ordnungsparteien, die - spinozistisch gesprochen - sich in dem Modus, nicht in der Substanz einer konservativen Politik unterscheiden.


Zitat von Pareto Trattato, zitiert in: Gebhardt, Jürgen/Münkler, Herfried (1993), "Bürgerschaft und Herrschaft", Nomos in Baden-Baden (S. 227)
Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten.

Geschichte ist die Geschichte der Befreiungskämpfe
Doch nicht nur Eliten schreiben Geschichte. Politische Verhältnisse wie die Beteiligung sozialer Schichten in Führungsgremien, die Ausformulierung von Gesetzen, die Eigentumsverhältnisse und Macht in Betrieben oder die Gültigkeit von Grundrechten, entspringen auch gesellschaftlichen Aufständen, die nicht immer von Eliten inszeniert werden. Proteste ohne Eliten sind meist an ihrer relativen Unstrukturiertheit zu erkennen, sie werden in der Öffentlichkeit als chaotisch wahrgenommen. Aber diese Öffentlichkeit ist dominiert von den Eliten, die ihre Sichtweise durchsetzen und jeden politischen Protest sofort zu einer Sache der Eliten umzufunktionieren versuchen, in dem Teile der Eliten den Aufstand vereinnahmen und als eigenes Durchsetzungspotential nutzen.
Viele Aufstände entstehen aber ohne Eliten. Selbst in der jüngsten deutschen Geschichte ist das bei den Sozialprotesten nach der Jahrtausendwende ("Montagsdemos") ebenso der Fall gewesen wie voraussichtlich bei den Protesten gegen die DDR-Regierung 1989. In beiden Fällen haben politischen Eliten aber sehr schnell die Führung an sich gerissen, den selbstorganisierten Protest damit getötet, aber die Kraft des Protestes in eine Stärkung ihrer eigenen politischen Einflussmöglichkeiten umgesetzt. Am Ende der DDR herrschtedie CDU, während die späteren Montagsdemos von der sich dann gründenden Partei Die Linke transformiert wurde).
So traurig die meisten Verläufe auch sind hinsichtlich des Unvermögens, sich selbst und horizontal zu organisieren sowie gleichzeitig die Vereinnahmungs- und Führungsversuche bisheriger oder neuer Eliten von sich zu weisen, so bleiben die führungslosen Phasen doch nicht ohne Wirkung. Ohne sie wäre so manche Veränderung nie gekommen. Denn selbst wenn Eliten Bewegungen vereinnahmen, geht der Impuls auf die unorganisierten Anfänge zurück. Nicht immer werden die damit verbundenen Inhalte vollständig verdreht - und daher bleiben auch die spontanen Befreiungskämpfe außerhalb der Eliten ein Antrieb der Geschichte.
Elitenkämpfe und Befreiung können zudem unabhängig voneinander existieren und in gleiche Richtungen wirken. Der Kampf um repressionsarme oder -freie Räume z.B. in der HausbesetzerInnenbewegung oder heute im Internet sind Beispiele hierfür. Aktionen "von unten" und Rivalitäten von Eliten fanden bzw. finden hier gleichzeitig statt, aber auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen.
Möglich bleiben zudem selbstbefreiende Kämpfe, die von Eliten nicht beachtet werden oder diese wirksam fernhalten. Selten geschieht dieses in Form einer abrupten, zeitlich beschränkten Auflehnung oder gar einem Aufstand. Letztere sind meist von Eliten geführt, die wütende Menschenmassen lenken oder benutzen (siehe oben). Verbreitet hingegen sind Prozesse, die gar nicht besonders auffallen, aber dennoch wirken, weil sich Ideen, Überzeugungen und Sichtweisen langsam verbreiten - oft von unten nach oben innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien. Der Wandel setzt sich "graswurzelartig" fort.

Geschichte ist die Geschichte der Produktivkraftentwicklung
Produktivkraft ist mehr als Produktion. Gemeint ist die Fähigkeit des Menschen, seine Umgebung zu formen, seine Lebensbedingungen selbst zu gestalten und dabei Werkzeuge aller Art (im weitesten Sinne) zu entwickeln, die ihm bei der Umgestaltung helfen und somit die Produktivkraft erhöhen. Zudem sammelt er Know-How - sowohl als einzelne Person wie auch in der Gesamtheit.
Fraglos: Diese Fortentwicklung der Produktivkraft ist eine ständige Weiterentwicklung, auch wenn es geschichtliche Epochen und Strömungen gab, die Wissens- oder Werkzeugfortschritte zurückdrehen wollten (mensch denke nur an die Vernichtung vieler selbständig denkender Menschen, überwiegend Frauen, unter der Verschleierung als Hexenverbrennung oder die künstliche Zerstörung von Städten und Bildungseinrichtungen unter den Roten Khmer in Kambodscha).
Anders als die Konkurrenzkämpfe stellt die Produktivkraftentwicklung weitgehend einen voranschreitenden Prozess dar, ist also ein zentraler Antrieb der Evolution des Menschen und der Gesellschaft. Allerdings ist sie nicht die einzige Kraft - und erst recht nicht der einzige geschichtsbildende Einfluss. Das mag mensch mitunter bedauern, aber Destruktivkräfte haben immer auch eine Rolle gespielt und die Geschichte der Menschen mitgeschrieben.
Es wäre zudem eine Vereinfachung, menschliches Leben, Sprache und andere Kommunikation, Streit und Kooperation, Distanz und Nähe zwischen Menschen immer nur als Ausdruck der Steigerung von Produktivkraft zu bewerten. Kunst, Solidarität, Liebe und alles - nur Produktivkraft?
Dennoch ist dieser Aspekt so wichtig, dass ihm ein besonderer Text gewidmet sein soll.


Geschichte ist die Geschichte der Diskurse und Deutungen
Menschen denken meist in Begriffen, Kategorien und Wertungen. Das hat praktische Vorteile, um sich z.B. ein Abbild der Welt im Kopf zu machen, Vorgänge einzuordnen und sich mit anderen zu verständigen. Die Einordnung des Wahrgenommenen in solche Denkmuster führt zu einer stets subjektiven Aufnahmeneuer Informationen. Abweichende Kategorien und Begriffe können dannzu Missverständnissen oder Deutungsfehlern in der Kommunikation führen.
Allerdings entstehen Begriffe, Kategorien und Wertungen nicht individuell, sondern sind selbst wieder Teilsozialer Beeinflussung und Interaktion. Was unter einem Begriff zu verstehen ist, welche Assoziationen er hervorruft und wie Wahrgenommenes in das vorhandene Schema von Begriffen, Kategorien und Wertungen eingebaut wird, ist stark von der jeweiligen kulturellen Prägung abhängig. Diese unterscheidet sich bereits kleinteilig voneinander. So wird ein Arbeiter im VW-Werk oder die Arbeitssuchende bei der Hartz-IV-Vergabestelle etwas ganz anderes mit dem Begriff "Arbeit" verbinden als eine studierte Marxistin, die im Theorieseminar oder Rotweinzirkel diskutiert. Der Physiker, der Berechnungen zu Leistung und Kraft von Maschinen anstellt, hat wiederum einen anderen Begriff im Kopf.
Dennoch sind die Bedeutungen nicht willkürlich. Sie können formal definiert sein (wie der Begriff "Arbeit" in physikalischen Gleichungen) oder durch prägende Denkmuster und ihre ständige Reproduktion in Sprache, Bildern und anderen Ausdrucksformen dominiert sein. Der Prozess, der mehr oder weniger gleichgeschaltete Deutungen erzeugt, wird Diskurs genannt. Sie haben mächtigen Einfluss auf die Gesellschaft, weil aus ihnen praktisches Handeln folgt. Da aus der sozialen Eingebundenheit des Menschen folgt, dass Denken und Werten immer beeinflusst werden kann, stellen die Diskurse und ihre Steuerung ein mächtiges Mittel der Bevölkerungskontrolle dar. Dass Arbeit (im Sinne von Erwerbsarbeit) das Image eines Menschen ausmacht, hat mehr Einfluss auf den Drang von Menschen, unbedingt ihre Arbeitskraft verkaufen zu wollen, als die Kontrollperson in der Arbeitsagentur. Der Respekt vor Eigentum, die Angst vor Kriminalität, der Hass auf AusländerInnen, die Sorge um den Standort Deutschland, die Ehrfurcht vor Roben-, Kittel- und TitelträgerInnen - all das folgt aus Diskursen. Mit ihnen verbunden sind Formen von Kontrolle und Unterdrückung,die der passende Diskurs legitimiert. Das ist keine Überraschung, denn durch Privilegien entstehen unterschiedliche Einflussmöglichkeiten auf die Diskurse. Deren Steuerung ist also vor allem Sache der Eliten. Die dort stattfindenden Konkurrenzkämpfe, aber auch soziale Kämpfe und Einzelimpulse von nicht privilegierten Kreisen oder Personen können neue Diskurse entfachen. Denn die Verteilung der Steuerungsmacht über Diskurse ist zwar sehr ungleich verteilt, aber ganz kontrollierbar sind sie für die Mächtigen, Führungsgremien oder Eliten nicht. Das Ringen um die Deutung gesellschaftlicher Ereignisse und Zustände ist daher ein Parameter von Geschichte. Er wird angesichts der medial geprägten "Wissensgesellschaft" immer wichtiger.


Geschichte ist die Geschichte der externen Autoritäten
Ausübung von Herrschaft bedarf, um dauerhaft wirksam zu bleiben, der Androhung und bei Bedarf auch Anwendung massiver Gewalt oder einer Legitimation, die Befehl und Gehorsam, Ausbeutung und Unterdrückung zu einem Akt von Schicksal, externer Kräfte oder höherer Vernunft machen. Der Legitimationshintergrund hat im Laufe der Geschichte gewechselt - notwendig war aber immer einer. Mit dem Wechsel ging regelmäßig auch ein Austausch der konkreten Personen oder gesellschaftlichen Schichten einher, die die Machteliten bildeten.
Erfolgreich waren Legitimationen immer dann, wenn sie auf Diskurse und Ängste aufsetzen konnten, die ohnehin in breiten Schichten der Bevölkerung vorhanden waren. Dazu gehören die Religionen, die aus den zunächst unerklärlichen und bedrohlich wirkenden Naturereignissen eine Existenz höherer Mächte ableiteten. Sie taten das in einem sich über die Jahrtausende wandelnden Prozess des Entwerfens immer neuer Bilder irgendwelcher Gottheiten oder fremder Energien, außerirdischer Welten, Totengründe und mehr. Blitz, Donner, Krankheiten oder andere, vorübergehende Unerklärlichkeiten konnten erfolgreich zu Ausdrucksformen der externen, höheren Mächte umgedeutet werden. Vielen Menschen verfielen, ob nun aus Angst vor den unbeherrschbar erscheinenden Naturgewalten oder aus Opportunismus gegenüber den jeweiligen MachthaberInnen, dem Glauben an höhere Autoritäten und ließen sich eingemeinden in das Kollektiv der Gläubigen, das seine phantasievoll kreiierten Welterklärungsmodelle einerseits von Generation zu Generation weitergab und andererseits in absurden Schlachten anderen Menschen, die sich andere Erklärungsmärchen zurechtgelegt hatten, aufdrückte.
Immer aber schufen die Erzählungen Legitimation für die Ausübung von Herrschaft. Alle Religionen teilen den Menschen Rollen zu, verbunden mit unterschiedlicher Gestaltungsmacht in der Gesellschaft. Diese ist nun nicht mehr willkürlich durchgesetzt, sondern basiert auf höheren Weihen: Der Papst wird, selbst wenn er noch so wirres Zeug von sich gibt, als Stellvertreter Gottes betrachtet. Tausende von KirchenfunktionärInnen kanzeln die unterdrückte Bevölkerung mit Meinungen und Anweisungen ab, die sie als Verkündung höherer Weisheiten verpacken und mit Drohungen vor göttlichen Strafen verbinden, um andere gefügig zu machen.
Dieser Legitimationshintergrund modernisierte sich im Laufe der Geschichte, mitunter in blutigen Übergangsschlachten zwischen den Religionen oder in Folge der Aufklärung, die allerdings nicht die Emanzipation der Menschen, sondern nur den Wechsel der höheren Autoritäten verkündete. Fortan erschien die Handlungsanweisung wahlweise als kategorischer Imperativ, als Recht göttlichen Ursprungs oder im Namen des Volkes - alles weiterhin freie Erfindungen, die Ausübung von Macht legitimierten. Die Neuerungen entsprangen geschichtlichen Entwicklungen, die das Denken aus der Umklammerung verkrusteter und nur noch mit brutaler Gewalt aufrechterhaltener Weltanschauungen befreiten. Sie waren aber auch notwendig, um durch den Wechsel der Hintergrundautoritäten der Ausübung von Herrschaft einen neuen, ebenso wirksamen Legitimationshintergrund zu erhalten. So konnte der Glaube daran, dass Regieren, Gesetze oder Strafen sinnvoll und notwendig sind, genau deshalb neu mit Leben gefüllt werden, weil nicht mehr hammerschwingende muskulöse oder bärtige alte Männer in irgendwelchen Himmelsreichen als Ursprung gelten, sondern das Volk - und das scheint doch dann irgendwie demokratisch, folglich gut und akzeptabel zu sein. Wer das eigentlich sein soll, dieses "Volk", wodurch es entsteht und wer es aus welchen Interessen zurechtphantasiert, wird selten gefragt. Dabei wäre Anlass genug dazu, z.B. am Ende jeden Gerichtsverfahren, dass mit einem Urteil abschließt und dann immer "im Namen des Volkes" verkündet wird. Kaum jemand der ZuschauerInnen (wenn mal welche da sind) wird hier das Gefühl bekommen, mit dem Begriff "Volk" gemeint zu sein. Wer aber ist "Volk" dann? Es ist nichts anderes als das frühere Konstrukt "Gott" - nämlich eine Fata Morgana, die notwendig ist, um die Macht zu legitimieren.

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