Demorecht

WAHLEN ALS LEGITIMATION

Wer wählt?


1. Was sind Wahlen?
2. Zitate zu Wahlen und Abstimmungen
3. Funktion von Wahlen
4. Manipulation
5. Wer wählt?
6. Wahlboykott - eine Alternative?
7. Losen - demokratischer als Wählen?
8. Links und Materialien

Die Zählweise der Stimmen ist ständig völlig absurd. Wenn z.B. Partei A vierzig Prozent bekommt, heißt es später, dass 40 Prozent der WählerInnen oder gar des Volkes die Partei gewählt haben. Tatsächlich ist das aber aus vielen Gründen Unsinn:
  • Berechnungsgrundlage für die Abgeordnetenzahlen sind immer die gültigen Stimmen, d.h. die 40 Prozent beziehen sich auf diese. Ungültige Stimmen fallen da einfach weg. Wenn beispielsweise irgendwann mal die Hälfte ungültig wählt, bleibt deshalb nicht die Hälfte der Sitze im Parlament unbesetzt, sondern jede Stimme für eine Partei zählt einfach doppelt so viel - und der imaginäre Willen der "Mehrheit", sonst Heiligtum in der Demokratie, fällt plötzlich ganz weg, wenn er den Parteien nicht passt.
  • Die gültigen Stimmen stellen zudem meist nur zwei Drittel, auf kommunaler Ebene oft noch deutlich weniger der Wahlberechtigten. Der Rest geht gar nicht wählen. Diese NichtwählerInnen gelten in der Demokratie meist nur als Problem, das beseitigt werden muss, dem aber sonst keine Bedeutung geschenkt wird.
  • Doch selbst die Wahlberechtigten sind wiederum nur ein Teil der gesamten EinwohnerInnen: Jugendliche bis 18 Jahren, Entmündigte, Wohnsitzlose und Nicht-Deutsche können regelmäßig nicht wählen, bei Strafgefangenen sind die Möglichkeiten eingeschränkt.
  • Zusammengefasst bedeutet selbst eine relativ hohe Wahlbeteiligung von ca. zwei Dritteln der Wahlberechtigten, dass weniger als zwei Drittel gültig wählen und dass diese auch nur knapp zwei Drittel der Wahlberechtigten sind, die wiederum je nach sozialer Schicht nur zwei Drittel bis vier Fünftel der EinwohnerInnen ausmachen. Will heißen: Meist wählen weniger als die Hälfte überhaupt irgendeine eine Partei oder eineN KandidatIn - auf kommunaler Ebene oft weniger als ein Drittel oder nur ein Viertel (siehe Beispiel "Gießen 2003" - dort sind es 23,7 % gewesen). Von diesem Wert bekommt irgendeineR oder ein paar Parteien zusammen, die die Regierung bilden, dann die Mehrheit. Manchmal ist das die Mehrheit der Mandate, aber nicht die der gültigen Stimmen, weil viele Stimmen wegen der 5%-Hürde rausfallen.
  • Schließlich ergibt sich, dass selbst bei hoher Wahlbeteiligung die Regierung nur von ca. 25 Prozent der EinwohnerInnen gewollt wurde, auf kommunaler Ebene bei niedrigeren Wahlbeteiligungen ist es meist deutlich weniger. Dennoch wird ständig behauptet, hier würde die Mehrheit repräsentiert.
  • Noch viel dramatischer ist der Blick auf die Schichten der WählerInnen. Es zeigt sich, dass die Reichen viel eher zur Wahl gehen - was nichts anderes heißt, dass von den armen Schichten kaum jemand die Regierungen mitbestimmt, weil dort zum Teil nur um die 10 Prozent überhaupt wählen.

Beispiel: Gießen 2003
Nach dem ersten Durchgang der BürgermeisterInnenwahl in Gießen brachten Aktivistis aus der Projektwerkstatt eine kritische Berechnung des Wahlergebnisses heraus - Grundlage für ein Flugblatt einer Demo vom Reichen- ins Armenviertel mit entsprechenden Positionen. Aus diesem Flugblatt mit den entlarvenden Zahlen:
  • Die Wahlbeteiligung lag bei 33,8 Prozent, d.h. nur ca. ein Drittel der Wahlberechtigten stützen überhaupt die Idee, regiert zu werden.
  • Diese Wahlbeteiligungshöhe ist noch geschönt. Ca. 2,5 % wählten ungültig, d.h. deutlich unter einem Drittel will eineN BürgermeisterIn. Zudem sind von ca. 73.200 EinwohnerInnen in Gießen (plus nicht mit 1. Wohnsitz gemeldete!) nur 52.575 Personen überhaupt wahlberechtigt. Rechnet mensch das ein, ergibt sich folgende Rechnung: Von 73.200 EinwohnerInnen wollten 17.317 eineN BürgermeisterIn, d.h. knapp 23,7%! Und einen der beiden Kandidaten, die nun in der kommenden Stichwahl noch zur Auswahl stehen, wollten nur 15.644 Menschen, also knapp 21,4%.
  • In den abgelegenen Ortsteilen von Gießen liegt die Wahlbeteiligung deutlich höher, d.h. im Kerngebiet der Stadt sind es deutlich unter ein Fünftel der Menschen, die eineN BürgermeisterIn wollen.
  • Innerhalb dieses etwas mehr als einem Fünftel der gemeldeten EinwohnerInnen in Gießen gibt es dramatische Unterschiede in der Wahlbeteiligung nach sozialen Schichten. Das ist gut erkennbar an den sehr unterschiedlichen Wahlbeteiligungen in reichen und privilegierten Wohngebieten und in solchen mit sozialen Brennpunkten. Beispiele: In mehreren Wahlkreisen der Südstadt sowie den Einfamilienhaussiedlungen im Norden, im Sandfeld usw. sind Wahlbeteiligungen über 30 Prozent häufig (was für die Kernstadtbezirke viel ist!), während in den sozialen Brennpunkten Wahlbeteiligungen von unter 20 Prozent üblich sind. Spitzenreiter sind die Nordstadt mit 13,10 bzw. 14,70% Wahlbeteiligung und der Eulenkopf mit 16,70% - das gerechnet auf die Wahlberechtigten. Von den insgesamt dort Wohnenden dürfte es im einstelligen Bereich liegen.

Angesichts dieser Zahlen wird noch absurder, dass die lokale Agenda-Gruppe in Gießen, also der klassische bildungsbürgerliche Fanblock der Demokratie, in seinen festgelegten "Indikatoren" für mehr Lebensqualität in Gießen als Maßstab für demokratisches Engagement einfach die Wahlbeteiligung nimmt - Stimmzettel ausfüllen ist also auch in deren Sicht wichtig und schlicht die einzige Form von Beteiligung. Immerhin ehrlich ...


Aus der Indikatorentabelle der Lokalen Agenda 21 in Gießen


  • Noch deutlicher im gleichen Stadtteil: Der Nordstadtbeirat, sog. "Vertretung" der Interessen des Stadtteils - gewählt mit 1,6 Prozent der Wahlberechtigten (dürften um die 1 Prozent der EinwohnerInnen sein; Quelle: Gießener Anzeiger vom 22.9.2006)

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