Gießen autofrei

ANALYSEN IN POLITGRUPPEN: OFT AUCH VEREINFACHEND BIS POPULISTISCH

Anti-Amerikanismus


1. Einleitung
2. Finanzkapital und Zinstheorien
3. Anti-Amerikanismus
4. Sozialneid und Diskriminierung
5. Mehr Gut und Böse
6. Andockpunkte nach rechts

Weit verbreitet ist zudem ein offener oder unterschwelliger Antiamerikanismus. Meist drückt er sich nur in der Überbetonung von US-amerikanischen Firmen und Politiken aus. Es kommt aber auch zu grundlegender Kritik an der vermeintlichen Überflutung Europas mit USA-Kultur und -Waren. Einseitig werden z.B. die in den USA tatsächlich eher schwache Regulierung von Finanzbranchen oder Militär gerügt oder auf das dort stärker auf Firmeninteressen ausgerichtete Patentrecht hingewiesen. Solche Kritik ist berechtigt, aber sie benennt nur Nuancen zwischen den verschiedenen kapitalistischen Staaten und keine einheitliche Tendenz. Denn an anderer Stelle sind die USA wesentlich verbraucherInnenfreundlicher als die meisten Länder Europas und gerade Deutschland - z.B. im Haftungsrecht. Gleiches gilt für das Akteneinsichtsrecht, welches hierzulande erst sehr spät und nur auf erheblichen Druck der EU eingeführt wurde. Es muss auch heute noch regelmäßig über Gerichtsentscheide erkämpft werden, weil Regierungen und Behörden es widerrechtlich verweigern. Das wäre allerhand Stoff für antieuropäische "Verschwörungstheorien", made in USA.
Es wäre passender, die kapitalistischen oder schlicht alle Staaten zu kritisieren statt die USA herauszupicken. Es gibt Bereiche, in denen die USA deutlicher zu kritisieren sind als z.B. Deutschland - etwa bei aktuellen Kriegsstrategien, die Deutschland aufgrund seiner relativen militärischen Schwäche so nicht verfolgen kann. Andererseits ist Deutschland bei der Polizeiausbildung und oftmals in wirtschaftlicher Unterwerfung prägender. Wer nur über den Umgang von GM mit Opel lamentiert, vertuscht damit die handstreichartige Übernahme von Chrysler durch Daimler und so manche andere US-Firmeneroberung durch deutsche Konzerne. Wer bei der Gentechnikkritik immer nur an Monsanto denkt, nur deren Felder öffentlich kritisiert (wie es Greenpeace auf seiner Genmaiskarte jahrelang machte) oder nur Monsantoprodukte im Fokus hat (wie oft BUND- oder Nabu-Bundesverband), schafft Firmen wie Bayer, BASF, KWS oder Syngenta Platz und den deutschen Gentechnikfeldern Ruhezonen.

Im Original: Böse USA, gutes Europa
Gerhard Schröder, zitiert nach "T-34" August 2002 (S. 9)
Mit mir ist eine Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft nicht zu machen ... Nur Europa steht für den wirtschaftlichen, den sozialen, den kulturellen und den ökologischen Ausgleich.

Aus Bernd Hamm, „Hausaufgaben gemacht?“ in: Politische Ökologie Mai/Juni 2002 (S. 39)
Wenn es gelänge, im IWF eine eigenständige europäische Position, eine an nachhaltiger Entwicklung orientierte, durchzusetzen, dann wäre wahrscheinlich mehr für diesen geplagten Planeten zu erreichen.

Aus einem Interview mit dem Theaterregisseur Zadek im Spiegel:
Zadek: Der Irak-Krieg ist noch lange nicht zu Ende. Er hat gerade erst begonnen. Für Amerika wird er ein neues Vietnam werden. Ich stimme meinem alten Freund Harold Pinter zu, dessen Antikriegsgedichte "War" Elisabeth Plessen und ich gerade übersetzt haben - erscheinen übrigens demnächst. Pinter sagt, die Amerikaner seien heute mit den Nazis zu vergleichen. Der Unterschied besteht darin, dass die Nazis vorhatten, Europa zu besiegen; die Amerikaner aber wollen die ganze Welt besiegen. [...]
Zadek: Die Nationalsozialisten hatten auch ihren Idealismus und glaubten, immer das Richtige zu machen.

Zweites Zitat:
SPIEGEL: Heißt das, Sie treten gern an im Kampf altes Europa gegen neues Amerika?
Zadek: Bei diesem Kulturkampf bin ich dabei. Ich war sofort dafür, als Rumsfeld das gesagt hat mit dem alten Europa. Endlich hat es einer ausgesprochen. Schade, dass wir es nicht waren. Denn peinlich ist doch nur der Minderwertigkeitskomplex, den wir Europäer noch immer haben.

Aus "Die Botschaft der Athene" in FR, 27.12.2003 (S. 7)
Seitdem die US-Amerikaner damit begonnen haben, militärisches Potential in politische Stärke zu transformieren und sie nicht länger den Europäern gegen ein gewisses Entgelt zur Verfügung zu stellen, haben die Europäer ein Problem: Entweder sie akzeptieren ihre Festlegung auf den Status eines Tellerwäschers, eines untergeordneten Verbündeten, der im Großen und Ganzen zu parieren hat, oder sie stellen ein Mindestmaß an Fähigkeiten zur militärischen Selbstbehauptung bereit, auch und gerade bei der Stabilisierung der europäischen Peripherie - zu der auch der Nahe und Mittlere Osten gehört -, und entwickeln so einen selbständigen weltpolitischen Gestaltungswillen.

Aus einem Interview mit Peter Strutynski, Friedensratschlag und (selbst-)ernannter Sprecher der Friedensbewegung in Deutschland, in: Junge Welt, 23.12.2004 (S. 2)
Wir haben vor einigen Tagen als Motto der Proteste vorgeschlagen: "Europa pfeift auf Bush".

Aus Franz Alt (2005), "Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik" in: Alt, Franz/Goldmann, Rosi/Neudeck, Rupert (2005): Eine bessere Welt ist möglich, Riemann-Verlag in München (S. 35 f., S. 50 f.)
Seit die "alten" Europäer Nein zum Irak-Krieg gesagt haben und sich erstmals wirklich von den USA emanzipierten, haben sich die Chancen eines alternativen Europa gegenüber dem neoliberalistischen Amerika verbessert. ... Die Arroganz der Macht, welche die Bush-Regierung nachhaltig pflegt, provoziert die Wut der Ohnmächtigen und Abhängigen. Macht braucht Gegenmacht, wenn sie nicht allzu gefährlich werden soll. Das eher pazifistisch gestimmte Europa war plötzlich Vorbild und Partner bei allen Zivilgesellschaften der Welt. ... "Venus Europa" (Robert Kagan) war plötzlich attraktiver als der waffenstarrende "Mars Amerika". Und auf der Weltfinanz-Bühne wurde der neue Euro rasch zur Konkurrenz des alten Dollar. Die einzig verbliebene Supermacht USA bekommt endlich das größer werdende Europa als gesundes - und vielleicht sogar heilsames - Gegengewicht.

Hans-Werner Deim in: Maurer, Ulrich/Modrow, Hans (2006), "Links oder lahm?", Edition Ost in Berlin (S. 41)
Die aktivere Emanzipation der EU von den USA kann die Dominanz der USA in der NATO beenden und diese Organisation vollständig in den Dienst Europas stellen oder in USA-hörige und USA-müde Mitglieder teilen.

Kommentar von Rouven Schellenberger, in: FR, 25.7.2008 (S. 13)
Wir hoffen, dass Barack Obama etwas mitnimmt nach Amerika. Er soll das Land klüger machen und bescheidener, sozialer und ökologischer. Kurz: Er soll ein Stück Europa in die USA tragen.

Aus der "Duisburger Erklärung" von "deutschen Intellektuellen"* in der FR 16.4.2004 (S. 9)
Zu den Aufgaben gehört es auch, weiterhin und in Zukunft noch verstärkt die eigenen wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Interessen gegenüber Washington offen und selbstbewusst zu vertreten.

Einleitung zum Kommentar "Die netten Europäer" von Werner Balsen, in: FR, 16.5.2008 (S. 13)
Lateinamerika gewinnt an Gewicht. Und der "alte Kontinent" steht dort hoch im Kurs. Die EU aber hält sich im Fahrwasser Washingtons und nutzt ihre guten Chancen kaum.

Zitiert nach: Diana Johnstone, "Wettlauf um Einfluß" in: Junge Welt, 1.6.2005 (S. 10)
Francois Bayrou, Chef der liberalen Sammelpartei UDF: "Die Welt wird von der US-amerikanischen Macht dominiert, der die chinesische Macht als Konkurrent entgegentritt. Wollen wir die Vorherrschaft dieser beiden Imperien hinnehmen, und ihre Gesellschaftsmodelle? ..."
Dominique Strauss-Kahn drückt sich noch klarer aus: "Wir brauchen den europäischen Verfassungsvertrag, um dem amerikanischen Hegemonismus Paroli zu bieten."

Daten im Internet werden nur von US-Konzernen genutzt/missbraucht (EU-Firmen offenbar nicht)
Aus Stefan Aust/Thomas Ammann, „Digitale Diktatur“ (2014, Econ bei Ullstein, S. 341)
Ein erster Schritt wäre, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung endlich europaweit festzuschreiben, sodass keine nationalen Schlupflöcher mehr bleiben wie bisher, die von den US Konzernen für ihre Zwecke ausgenutzt wurden.


Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie Kreise mit starkem Hang zu Vereinfachungen oder "Verschwörungstheorien" dieses auch in bürgerlichen Kreisen und Protestgruppen gepflegte Bild der bösen Weltmacht USA aufgreifen und zur Grundlage eines einfachen Denkmusters über Ursache von Geschehnissen machen. Ist dieser Schritt erst einmal gelungen, wird alles dem Bild untergeordnet und danach interpretiert - so wie es die Logik der "Verschwörungstheorien" eben auszeichnet. Wie das geht, zeigte die Freiwirtschaftszeitung "CGW-Rundbrief" 3/2004 (S. 19): "Wenn nun US-Präsident Bush darauf drängt, dass die Türkei und andere Oststaaten möglichst schnell der EU beitreten dürfen, so will er damit den wirtschaftlichen Kollaps der Union beschleunigen, weil diese neuen Mitgliedstaaten allesamt Nettoempfänger wären und von Deutschland, Frankreich etc. zusätzlich "durchgefüttert" werden müssten. Damit aber wäre Europa als ernsthafte wirtschaftliche Konkurrenz zu Amerika ausgeschaltet." Es ist zwar wahrscheinlich, dass die USA in der Tat (wie die EU, Deutschland und andere auch) ihre eigenen Machtinteressen in jedem Politikschritt prüfen - aber darauf, dass der Vorschlag zum EU-Beitritt der Türkei nicht den offensichtlichen und lange bekannten, strategischen Interessen der USA in Nahen Osten folgt, sondern das vermeintlich so gebeutelte Europa schwächen soll, muss mensch erstmal kommen ...

Gepaart mit einer gehörigen Portion Antiamerikanismus lassen sich Hassbilder gegen Konzerne zuspitzen. Leuchtendes Beispiel ist die US-amerikanische Firma Monsanto. Deren Name steht seit Jahren als Synonym für dunkle Geschäfte, dubiose Netzwerke und die Materialisierung des Bösen schlechthin. Wer "Monsanto" ausruft, hat hohe Aufmerksamkeit, Empörung und Spendeneingänge sicher, zudem fast alle Leute auf der eigenen Seite. So manche Genversuchsfeldbesetzung wurde unterstützt, weil die Leute etwas gegen Monsanto hatten - völlig gleichgültig, ob das Feld überhaupt etwas mit Monsanto zu tun hatte. Der Film "Monsanto. Mit Gift und Genen" (der gut ist!), wäre wahrscheinlich weder vom Europapropagandasender Arte unterstützt noch überhaupt so häufig angeschaut und vorgeführt worden, wenn er "Bayer. Mit Gift und Genen" betitel worden wäre. Dieser Monsantohass trieb seltsame Blüten. Karten der Genfelder, die Greenpeace durch die Jahre verbreitete, enthielten die als Forschung etikettierten deutschen Gentechnikfelder nicht. Eine besondere Begründung dafür wurde nie gegeben. Es fällt aber nicht schwer, hier die Handschrift der für Spendeneingänge zuständigen Abteilungen der Verbandszentrale zu vermuten. Den Vogel schoss Sigmar Gabriel ab, der damals (Frühjahr 2009) noch Bundesumweltminister war und seitdem seine marode Organisation aufzupäppeln versucht. Als er noch seines Regierungsamtes waltete, saß er eines Tages in einem Ministerrat der EU. Dort wurde darüber abgestimmt, ob Mitgliedsstaaten der EU den eigentlich zugelassenen MON810 für ihr Land verbieten können. Gabriel stimmte dem zu - für Deutschland eine ungewöhnliche Sache. Also wurde er gefragt, warum er das getan habe. Er antwortete am 2. März 2009: „Ich kann den gesellschaftlichen Mehrwert der Genprodukte von Monsanto nicht erkennen“. Und fügte hinzu - grad so, als gäbe es BASF, Bayer und KWS gar nicht: „Man stelle sich vor, diese Debatte um Gentechnik-Produkte gäbe es in den USA, und die einzige Firma, die ein Interesse daran hätte, dieses Präparat dorthin zu verkaufen, wäre eine europäische: Ich möchte einmal wissen, ob der amerikanische Kongress sich derart ins Zeug legen würde zur Verfolgung europäischer Wirtschaftsinteressen eines einzelnen Unternehmens, wie es jetzt die EU-Kommission zur Verfolgung der Wirtschaftsinteressen eines amerikanischen Unternehmens tut.“ Wenige Tage später ging Gabriel in seinem Heimatländle (Niedersachsen, wo er schon einmal Ministerpräsident war) auf Firmenbesuch. In Einbeck flanierte er durch die Gewächshäuser der deutschen Gentechnikfirma KWS Saat AG. Nun fand er etwas andere Worte, wie das Göttinger Tageblatt am 12.3.2009 berichtete: „'Wir wollen gentechnisch veränderte Pflanzenzucht auf jeden Fall zulassen', so der Minister, 'aber nicht mit Kollateralschäden in der Natur.' Forschung in diesem Bereich sei unabdingbar. Denn den Herausforderungen, die die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung und ihr Energiehunger stellten, könne man anders kaum beikommen." So teilte er präzise in gute und böse Gentechnik. Peinlich für ihn, dass die KWS ihre gv-Pflanzen zusammen mit Monsanto entwickelt. Gabriel hatte also die gleichen Pflanzen im Blick. Er deklarierte sie als nützlich, wenn sie deutsch, und unnütz, wenn sie US-amerikanischer Herkunft waren. Solche primitiven Muster helfen mindestens zweien: Die EinfacherklärerInnen der Welt können an die einseitige Schuldzuweisung an nur einzelne Firmen und nur aus bestimmten Ländern ihre Ideologie von den StrippenzieherInnen der Welt andocken. Zudem dürften sich BASF, Bayer und KWS im Schutz des Monsantohasses ganz wohl fühlen und unbedrängter ausbreiten können. Dabei soll gar nicht in Abrede gestellt werden, dass auch US-Firmen recht widerliche, damit aber schlicht typisch kapitalistische Ausprägungen haben. Wie die europäischen und alle anderen eben auch.

Ähnliches geschah, vor allem in der Anfangsphase des Protestes, beim TTIP. Das Abkommen stärkt die Konzerne gegenüber den Menschen - sowohl in Europa wie auch in den USA. Dennoch titelte die Junge Welt am 15.10.2014 (S. 12) einen Text von Werner Rügemer mit "TTIP, TPP und TiSA sind Instrumente der USA zur ökonomischen und militärischen Beherrschung der Erde".

Der Anti-Amerikanismus in der Welt der vereinfachten Welterklärungen ist gegenüber den Vereinfachungen in NGOs und ihrem Umfeld platt und von primitiven Vorwürfen geprägt, die einfach nur das Böse an sich stigmatisieren sollen.

Aus Daniel Prinz (2014), „Wenn das die Deutschen wüssten …“ (Amadeus-Verlag, S. 191)
Die US Regierung finanziert sich selbst durch illegalen Drogenverkauf! Daher auch u.a. der Krieg in Afghanistan, um sich genügend Nachschub für den Weltmarkt zu sichern. Der Geheimdienst CIA ist maßgeblich für die Durchführung des Drogenverkaufs sowie für die Sicherung von Goldbeständen zuständig.

Komplett absurd ist die Form des Antiamerikanismus, bei der behauptet wird, die deutsche Sprache werde von US-Wörtern und -Redewendungen überzogen. "Denke auch an den Verrat der deutschen Kultur und der deutschen Sprache durch freiwilliger Aufnahme von allem was amerikanisch ist incl. der Sprache", heißt es zum Beispiel auf einem Antipsychiatrie-Blog wie selbstverständlich. Doch die Annahme ist völlig unsinnig: Es gibt gar kein "amerikanisch". Die Sprache heißt "englisch" und ist eine europäische Sprache. Noch mehr: Unstrittig ist, dass in der Geschichte die Europäer_innen schon einmal Amerika überfallen, ihre Sprache(n) aufgedrückt und große Teile der Bevölkerung abgeschlachtet haben.

CETA-Fahne von Campact mit US-HasssymbolenBeispiel TTIP
Nicht alle spielen bei ihrer Kritik am Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU die anti-amerikanische Karte - aber viele. Von denen werden vermeintliche europäische Errungenschaften gepriesen, die gegen die bösen USA verteidigt werden sollen. Plötzlich erscheint das Freihandelsabkommen wie eine Machtübernahme der USA gegenüber Europa. Dass es die Konzerne (in allen beteiligten Ländern) gegenüber den Menschen stärkt, geht in dieser Kritik schnell unter.

Noch absurder (Foto rechts) macht es der populistische Spendensammelkonzern Campact. Auf einer Fahne gegen das CETA (Freihandelsabkommen mit Kanada!) wird trotzdem der Dollar und die US-amerikanische Firma Monsanto dargestellt. Zwar Thema verfehlt, aber Antiamerikanismus kommt eben immer gut.

Das Motiv, den Antiamerikanismus zu bedienen, ist oft der schnöde Mammon. Im Empörungsbürger_innentum, welches sich von Demos, Aufrufen und Unterschriftenlisten mit platt-plakativen Parolen über das Böse in der Welt schnell angezogen fühlt, ist einiges an Geld locker zu machen.

Im Original: TTIP (mit Bildern aus dem TTIP-Protest)
Text "Transatlantisch anders wirtschaften" von Jutta Sundermann, in: FriedensForum März 2015
Für einen Widerstand gegen das Freihandelsabkommen ohne Antiamerikanismus
Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, auch als Freihandelsabkommen TTIP bekannt, ruft international großen Protest hervor, wenn er auch nirgendwo so breit getragen wird wie in Deutschland. Hier diskutieren viele mit und es bilden sich vorher nicht gekannte Allianzen: Attac lädt zur Pressekonferenz zusammen mit dem Deutschen Kulturrat ein, die Bauernverbände warnen vor weitreichenden Folgen für die landwirtschaftliche Produktion, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels holt die GlobalisierungskritikerInnen auf seinen Messestand bei der Frankfurter Buchmesse, Städte und Landkreise verwahren sich in Ratsbeschlüssen gegen die neoliberale Durchschlagkraft des Abkommens. Und selbst Sprecher der befürwortenden Parteien beeilen sich, die Bedeutung des Verbraucherschutzes und das erkannte Risiko zu massiver Einflussnahmen durch klagefreudige Konzerne zu benennen.

Im Rahmen der geheim geführten Verhandlungen über das TTIP-Abkommen steht einmal mehr sehr viel zur Disposition: Es geht den Verhandlungsführern aus der EU und den USA um den klassischen Warenhandel aller Branchen, es geht um geistige Eigentumsrechte und das weite Feld der Dienstleistungen. Einmal mehr meinen die Befürworter des Abkommens mit irritierend vertrauten Begriffen wie „Antidiskriminierung“ und „Gleichbehandlung“ vor allem die Stärkung von Vorteilen großer, international agierender Konzerne. Sie lehnen Schutzmaßnahmen für regionale ErzeugerInnen, NachwuchskünstlerInnen oder Gemeinwohl-Auflagen bei öffentlichen Ausschreibungen ab. In der Sprache der Handelsjuristen werden ArbeitnehmerInnen-Rechte und Umweltschutzauflagen zu Handelshemmnissen.
Während Angela Merkel und Industrie-Lobbyisten nicht müde werden, einige lästige bürokratischen Auflagen (besonders gerne die zur Farbe von Autoblinkern in Europa und den USA) zu verdammen, sagen sie meistens nicht, welche Regeln und Schutzmaßnahmen sie außerdem vom Tisch fegen wollen. Das aktuell verhandelte Abkommen könnte zu einem Riesencoup zu Gunsten der transnational agierenden Konzerne werden.

Strikt abzulehnen: Investor-Staats-Klagen
Schon der Name des unfertigen Abkommens zeigt, dass der Schutz der InvestorInnen eine zentrale Rolle spielen soll. Um große Investitionen zu erleichtern, wird auch über sogenannte Investor-Staats-Klagen verhandelt. Konzerne, die etwa durch neue Umweltgesetze, bessere Arbeitsschutzbestimmungen oder Steuererhöhungen ihre ursprünglichen Gewinnerwartungen gefährdet sehen, könnten dann gegen Staaten klagen. Über Schadensersatzforderungen verhandeln sollen private Schiedsgerichte, deren Beschlüsse völkerrechtlich bindend und nicht revisionsfähig sind. Eine fatale Privatisierung der Rechtsprechung, die sich zudem argumentativ nicht durchhalten lässt: Sowohl in den USA als auch in Europa kann ein Unternehmen, das sich in seinen Rechten verletzt sieht, schon heute und ohne jedes neue Abkommen vor ein Gericht ziehen und dort Recht erlangen.
Seit es die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko gibt, berichten BeobachterInnen, dass jeder neue Gesetzentwurf mit einer Vielzahl von Klage-Androhungen begleitet wird. Bittere Beschwerden aus Kanada liegen uns vor. Dennoch wurde im Spätsommer der Vertragstext des aktuell auch verhandelten Freihandelsabkommens zwischen EU und Kanada (CETA) bekannt, von dem zu vermuten ist, dass es viele Gemeinsamkeiten mit dem TTIP-Entwurf haben wird. Die Investor-Staats-Klagen sind auch darin aufgeführt.

Umwelt- und Sozialstandards in Gefahr
Damit der Handel künftig besser flutscht, sollen unterschiedliche Standards dies- und jenseits des Atlantiks aneinander angeglichen oder wechselseitig anerkannt werden. In der Erfahrung der letzten Jahrzehnte bedeutete eine solche „Harmonisierung“ nahezu immer, dass schwache Regelungen herauskamen, weit weg von konsequenteren Standards zum Beispiel in Sachen Umweltschutz.
Bedroht sein könnte das in Europa hoch gehaltene Vorsorge-Prinzip, nach dem die Anbieter einiger Chemikalien, Techniken oder Zutaten vor ihrer Zulassung beweisen müssen, dass diese nicht schädlich sein. Das Chlorhuhn ist dabei wohl das Lieblingsbeispiel der Kritiker, auch wenn es im Abkommen ziemlich sicher nicht genannt und vielleicht sogar explizit ausgenommen werden wird: In den USA ist es erlaubt und verbreitet, die in großen Fabriken geschlachteten Hühnerkörper zur Desinfektion durch ein Chlorbad zu ziehen. In der EU ist solch eine Behandlung verboten, weil Chlor der Gesundheit schadet und Überreste davon bei der Hähnchenmahlzeit sicher nicht gesundheitsfördernd sind. In den USA wird darauf verwiesen, dass noch kein Kunde und keine Kundin der großen Restaurant-Ketten nach Verzehr von Chlorhuhn tot vom Stuhl gefallen ist. So geht es nun Talkshow für Talkshow auch um die Frage, ob die Angleichung von unterschiedlichen Regeln dazu führen könnte, dass wir künftig Chlorhühnchen im Restaurant oder Supermarkt angeboten bekommen.
Industrie-Lobbyisten beiderseits des Atlantiks formulierten markige Forderungen. So behaupteten US-amerikanische Schweinezüchter, dass es kein Abkommen geben werde, wenn darin nicht ein bislang in Europa verbotenes Wachstumshormon für Schweine erlaubt werde. Bauern und Umwelt-Aktive sorgen sich, ob das Abkommen Wege eröffnen könnte, die Gentechnik in Europa durchzudrücken oder die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Organismen zu den Akten zu legen.

Hier das gute Europa – dort das böse Amerika?
Ach ja, die Gentechnik: Spätestens bei diesen Erörterungen fällt es meistens auf, wie die Sprechenden oder Schreibenden es mit der transnationalen Solidaritiät halten. „Monsanto ist groß, mächtig und gemein, nahezu dämonisch dieser Konzern...“ - in der Tat hat das Gentechnik- und Agrochemieunternehmen aus den USA seinen weltweit schlechten Ruf verdient. Aber leise staunt die Zuhörerin, welche Bekenntnisse und Behauptungen der verschärften Beschreibung des Monsanto-Konzernes folgen: die Weltmachtpolitik der US-Regierungen mit oder ohne erschreckende Beispiele sowie weitere Unternehmens-Untaten von Apple bis Google gehören in den Kanon. Je nachdem, wie gründlich recherchiert wurde, sind die Vorwürfe gut belegt oder mit heißer Nadel gestrickt. Aber es kommt rüber: Wir sind bedroht von skrupellosen us-amerikanischen Wirtschaftsmächten. Plötzlich scheinen wir in einer bedrohten Insel der Glückselingen zu leben. Das gelobte alte Europa wird mit Verve verteidigt. Als wäre bisher alles prima gewesen in Deutschland und Europa mit den ArbeitnehmerInnenrechten (auch wenn schon jetzt immer mehr Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen leben) und dem Verbraucherschutz sowie der tollen Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Produkte (die noch nie etwas darüber verriet, welche Futtermittel in den Trögen der Kühe, Hühner und Schweine landeten).
Vor lauter Aufregung um die Rettung Europas bleiben in vielen TTIP-Veranstaltungen ein paar Fragen außen vor. Zum Beispiel die zur EU-Rohstoff-Strategie, mit deren Hilfe die Europäische Union aus aller Welt den Rohstoff-Nachschub sichern will – auch mit militärischer Gewalt. Oder die Klimaziele, die regelmäßig und beeindruckend erfolgreich zum Beispiel im Zusammenhang mit dicken deutschen Autos aufgeweicht werden. Oder Europas Außengrenzen - war da noch was?

Anti-Amerikanismus ist das Gegenteil von transnationaler Solidarität
Ich habe auf etlichen Veranstaltungen zum TTIP zugehört und habe viele Male im Rahmen eigener Veranstaltungen Fragen über das Abkommen beantwortet. Erschreckend massiv ist mir dabei ein wütender Anti-Amerikanismus begegnet, der nicht im Sinne des Streites für faire Handelsbeziehungen sein kann. Ein plattes Freund-Feind-Schema, das so verkürzt ist wie falsch, verzichtet darauf, weitergehende Fragen zu stellen. Zu kurz kommt die nötige globale Perspektive jenseits des Wachstumsdogmas. Schon für die Verteidigung und Ausgestaltung unserer Rechte als BürgerInnen, ArbeitnehmerInnen oder VerbraucherInnen brauchen wir in einer global vernetzten Welt andere Antworten als altes Blockdenken. Manchmal machen linke Aktivisten fast das selbe wie der US-Präsident: Während letzterer ganz offen das TTIP gegen Putin installiert wissen will, geht mit den Linken ein alter Anti-Amerikanismus durch, mal hinübergerettet aus dem Anti-Imperialismus der 80er Jahre, mal frisch gemixt mit dubiosen patriotischen Anwandlungen.

Gemeinsam gegen transnational agierende Konzerne
Das Freihandelsabkommen TTIP (und dessen Geschwister CETA (ein ganz ähnliches Abkommen zwischen der EU und Kanada) sowie TISA (ein neues, zusätzliches Dienstleistungsabkommen) könnten eine Gelegenheit für neues Denken und Handeln bieten. Es wäre eine Gelegenheit, transnationale Solidarität der transatlantischen „Frei“handelsdoktrin entgegen zu setzen!
Einzelne AktivistInnen aus USA sind bereits quer durch Deutschland unterwegs gewesen und sprachen über Fracking, Landwirtschaft, Demokratie und Freihandel. Amy Goodman von Democracy now lobte anlässlich des Campact-Jubiläums-Kongresses in Berlin die dynamische Bewegung gegen die Freihandelsabkommen in Deutschland und Europa und hofft, dass sie auf ihre Landsleute ansteckend wirkt. Vielleicht passt es auch, dass es eher eine amerikanische Bewegungskultur ist, mit deren Hilfe und Weiterentwicklung beispielsweise Campact in Deutschland oder 38degree in Großbritannien innerhalb kürzester Zeit einen großen Teil der Unterschriften für die selbstorganisierte EBI zusammenbringen konnten, nachdem die EU-Kommission in einer peinlichen Entscheidung die Europäische Bürgerinitiative EBI gegen das TTIP für nicht zulässig erklärte.
Vielleicht ist die Zeit reif für eine gemeinsame Perspektive, für die es das Abkommen mit seinen ätzenden Prämissen überhaupt nicht braucht. STOP TTIP heißt in den USA übrigens STOP TAFTA, weil interessanter Weise dort die Abkürzung für den zweiten Namen des Projektes „TransAtlanticFreetTradeAgreement“ gängiger ist. Stoppen wir es gemeinsam!


GEW-Bild: TTIP bedroht nur EuropaAus einer Auflistung von geplanten Inhalten des TTIP
Die öffentlichen Dienstleistungen sind ein sehr vielschichtiges Thema, wobei entgegen der verbreiteten öffentlichen Meinung in Europa es die EU-Kommission ist, die weitaus offensivere Marktöffnungsinteressen für den US-Markt hat als umgekehrt.

Rechts: GEW-Anzeige (vollständig durch Draufklicken) in der Anti-TTIP-Beilage, bei: Junge Welt, 8.4.2015

TTIP-Demo-Mobilisierungsvideo von LobbyControll, Campact & Co., eingestellt auch auf Internetseiten der Linken usw. - voller Beispiele, wo nur US-Firmen benannt werden als Akteure. Die Abbildung rechts ist ein Screenshot auf dem Film: Nur der Doller, kein Eurozeichen.

Aus der "Kurzinfo TTIP" von Greenpeace
Selbst die Europäische Kommission räumt ein, dass dies eine "andauernde und substanzielle" Verlagerung von europäischen Arbeitsplätzen zur Folge hätte, da mehr Waren aus den USA nach Europa kämen. Bis zu 1,3 Millionen Arbeitsplätze könnten in Europa verloren gehen. ...
Mit TTIP stünde das in der EU-Verfassung verankerte Vorsorgeprinzip auf dem Spiel, ...
TTIP droht, unsere kulturelle Vielfalt einer reinen Marktlogik zu unterwerfen, die sich nach den Interessen von US-Investoren richtet. ...
Zwar soll TTIP ein Kapitel zu nachhaltiger Entwicklung beinhalten – jedoch ohne eine Verpflichtung für die USA, die erwähnten Normen und Abkommen doch noch zu ratifizieren. ...
TTIP würde viele Bereiche der Daseinsvorsorge auch für US-Investoren öffnen ...
Die strengeren europäischen Standards bei der Zulassung, Beschränkung und Kontrolle von Chemikalien könnten nun abgeschwächt werden. ...
Wenn infolge von TTIP massenhaft billige Lebensmittel von amerikanischen Industriefarmen den europäischen Markt überschwemmen, könnte dies die hiesigen kleinbäuerlichen und ökologischen Betriebe unter Preisdruck setzen und so existenziell bedrohen. ...
Angeglichene und somit niedrigere Standards in der Kosmetikindustrie würden bedeuten, dass wir in unseren Regalen bald Kosmetika mit schädlichen Substanzen vorfinden, die in der EU bereits verboten waren. Auch Produkte, die mit Tierversuchen hergestellt wurden, könnten auf den europäischen Markt kommen. ...


TTIP - eher sogar im Interesse Deutschlands als der USA?
Aus "Der Westen - oder nichts", in: Spiegel Nr. 19/2016 (S. 8)
Was die Kritiker aber übersehen: Deutschland ist eine Exportnation, deren Erfolg nicht zuletzt davon abhängt, dass sie weltweit die einschlägigen Standards bestimmt.

Ganz am Rande: NGOs auch ohne TTIP längst wie profitgeile Konzerne
Wenn TTIP die Machtübernahme der Konzerne über die Menschen ist (oder diese Machtübernahme zumindest verschärft), dann sind die NGOs offenbar schon übernommen. Wie sonst ist zu erklären, dass es einerseits für ein Manuskript von Wilhelm Neurohr zur unrühmlichen Rolle von Bertelsmann bei den "so genannten" Freihandelsasbkommen TTIP, CETA und TiSA geworben wird, andererseits aber das Buch "TTIP - Die Freihandelslüge" von Thilo Bode in genau diesem Verlagskonsortium erscheint. Aber das ist nur die gleiche Logik, wie Verbände Flaggen aus Erdölprodukten in Billiglohnländern fertigen lassen (Länder mit Freihandelsabkommen?), auf Campact-Flaggen gegen das Freihandelsabkommen mit Kanada trotzdem der verteufelte US-Konzern Monsanto abgebildet ist und Behauptungen gestreut werden, die tolle EU gerate durch das TTIP unter die Räder (als Opfer). Gemeinsam ist all diesem: Es geht um Profit - Konzernen wie Verbänden. Das ist bereits so, auch ohne TTIP. Das kritische Manuskript heißt "Bertelsmann als TTIP-Strippenzieher – Die Machenschaften des einflussreichsten TTIP-Lobbyisten und seiner Netzwerke".


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