Gießen autofrei

SAASEN AM 1. MAI 2002 UND DANACH ...

Gegendarstellung (aus dem Dorf)


1. Einleitung zur Attacke auf die Projektwerkstatt am 1.5.2001
2. Vorgeschichte: Acht Jahre Ausgrenzung und Angriffe
3. Zwei Tötungsversuche, mehrere Brandattacken, endlos viel Sachbeschädigung: Die ersten zehn Jahre
4. Was ist ein Pogrom?
5. Der "Mitte"-Mob* greift an: Bericht vom 1. Mai
6. Die Mitte setzt ihre Institutionen ein: Politische Äußerungen zum Geschehen
7. Walpurgisnacht-Vorfälle in Saasen haben Nachspiel
8. Das Trauerspiel geht weiter
9. Links zu 2001
10. Die Vorphase 2002 und das Verhalten verschiedener Teile der Gesellschaft
11. Berichte
12. Gegendarstellung (aus dem Dorf)
13. Die Monate danach
14. Scharmützel nach 2002
15. 2014 und 2015: Nazistress
16. Ende 2015: Eine Flüchtlingsunterkunft nach Saasen ...

Der folgende Text wurde uns anonym zugemailt. Er beinhaltet aber die erste Reaktion mit einer intensiveren Auseinandersetzung und auch Kritik an Menschen rund um die Projektwerkstatt (die so unterschiedlich sind wie auch die Herkunft der Texte hier)

Ich habe den Bericht auf ihrer Internetseite über die Ereignisse in der Nacht zum 1. Mai gelesen und möchte gern eine andere Sichtweise dieser Nacht beschreiben, wobei außer frage steht, dass jede Sichtweise für sich seine Berechtigung hat und doch es als sehr interessant erscheint, auch mal die andere Seite zu hören, zu lesen.
Sie berichten über ein Dorfbesäufnis, dass es so gar nicht gegeben hat. Die Dorfbewohner trafen sich wie jedes Jahr um diese Zeit zum gemütlichen Beisammensein in der Dorfmitte. Natürlich gab es außer nichtalkoholischen Getränken auch Bier, wobei man hieraus nicht gleich den Schluss ziehen sollte, dass man sich nur besaufen möchte. Die ersten verbalen Annäherungsversuche der Abgesandten der Projektwerkstatt bezogen sich auch meiner Ansicht nach rein provokativ auf das Getränk Bier. Und so kamen die ersten Äußerungen und provokativen Fragestellungen zur Gastfreundlichkeit des Dorfes. Hier könnte man vermuten, dass eine Auseinandersetzung sei es verbaler oder körperlicher Art anscheinend als Antwort erwünscht gewesen wäre, doch die "Dorfis" wollten sich nicht darauf einlassen und brachen nach kurzen Antworten das aufgezwungene Gespräch ab. Doch irgendwie wollte man sie (die „Dorfis“) nicht verstehen und versuchte immer wieder ein Gespräch aufzuzwängen. So kamen und gingen die Besucher der Projektwerkstatt zur Dorfmitte. Zum Teil selbst in einem Zustand, den man entweder als zugekifft oder als sehr gut gespielt beschreiben könnte.
So Äußerungen, wie " Warum greift ihr uns heute abend nicht an? Was hast du eigentlich für eine Schulbildung? Und ähnliche provokative Fragen mußten sich einige Dorfbewohner gefallen lassen. Wenn man denn wollte, könnte man den Betreffenden unterstellen, dass sie eine tätliche Auseinandersetzung regelrecht forderten, damit die ganzen Vorbereitungen der Projerktwerkstatt nicht für umsonst waren. Es ist eigentlich den Dorfis hoch anzurechnen, dass sie trotz Alkoholkonsums auf solcher Fragen, die zum Teil auch noch unter die Gürtellinie gingen , ruhig oder gar nicht reagieren haben. Es kann durchaus sein, dass man die „KonfliktmanagerInnen“ extra mit solchen Aufträgen betraut hat, doch sollte man sich auch fragen, wie die Projektwerkstattbesucher mit solcher Provokation umgegangen wäre. Den ganzen Abend und die ganze Nacht über nahmen nur die Besucher der Projektwerkstatt Kontakt zu den Dorfbewohner auf, man versuchte dann mit selbstgebackenem Brot an die Dorfbewohner heranzukommen, um auch Bier für den eigenen Konsum zu bekommen. 
Alles nur Taktik? Schade eigentlich, denn ich hatte den Eindruck, dass zum Teil auch interessante Gespräche zwischen den verschiedenen Abgesandten und Dorfbewohnern liefen, die übrigens die „Dorfis“ zu einem Be-such in die Projektwerkstatt eingeladen haben. Man lud zu Sojamilch, grünen Tee, Musik und Gesprächen ein. Unterstrichen wurde dies mit Flugblättern zum Thema“ Macht ,Herrschaft“, die zum Lesen angeboten wurden. An einem solchen Abend bestand jedoch absolut kein Interesse weder an solchen Themen noch an solchen Dis-kussionen. Nach dem dann aber irgendwann die Besucher der Projektwerkstatt von anderen Besuchern dringend gebeten worden sind wieder zurückzukommen, gingen sie mit der Bemerkung dann kommt doch mal vorbei. So kam es dann auch, dass einige „Dorfis“ der Einladung folgten. In dem Bericht von Ihnen liest sich das eher an-ders, so als ob man sich aufgrdrängt habe. Man sollte sich also zum einen Gedanken über die eigene Gastfreund-schaftlichkeit machen und sich vielleicht vorher genauer absprechen, ob man jemanden einladen will. Es ist unfair, sich hinterher die Sache so hinzubiegen, dass man im besseren Licht steht, als die Gegenpartei. Die Dorf-bewohnerInnen haben nicht zu Gesprächen an diesem Abend geladen, die Besucher der Projektwerkstatt schon. 
Ach ja die letzen Anfragen ob wir noch Bier haben gab es dann gegen drei Uhr, dass heißt, dass die Besucher nicht von den „Dorfis“ wachgehalten wurden, sondern eher selbst das Bedürfnis hatte, denn sonst hätte man um diese Uhrzeit nicht mehr zum Brunnen kommen müssen.
Ich hätte auch gern noch Meinungen von Besuchern gelesen, die sich mit „Dorfis“ unterhalten haben und in der Dorfmitte Präsenz waren, denn der Schreiber des Berichtes von der Internetseite kann wohl kaum gewußt haben, welche Stimmung am Dorfbrunnen war und welche Gespräche dort liefen. Man könnte annehmen, dass er zu sehr mit dem Verteidigungskonzept, was man ja lesen konnte , beschäftigt war und nur darauf gewartet hat, dass es doch endlich losgehen könnte. Ich finde es schon ganz schön heftig, welche Konzepte von Ihnen aufgestellt worden sind angesichts Ihrer sonstigen Einstellungen zur Gewalt. 
Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Mail in Ihrer Seite veröffentlichen, denn jedem sei das Recht auf freie Meinungsäußerung zu gewähren und sonstige mails werden ja auch zum Lesen freigegeben.
Ich denke, wenn Sie Ihren den nächsten Bericht wertungsfrei schreiben, könnte man eher nicht den Eindruck bekommen, dass Sie den Dorfbewohner oder mit Ihren Worten „ Dorfis“ etwas unterstellen möchten. Ich bin der Meinung, dass niemand der anwesenden Dorfbewohner an diesem Abend vorhatte, in irgendeiner Form mit Ihnen und Ihren Besuchern in Kontakt welcher Art auch immer zu treten und ich finde es nicht gut, wenn man schon im Vorfeld sich ein solch brutales Bild von den Dorfbewohnern macht und dieses dann auch noch ver-breitet. Vielleicht hilft es ja, wenn man sich Gedanken um seine eigene Einstellung macht und verändert sie dadurch und fördert nicht durch Provokation Streitigkeiten, die dann eskalieren könnten.
Jeder sollte ich sein eigenes Bild machen können und nicht durch einseitige Erlebnisbeschreibungen beeinflußt werden.


Eine Antwort aus der Projektwerkstatt

Hallo,
vielen Dank für den Text. Natürlich stellen wir den auf die Internetseite, die ja nach allen Seiten ein offenes Forum ist. 
Danke auch deshalb, weil es die ERSTE kritische Auseinandersetzung über uns MIT UNS ist.
Zu den einzelnen Vorwürfen will ich nichts schreiben, u.a. auch deshalb, weil wir uns grundsätzlich möglichst herrschaftsfrei organisieren (wie die Selbstkritik auf der Internetseite zu lesen ist, ist uns das nur teilweise gelungen) und das auch bedeutete, daß an dem Abend mehrere Teilgruppen von Menschen selbstbestimmt agierten. Zwei davon kamen ZUM GLÜCK nie zum „Einsatz“ - die dienten der direkten Abwehr von Aggressionen.
Ich wegen unserer Aufteilung keine Ahnung, wer wie am Dorfplatz agiert hat. Ich fand es aber schön, daß Menschen, die hier waren und die Projektwerkstatt verteidigen wollten, weil sie die wichtig finden und auch schon für sich genutzt hatten u.ä. (also die Qualität von „Freiräumen“ kennen, in denen nicht Vorsitzende, Vorstände, Regeln oder Moral alles oder vieles kontrollieren), den Kontakt zu „Dorfis“ suchten. Sie waren interessiert an den Gründen für die Eskalation - und nicht auf der Suche danach.
Dorfis ist im übrigen kein erniedrigender Begriff, sondern z.B. das Gegenstück zu Studis (für StudentInnen) - wir überlegen sogar, uns nur so auszudrücken, weil wir die ständige Einteilung in männlich/weiblich bei Bezeichnungen für Menschen für völlig blöd halten - für fast alles in der Welt ist das ja völlig wurscht.
Nur ein Punkt überrascht mich sehr grundlegend: Daß Sie komplett kein Verständnis dafür haben, daß wir Angst haben. Wir haben hier in den neun Jahren einen Mord- und Brandanschlag von „Dorfis“ (1995), Hunderte von Sachbeschädigungen, mehrere Angriffe rund um den jeweiligen 1. Mai (mit Sachschäden bis mehrere 1000 DM, z.B. am 1. Mai 1993, also wenige Tage nach unserem Einzug ohne vor jeglichem Konflikt!) und ständige Anpöbeleien, etliche Male auch mit Todesdrohungen kassiert. Der Höhepunkt (mit Verletzten!) war letztes Jahr. Im Gegenzug dazu hat es NIE Angriffe von uns gegeben. 
Wie würden Sie in einem solchen Fall denken? Würden Sie neun Jahre nicht einmal Verteidigungsstrategien diskutieren, wenn andere sie ständig angreifen und ihnen mehrfach Mord androhen? Es ist mir schlicht unverständlich, warum Sie sich nicht einmal vorstellen können, daß wir uns überlegen, uns zu verteidigen und auch zu wehren. Das finde ich auch schade, weil auf dieser Basis des „Stellt Euch nicht so an“ Diskussionen kaum möglich sind.
Ich würde mich freuen, wenn Sie bei aller Kritik anerkennen würden, daß wir Menschen sind. Wir haben nicht nur eine offensive Liebe und Sehnsucht nach Freiheit und Selbstentfaltung, in der alle Menschen (auch Sie und alle SaasenerInnen!) das tun, was sie wollen (und nicht, was die Chefs, Eltern, der Markt oder das System von ihnen verlangt), und sich freuen, wenn andere Menschen sich auch selbst entfalten, weil das allen hilft, wenn mehr Ideen und Möglichkeiten in der Welt wären ... sondern wir haben auch Ängste. Wir möchten, weil wir wissen, daß Ängste kein schönes Gefühl sind, andere Wege einer Koexistenz finden als die platte Gegenwehr. Wir wüßten auch nicht, was geschieht, wenn wir auch Reifen abstechen, Häuser angreifen - was gegen uns ständig gerichtet ist. Angst als politisches Mittel ist unmenschlich. Daher wollen wir das nicht. 
Aber ich schüttele den Kopf darüber, daß Sie auch nach 9 Jahren so tun, als gäbe es nichts, was für uns Grund für Angst und Gegenwehr ist.
Das siebte Geißlein ;-)


Antwort wiederum darauf

Hallo,
vielen Dank für die schnelle Veröffentlichung meiner Gedanken. Es ist Schade, wenn Sie die verschiedenen angesprochenen Punkte als Vorwürfe sehen, denn sie sind eher als positive Kritik zu sehen, die einfach nur der Anregung zum Nachdenken dienten bzw. eine andere Sicht- und Denkweise verdeutlichen sollten. 
Ich habe im übrigen in keinster Weise Ihnen die Angst abgesprochen, die Sie ja wirklich empfinden. Dieses Recht könnte ich mir gar nicht anmaßen, da ich viel zu wenig über die Geschehnisse der letzten Jahre weiss. Ich habe nur meine Gedanken zu Ihren Verteidigungsstrategien geäußert, die mich beunruhigt haben und habe formuliert, was ich aus diesen Berichten herauslesen könnte, wenn ich dann böswilliges unterstellen wollte. Das Schubladen –Denken ist also auch bei Ihnen etwas vorhanden, dass wieder mal erkennen läßt, dass wir alle nur Menschen sind, so wie ich auch einer bin, der sagt, was er denkt.
Das mein Bericht aus meiner Sicht authentisch ist glaube ich schon, weil ich vor Ort und mittendrin war. Mein Name erscheint genauso wenig wie der des Schreibers Ihrer Seite und ich denke , dass der Name nicht so wichtig ist, wie der Inhalt des Geschrieben, dass zur Anregung für Diskussionen hilfreich sein könnte.


Im Original: Noch eine Stimme von außerhalb
Kleiner Rückblick auf die Nacht vom 30. April zum 1. Mai in der Projektwerkstatt Saasen
Komme leider jetzt erst dazu, meine Eindrücke kurz zusammenzufassen.
Meinen Namen möchte ich nicht nennen, denn warum soll mann/frau es der Abteilung Ausforschung des Trachtenvereins „Grün-Weiß“ Wiesbaden einfacher machen als unbedingt nötig (ich gehe davon aus, daß die regelmäßig Eure Homepage „besuchen“)?
Ich war der etwas mundfaule stämmige, grauhaarige, ältere Typ, die Begleitung der jüngeren Frau (Aufgabengebiet: ohne Zusatz die ideale Sommererfrischung ;->.
Wir Beide wohnen in der Nähe und waren wohl mit gemeint bei den vier Leutchen aus der Region.
Ein paar Tage vor dem 1. Mai hat mich die gute Bekannte auf die Internetseiten der Werkstatt und den zu erwartenden Angriff von Stinos am 1. Mai hingewiesen. Obwohl ich nicht weit weg wohne, war mir die Projektwerkstatt nur beiläufig bekannt. Zwar zähle ich mich seit rund einem Vierteljahrhundert zur undogmatischen Linken, aber offensichtlich nicht zu der in Saasen etablierten Fraktion.
Wenn aber irgendwo Linke angegriffen werden, ist es für mich kein Problem mich auch ganz praktisch solidarisch zu erklären. Mit körperlichem Einsatz habe ich dabei etwas Probleme (so war ich immer heilfroh von den B..... bei diversen Demos nicht angegriffen worden zu sein (mit ganz wenigen Ausnahmen), bzw. immer rechtzeitig weggekommen zu sein) - weniger aus grundsätzlichen Überlegungen, sondern eher, weil ich nicht der Mutigste bin. Deswegen versuche ich vor politischen Aktionen immer die Situation möglichst genau abzuchecken. Also überlegte ich: wen kennst du aus Saasen. Direkt niemand, aber aus der politischen Arbeit kenne ich M.. Mit ihm habe ich jahrelang sehr gut zusammen gearbeitet. In seiner Jugend muß er auch bei den Linken gewesen sein. Heute hat er von der Politik „die Schnauze voll“, macht kaum noch was und kümmert sich sonst nur noch um die family (wie das fast alle mir aus besseren Tagen bekannte Genossen und Mitstreiter machen). M. ist in Saasen groß geworden, seine Verwandtschaft lebt - zum Teil noch - dort, er selber hat ein kleines Häuschen in einem Reiskirchener Ortsteil.
Der Anruf bei M. war ernüchternd. Zwar gab es Hindergrundinfos, aber als es um die Frage ging am 1.Mai präsent vor Ort zu sein, wurde es unproduktiv. Ich hatte den Eindruck, da wurden alle Gründe gegen die Werkstatt und/oder Jörg zusammengekehrt, um ja nicht „Flagge zeigen zu müssen“. 
Vielleicht sind einzelne Gründe der auch emotionalen Ablehnung des Projektes auch berechtigt, aber das interessiert mich weniger. Im Vordergrund sollte meines Erachtens die zentrale Frage stehen: Versuche ich mitzuhelfen, daß da ein langschwelender und langanhaltender Konflikt nicht in eine Pogromsituation umkippt (oder lasse ich es).
M. empfahl mir mit H. diesbezüglich zu telefonieren. H. ist der Mensch, der nach Schilderung eines Beteiligten am 30. April abends versuchte angereiste „Hausschützer“ in einer mehr oder weniger aufgezwungenen Diskussion von ihrem Tun abzuhalten. Das finde ich daneben, was soll das, da sind Aktivisten stundenlang mit der Bahn unterwegs (unter anderem auch deswegen, weil offensichtlich die örtliche Linke nicht in der Lage ist, den Konflikt zu entschärfen) und dann werden sie quasi aufgefordert auf dem Absatz kehrt zu machen .... !
Also ich rief H an. Ich kenne H. von vor 20 bis 25 Jahren. Damals war er ein exponierter Linker, immer bereit für seine Einstellungen zu kämpfen. Heute erkenne ich ihn mit seinen politischen Ansichten kaum wieder. Ich kann mir darauf nur bedingt einen Reim machen. Ich denke das hat bei M. und H. sehr viel damit zu tun, daß sie - aus welchen Gründen auch immer - sich im Laufe der vielen Jahre an das soziale Umfeld angepaßt haben.
Ich möchte das nicht bewerten, vor allen Dingen nicht sofort völlig negativ. Ich selber bin vor etwa 20 Jahren in den Vogelsberg gezogen. Ich weiß, unter welchem Anpassungsdruck der Einzelne steht, sich „in das Vorgefundene“ zu integrieren. Mir war immer bewußt, wenn ich diese Anpassung nicht will, daß ich auch verhindern muß, daß dieser Druck einen Ansatzpunkt findet (und damit erst wirken kann oder genauer übermächtig werden kann). Ganz konkret ging und geht es immer noch darum, größtmöglichen persönlichen Freiraum - in Eurem Umfeld wird dann wohl von Autonomie gesprochen - sich zu bewahren.
Oder ganz simpel ausgedrückt: keine Familie zu gründen, kein Haus zu kaufen, beruflich nicht auf die Mitbürger angewiesen zu sein, nur die gesellschaftlichen Aktivitäten zu entwickeln, die einem nicht allzu sehr in eine geschlossene Gemeinschaft binden, .... und solcher Dinge mehr.
Da es bei diesen Dingen um so etwas wie Lebensglück geht, tue ich mich sehr schwer anderen Menschen, auch (und gerade ehemaligen) Genossen, Vorschriften zu machen. Die behaupten - ob zu Recht sei dahingestellt - daß ihr individuelles Lebensglück eben - gerade nach langen, vermeintlich erfolglosen, aber „opfervollen“ Kämpfen für die „gute Sache“ - auch ein Existenzrecht hat (und das nehmen sie sich jetzt eben). Andere Linke, die noch kämpfen, werden dann sehr schnell als Störenfriede dieses individuellen Glückes angesehen, von denen sich die Ex-Linken zwar nicht unbedingt öffentlich distanzieren (soweit geht das selten), aber mit denen sich diese „im-Mainstream-Angekommenen“ ungern solidarisieren.
Natürlich ärgere ich mich, denn langsam komme ich mir vor wie der letzte Mohikaner (und wer will ein solcher schon sein). Aber was soll‘s, ich muß es akzeptieren. Fairerweise muß ich aber sagen, daß da der Vogelsberger (genauer müßte ich wohl sagen, der Mitbürger in kleinen Ortschaften) erstaunlicherweise - so meine Erfahrungen - stark unterscheidet. Ist ein Linker am Ort groß geworden (Besonderheit dabei: ist er Kind oder Enkel eines Flüchtlings oder nicht) oder ist er nur zugezogen. Ich kann mich noch gut an eine etwa 15 Jahre zurückliegende politische Aktion erinnern, bei der es kurz vor einer Schlägerei stand. Daß ich da als Zugezogener „mitrührte“ interessierte keinen Ur-Vogelsberger wirklich, auch nicht besonders, daß der Fraktionsvorsitzende das große Wort führte (er war und ist ja nur ein Flüchtlingssohn), ausschlaggebend war einfach, daß auf unserer Seite (nicht nur im übertragenen Sinne) der Sohn eines hoch angesehenen Ur - ..... agierte (verhalten, aber doch deutlich sichtbar). So konnte die Gewaltspirale gerade noch gestoppt werden.
Vielleicht ist das auch eine Erklärung dafür, daß nur vier Leutchen aus der Region zur Unterstützung anwesend waren. Natürlich gibt es im Vogelsberg auch noch Linke (wie überall wahrscheinlich im Promillebereich in Bezug auf die Gesamtbevölkerung gesehen), die waren nur nicht da.
Zum Ablauf der Nacht will ich nicht groß etwas sagen. Ich war nur sehr überrascht, als die Menge so um Viertel vor zwei auf das Haus vorrückte. Das waren ja (fast alles) Stinos. Das hätte ich nicht gedacht. Ich hätte zum Beispiel viel mehr Jugendliche erwartet. Also knapp zehn Minuten hatte ich Angst es könnte rund gehen, aber danach war klar, die Stinos greifen schlicht und einfach nicht an, weil wir augenscheinlich in der Überzahl waren.
In einem Gespräch ein paar Tage später mit der Frau, in deren Begleitung ich war, ging es dann schon um die Frage: Was muß geschehen, daß sich das Ganze nicht nächstes Jahr wiederholt? Oder anders gesagt: Wie das ganze Jahr zur Deeskalation nutzen. Wir waren uns in der Einschätzung der Situation nicht ganz einig. Dreh- und Angelpunkt ist meines Erachtens, wie das Verhalten der Ortsbevölkerung einzuordnen ist.
Nur mit so etwas wie dem „beschränkten Horizont der Landbevölkerung“ zu argumentieren versperrt den Blick für Lösungsansätze. Sicherlich gibt es im Ort das vereinfachte Denken: Die von der Projektwerkstatt passen sich nicht an - die müssen aus dem Ort weg, aber das greift zu kurz.
Zwischenbemerkung: Vor zwei Wochen erinnerte ich mich, daß ich doch eine Frau aus Saasen - wenn auch flüchtig - kenne. Ich rief sie an und fragte unverblümt nach ihrer Einstellung zur Werkstatt. Nach dem Telefonat halte ich viel weniger von der Frau, denn es kamen nur platteste Argumente gegen Werkstatt/Jörg, die sich hier zu zitieren nicht lohnen. In wieweit diese Frau, übrigens eine sogenannte „Eingeheiratete“, hier nur den örtlichen Konsens formulierte oder ob sie das selber auch glaubt, muß ich im Moment dahin gestellt bleiben lassen (zumindest bis ich im Herbst die Gelegenheit habe im lockeren Rahmen da nochmal nachzufassen).
Ist das Verhalten der Ortsbevölkerung auch unter aller Sau, sich nur darüber aufzuregen bringt für die Zukunft wenig. Meines Erachtens ist es hilfreich, die Beweggründe des Verhaltens (ein ganz kleiner Teil schlägt zu, ein Teil bagatellisiert und der größte Teil ist desinteressiert) sich näher anzuschauen.
Und da gibt es aus den letzten Jahrzehnten schon lehrreiche Beispiele. Ende der Siebziger sind unzählige Wohngemeinschaften aus dem Frankfurter-, Giessener- und Marburger Raum in den Vogelsberg gezogen. Heute gibt‘s die meisten nicht mehr oder es sind stinknormale Familien draus geworden. Ein paar haben sich aber festgesetzt, es sind Tagungshäuser geworden, (ehemals) autonome Klein-Handwerksbetriebe ... oder auch irgend etwas im künstlerischen Bereich. Sie alle hatten mit der „Vogelsberger Sturheit“ zu kämpfen, haben sich angepaßt, widerstanden oder sind (wieder) weggezogen. Da gab es nicht nur zwischen den einzelnen Ortschaften Unterschiede, sondern auch in wieweit der „Neubürger“ für die Gemeinschaft „von Nutzen war“. Ich (als nur in der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse der tradtionellen Linken Zuzuordnender) halte das für den entscheidende Knackpunkt. Jahrhundertelang wurde - pauschal-galaktisch betrachtet - das Land von der Stadt ausgebeutet. Die ländliche Bevölkerung mußte deswegen eine Verhinderungsstrategie dagegen entwickeln, eben die sogenannte Dorfgemeinschaft.
Ich meine damit nicht in erster Linie „die Gesellschaft mit beschränktem Horizont“, diese Ausformung gibt es sicherlich auch, ist meines Erachtens aber nicht (mehr ?!) ausschlaggebend, sondern das sich gegenseitig helfen (positiv ausgedrückt) oder die Vetternwirtschaft (etwas bösartig).
Noch heute ist es so, daß recht bald beim Zuzug eines Fremden ein darauf spezialisierter Ortsbürger beim Zugezogenen die Lage peilt. Was vielleicht dem Städter als Ausforschung seines persönlichen Umfeldes erscheint (gegen das er sich zu Recht wehrt), dient aber lediglich dazu abzuchecken, in wieweit der Neue der Gemeinschaft von Nutzen sein kann. Konkret, ob er bereit ist zur Nachbarschaftshilfe, ob er einem nützliche Kontakte besorgen kann, ob er Geschäftskunde eines ortsansässigen Unternehmens werden kann ... und solche Dinge, die spätestens beim zweiten Blick einen sogenannten „geldwerten Vorteil“ versprechen. Der „Ausforscher“ kann, bei positiver Resonanz, dann die heißen Tipps für beide Seiten, Neuankömmling und Alteingesessener, geben, der dann weiterführende „Geschäftsverbindungen“ schafft. Einmal im System angekommen, ist das dann schnell ein Selbstläufer.
Für mich entscheidend ist dabei, daß dieses System völlig unabhänig von der politischen Überzeugung des Einzelnen funktioniert. Zumindest ich habe, wenn ich mich darin einbinden habe lassen, immer das gesagt, was ich für richtig halte. Letztendlich geht es ja um gegenseitige finanzielle Vorteile und nicht darum, dem Gegenüber seine Weltsicht aufzudröseln. Okay, so ganz ohne innere Überwindung lief das auch bei mir nicht. Wenn ich irgendwo hinkam und mich begrüßten die offensichtlich mit dem Dampfstrahler gereinigten Gartenzwerge im streichholzkurz gemähten Vorgarten, dann fragte ich mich schon, ob ich hier richtig war. Aber wie sagt eine Bekannte von mir immer: Die größte Hoppla (Vogelsberger Ausdruck für die Giessener Psychiatrie) hat kein Dach!
Zurück zur Werkstatt. Ich denke Saasen hat es sich abgeschminkt, daß die Werkstatt in dieses System einzubinden ist. Warum auch immer ist dabei zweitrangig. Hier mit gegenseitigen Schuldzuweisungen zu arbeiten ist maximal unterhaltend. Einerseits dürfte die Werkstatt auf Dauer zumindest das ungeliebte Kind des Dorfes sein und umgekehrt muß sich die Ortbevölkerung damit abfinden, dass die „Exoten“ mitten im Dorf leben.
Mehr zu wollen, wie etwa eine Integration ist fern der momentanen Realität (zumindest für die nächsten Jahre).
Meines Erachtens heißt das im Vorfeld des nächsten 1. Mai, am besten schon jetzt, Maßnahmen anzudenken und dann zu versuchen umzusetzen, die weniger in die Richtung gehen: Menschen die sich kennen, schlagen nicht aufeinander ein (eine erstmal sich verfestigte Meinung ist mit Argumenten nicht mehr zu kippen), sondern jeder Angriff wird zurückgeschlagen (Wir von der Werkstatt haben den längeren Atem, wir lassen uns nicht vertreiben!). Das heißt aktuell sich weniger aneinander zu reiben, sich eher zu ignorieren. Und sich natürlich - wie schon in anderen Beiträgen näher ausgeführt - besser für das nächste Jahr vorzubereiten.
Ist diese Distanz erst einmal gelebt, also die eigene Identität in der Praxis gefestigt, so kann ein neuer Anlauf des Aufeinanderzugehens gestartet werden. Dann hoffentlich mit weniger Aufregung, eine Voraussetzung zu einer weniger aggressiven Umgangsweise. Auch für diesen Ansatz gibt es Beispiele, so zum Beispiel die Idee von der multikulturellen Gesellschaft. Das funktioniert ja nur in der BRD nicht, anderswo, wie in Kanada zum Beispiel, klappt das einigermaßen zufriedenstellend.
Soweit der doch etwas länger gewordene „Rückblick“.
Ich schaue ab und zu im Netz nach, ob sich jemand auf meine Gedanken bezieht, damit geg.falls die Diskussion weitergehen kann.
no pasaran - der „Weißhaarige“


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