Seitenhieb-Verlag

GEWALTFREIHEIT: STRATEGIE, UTOPIE ODER DOGMA?

Gut und Böse: Identitätsstiftende Kraft der Gewaltfreiheit


1. Die Argumente pro Gewaltfreiheit - und was davon zu halten ist
2. Offene Fragen und blinde Flecken der dogmatischen Gewaltfreiheit
3. Gut und Böse: Identitätsstiftende Kraft der Gewaltfreiheit
4. Der Machtanspruch gewaltfreier Dogmatik
5. G8-Gipfel 2007 Heiligendamm: Dogma und Kontrolle
6. Staat und Gewalt
7. Kritik an dogmatischer Gewaltfreiheit
8. Links

Wie schlecht auch immer Gewaltfreiheit begründet wird, die Verbindung des Heilsversprechens (politischer Erfolg durch Gewaltfreiheit) mit der der als Verteufelung aufgezogenen Kritik der Gewalt reicht, um dem Dogma eine identitätsstiftende Kraft zu verleihen. Gelübde in Form von Selbstverpflichtungserklärungen und einprägsame Botschaften gehören zum Kanon der Selbstvergewisserung. Wie bei anderen Identitäten auch, geschieht dieses zusammen mit der stabilen Bildung von Innen und Außen, also der Abgrenzung vom Andersartigen. Es klingt wie Hasspredigten gegen das Böse.

Im Original: Gewaltfreiheit, Abgrenzung und Hegemonie
Erklärung der War Resisters‘ International, in: Graswurzelrevolution Oktober 2001 (S. 17)
Wir sind uns bewusst, dass unsere Gewaltfreiheit beinhalten muss, sich der Gewalt von Polizei und Staaten zu stellen, Gewalt gewaltfrei zu widerstehen, und Gewalt durch eine kleine Minderheit von BewegungsaktivistInnen zu verhindern.

Aus der Presseinfo "Atom-Ausstieg - nur mit der ödp!" vom 22.3.2001
"Wir demonstrieren gegen eine unverantwortbare Risikotechnologie, für die Bewahrung der Schöpfung", erläutert Prof. Dr. Klaus Buchner die Beweggründe seiner Partei. Dabei distanziert sich die ödp von jeglicher Gewalt gegen Personen und Sachen und verurteilt die jüngsten Vorfälle.

Schweizer Bundesamt für Polizei im Juli 2001 in der Studie "Gewaltpotenzial in der Antiglobalisierungsbewegung"
Den Anliegen und der Dialogbereitschaft der erklärt gewaltlosen Akteure innerhalb der Antiglobalisierungsbewegung muss mehr Beachtung geschenkt werden. Sie sollten in ihrer Abgrenzung gegen die gewaltbereiten Gruppen aktiver unterstützt werden.

Aus: Pressemitteilung von Greenpeace am 2.4.2001
Die friedlichen Anti-Castor-Demonstranten im Wendland - und das waren 95 Prozent - haben mit der kleinen, gewaltbereiten Minderheit von Protestierenden nichts zu tun.

Horst-Eberhard Richter in der Werbezeitung von attac, Beilage zur Jungen Welt 5.10.2001
Die gewaltträchtigen Begleiterscheinungen bei ihren Auftritten in Seattle, Göteborg und Genua haben davon abgelenkt, dass die schnell wachsende Kerngruppe der Kritiker, in der Organisation Attac vernetzt, sich im allgemeinen Unbehagen über eine internationale Unordnung vereint hat, die ...

Aus "Trau keiner über dreißig!", Graswurzelrevolution Sommer 2002, S. 2
Seit Anbeginn schreibt die "Graswurzelrevolution" gegen das Klischee des "bombenwerfenden Anarchisten" an und versucht, dagegen das Konzept der gewaltfreien Revolution, der gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams zu verbreiten, das sich ebenfalls in der Tradition der anarchistischen Bewegung findet.

Wuppertaler Rundschau / Mittwoch, 28. August 2002
Demo gegen Gelöbnis
... Mit einer - betont friedlich ausgerichteten - Gegendemonstration wird dann das „Wuppertaler Bündnis gegen Krieg“ präsent sein. Das „Bündnis“, das mit zwischen 500 und 1.000 Gelöbnis-Gegnern rechnet, hat sich „nach sehr sachlichen und sehr kooperativen Gesprächen“ mit der Polizei darauf geeinigt, sich in unmittelbarer Sicht- und Hörweite im Bereich von Auer Schulstrasse und Friedrich-Ebert-Strasse zu platzieren. Die Initiatoren des „Wuppertaler Bündnisses gegen Krieg“ legen Wert darauf, den feierlichen Rahmen der Gelöbnisveranstaltung nicht durch Trillerpfeifen oder Wurfgeschosse stören zu wollen. Allerdings wolle man sehr deutlich sichtbar gegen die Unsinnigkeit einer solchen Bundeswehr-Aktion protestieren. Falls „Autonome“ oder andere Gruppen den Boden des friedlichen Protestes verlassen wollten, werde man „sehr massiv versuchen, auf diese Demonstranten einzuwirken“.


Aus "Kopenhagen 2002" Nr. 2 (S. 1)
Das dritte, breiteste Bündnis in Dänemark wird von "Stop Unionen", der Initiative für ein anderes Europa und weiteren Gruppen - vor allem professionellen NGOs - gemeinsam gebildet. Es nennt sich "NGO-Forum - Stop Volden" (NGO-Forum - Stoppt die Gewalt) und hat nahezu ausschließlich den friedlichen Verlauf der Proteste und Demonstrationen zum Ziel. Dies geht so weit, dass für die zentrale Demonstration dieses Bündnisses, das sogenannte "Volkstreffen" am Samstag (14.12) ab 12.20 Uhr, keinerlei inhaltliche Festlegungen außer der Parole "Stoppt die Gewalt" getroffen wurden.

Antideutsche gegen Militanz (Quelle)
Dabei verdiente die absurde Idee, mitten in völlig bewegungsflautigen Zeiten militant und im größeren Maßstab staatliche und "kapitalistische" Einrichtungen anzugreifen, durchaus scharfen Widerspruch.

Über Peter Wahl im Film "Gipfelstürmer und Straßenkämpfer" (Laika-Verlag, 2011)
Er dringt deshalb stets auf strikt gewaltfreie Aktionsformen. Wenn einzelne Gruppen Gewaltaktionen nicht ausschließen wollen, erzwingt er eine offizielle Distanzierung. ... "Wir wollen das nicht ... man muss sich dagegen schützen ... Spinner, die so etwas machen"

Vereinnahmen aller als "Wir", Ausgrenzung und unbedingte Friedenspflicht
Anzeige des AK Vorratsdatenspeicherung zur Demo "Freiheit statt Angst" in Berlin am 11.10.2008, in: Junge Welt, 10.10.2008 (S. 4)
Jeder von uns fordert mit seinem Erscheinen auf der Demo den Erhalt demokratischer Grundrechte ein, die er oder sie in konkreter Gefahr sieht. Da die Freiheit des Einzelnen die Freiheit der gesamten Gesellschaft definiert, muss der politische Dialog und die Zusammenkunft auf einer Demonstration friedlich verlaufen. Wir, die beteiligten Organisationen und einzelnen Unterstützerinnen der Demonstration "Freiheit statt Angst" stehen für den konstruktiven politischen Dialog. Jede Form von Gewalt erzeugt Angst, Angst verhindert Freiheit ... Um unser politische Ansinnen möglichst nachhaltig zu vermitteln, wünschen wir uns die unbedingte Einhaltung der Friedenspflicht aller beteiligten Institutionen, Organisationen und Personen.

Aus Mathias Edler (2001): Demonstranten als "Staatsfeinde" - "Staat" als Feindbild?", Alte Jeetzel-Buchhandlung (S. 119). Edler war bei Erscheinen des Buches Sprecher der BI Lüchow-Dannenberg
Die im Vorfeld schon ausgiebig praktizierte Betonung des eigentlich selbstverständlichen "gewaltfreien" Aktionsverhaltens hat diese trennende Wahrnehmung zur Folge. Indem die Aktivisten von "x-tausendmal-quer" die Anlaufstelle für die meisten Gorleben-Demonstranten, den symbolträchtigen Ort vor dem Dannenberger Verladekran für sich reklamieren und damit zur "gewaltfreien Zone" erklären, werden die anderen Aktionsorte an der Strecke automatisch zu "Gewaltzonen" abgestempelt. Die Ursache liegt in dem Versuch, das den Atomkraftgegnern zugedachte Feindbild nicht als solches ad absurdum zu führen, wie dies die Bauern mit der Kampagne "Wir sind die Chaoten!" getan haben, sondern beweisen zu wollen, dass die Teilnehmer der Aktion diesem Feindbild nicht entsprechen. Dabei wird das Feindbild aber grundsätzlich angenommen, man reagiert hier nur mit dem Reflex "Ja, aber wir sind anders!". Dadurch begünstigt "x-tausendmal-quer" unbeabsichtigt die von Politiker-, Polizei- und Medienseite vorgenommene Spaltung in "gute" und "böse" Demonstranten, in "gewaltfreie Bürgerinitiativler" und "militante Autonome". Der in den Medien und den Parlamenten erreichte politische Raum wird hier auf Kosten anderer Atomkraftgegner erreicht, die nicht automatisch weniger "gewaltfrei" sein müssen als die "x-tausender".

Aus einem Interview mit dem geschäftsführenden Vorstand der Bewegungsstiftung, Matthias Fiedler, in: Die Stiftung 2/2014 (S. 46)
Nur wer Gewalt ausübt oder die Würde anderer Menschen verletzt, fliegt für mich aus diesem Diskurs.

Wie eine Religion: Gewaltfreiheit als Gesamtideologie
Mit ihrem umfassenden Anspruch trägt die Ideologie der Gewaltfreiheit religiöse Züge. Sie walzt mit getrübtem Blick über Widersprüche und offene Fragen hinweg. Sie denunziert Andersdenkende und hält den eigenen Anspruch für höherwertiger als abweichende Vorlieben, Konzepte und Strategien.

Im Original: Gewaltfreiheit und Bekenntnis
Beispiele für Plädoyers pro Gewaltfreiheit
Aus dem Buch von Gernot Jochheim, 1984: Die gewaltfreie Aktion. Rasch & Röhring, Hamburg.
Zur Definition von Gewaltfreiheit und gewaltfreier Aktion:
Die Träger von gewaltfreien Aktionen halten Personen nicht fest und verletzen niemanden, zerstören in der Regel keine Sachen, die nicht ihr Eigentum sind ... (S. 23)
Ist doch das Wesensmerkmal der gewaltfreien Konfliktaustragung allein vom Begriff her der Verzicht auf Gewaltanwendung. ... Wo immer Menschen auf der Welt bewußt und aktiv auf gewaltfreiem Weg gesellschaftliche und politische Veränderungen erkämpfen wollen oder gewaltfreien Widerstand leisten, tun (oder taten) sie dies auf der Grundlage eines Gewaltfreiheitsverständnisses, dessen Grundsätze nicht voneinander abweichen. (S. 288f.)

Zu Sabotage und Gewalt gegen Sachen:
Was bringt ein Sabotageanschlag, selbst wenn er erfolgreich ist und großen Schaden anrichtet? Im Grunde nichts, jedenfalls nichts Gutes. ... Der Terror liegt, darüber sind sich viele Saboteure nicht im klaren, in der Konsequenz der Sabotage. Gegenwärtig verwenden die Saboteure noch große Sorgfalt darauf zu verhindern, dass bei ihren Aktionen Menschen zu Schaden kommen, doch läßt sich das auf die Dauer kaum durchhalten. ... Was macht ein Sabotagetrupp, der glaubt, einen Spitzel in seinen Reihen enttarnt zu haben? Und was geschieht, wenn sich, nachdem er "unschädlich" (wie es so schön heißt) gemacht wurde, nachträglich herausstellt, dass er unschuldig war? Was geschieht, wenn ein Sabotagetrupp bei der Aktion erwischt wird? Das sind keine Ausgeburten eines kranken Gehirns, das hat sich vielmehr immer wieder ereignet. Den meisten Menschen fehlt es offensichtlich entweder an Phantasie oder an Erfahrung und Kenntnissen, um sich die Konsequenzen ihres Handelns vorzustellen. ... Sabotage kann langfristig nur konspirativ gemacht werden. Konspiration aber bedingt eine möglichst vollständige Abkapselung von der Umwelt. Saboteure und Terroristen nehmen ihre Umwelt nur noch verzerrt und selektiv wahr. ... Der politische Effekt der Sabotage ist mithin eine Verhärtung der Fronten, eine Polarisierung zwischen der großen Masse der Befürworter der Atomenergie und einer radikalen Minderheit von Gegnern. (S. 113 f)
Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution. (S. 121)

Gegen jede Gewalt, Gewalt = Gewalt:
Gemeinsam haben diese Initiativen an vielen Punkten den Kampf gegen alle Arten von Gewalt mit gewaltfreien Mitteln. (S. 123)
Scheinbar gegen Normierung:
Wenn einzelne, Gruppen oder Organisationen beziehungsweise Institutionen versuchen, andere Mitglieder der Gesellschaft zur Einhaltung bestimmter Normen oder Verhaltensweisen zu bewegen, so bezeichnet man in der Soziologie die entsprechenden Maßnahmen als "Sanktionen". (S. 279)
Gewaltfreiheit immer erfolgreich:
Herrschende können - ohne ihre Position zu gefährden - gegen gewaltfreie Akteure im Hinblick auf die Öffentlichkeit, vielleicht sogar "Weltöffentlichkeit", nicht in dem Maße staatliche Gewalt einsetzen, wie dies gegen Gewalttäter möglich ist. ... Jede Gewaltanwendung durch die Opponenten bietet den Herrschenden ein Alibi bei der Praktizierung von Unterdrückungsmaßnahmen und vermindert die Sympathie der Öffentlichkeit. (S. 287)
Zu dieser Haltung gehört als Wesensmerkmal die Bereitschaft, lieber Leiden auf sich zu nehmen, als Gewalt anzuwenden. ... In keinem Fall - und mag er von der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit seines Anliegens noch so überzeugt sein - fügt der Gewaltfreie jenen, die der Verwirklichung seines Ziels entgegenstehen, Schaden zu. (S. 25)

Aus Günther Gugel: "Wir werden nicht weichen". Erfahrungen mit Gewaltfreiheit. Eine praxisorientierte Einführung. Tübingen 1996, S. 12-22, Gesamttext hier ...
Als Fernziel wird deshalb auch eine sozial gerechte, demokratisch organisierte (Welt-)Gesellschaft gesehen, die es bereits heute anzustreben und wo immer möglich in Teilen zu realisieren gilt. ...
Grundlegend ist die Erkenntnis, dass in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft mit Gewalt oder mit der Androhung von Gewalt keine Konflikte wirklich gelöst werden können, keine Ungerechtigkeiten beseitigt und keine Unterdrückung aufgehoben werden können. ...
Hinzu kommt, dass heute der Staat nicht mehr Garant der sittlichen Normen ist und sich politische und gesellschaftliche Entscheidungen häufig an partikularen Gruppeninteressen orientieren.
Die Kritik an der Wachstums- und Wohlstandsorientierung ist heute zwar vorhanden, doch fehlen bislang gangbare Vorstellungen einer zukunftsfähigen, ökologisch vertretbaren Lebensweise.
Gewaltfreies Handeln versteht sich - gerade auch in einer solchen gesellschaftlichen Situation - als ein Handeln, dass an klaren sittlichen Werten orientiert ist und Beteiligungsformen für alle Bürger eröffnet.
Die wesentlichen Kennzeichen der Gewaltfreien Aktion sind:

  • der bewußte Verzicht auf den Einsatz von Gewalt gegen Personen oder Sachen;
  • die enge Verknüpfung von Ziel (dem Abbau von Gewalt) und Mittel (dem Einsatz gewaltfreier Mittel); ...
  • die zuverlässige Mitteilung an den Gegner, dass ausschließlich gewaltfreie Mittel angewendet werden;
  • der Verzicht auf Geheimhaltung. Also die öffentliche Ankündigung der geplanten Aktion.
  • die eigene Bereitschaft "zum Leiden", d.h. Sanktionsmaßnahmen hinzunehmen; ...
Martin Luther King (1964): "Freiheit", Kassel (S. 174)
Für die Legitimation des zivilen Ungehorsams spielt die Berufung auf ein höheres, vorstaatliches Recht, eine wichtige Rolle. ...
"... Ein gerechtes Gesetz ist ein von Menschen gemachtes Gesetz, das mit dem Gesetz der Moral oder dem Gesetz Gottes übereinstimmt. Ein ungerechtes Gesetz dagegen ist ein Gesetz, das mit dem Gesetz der Moral nicht harmoniert. ..."


Wolfgang Sternstein: "Von Wyhl nach Brokdorf", o.O., o.J. (S. 15)
Gewaltfreiheit ist etwas anderes als Verzicht auf physische Gewaltanwendung. Ich kann einem Menschen mit haßerfülltem Herzen begegenen, ohne ihm ein Haar zu krümmen, aber gerade dann tue ich ihm Gewalt an! Mit dem Begriff Gewaltfreiheit wird mancher Etikettenschwindel betreiben. Wer auf physische Gewaltanwendung gegenüber Menschen verzichtet, handelt noch lange nicht gewaltfrei. Das entscheidende Motiv der gewaltfreien Aktion ist die Nächstenliebe oder Feindesliebe. Ohne Feindesliebe kann es überhaupt keine gewaltfreie Aktion geben, die diesen Namen verdient.

Aus Wolfgang Sternstein (1981): „Gewaltfreiheit als revolutionäres Prinzip – 12 Thesen“
7. Gewaltfreiheit ist ein universales Prinzip. Es ist zu allen Zeiten, an allen Orten und in jeder Situation anwendbar. Auf jede gewaltsame Herausforderung gibt es eine gewaltsame und eine ihr entsprechende gewaltfreie Antwort. Der vergeltenden Gewaltanwendung entspricht das freiwillige, überlegte Erleiden der Gewalt. Der Tötung des Gegners als Extremfall der Gewaltanwendung entspricht das Selbstopfer als Extremfall der Gewaltfreiheit.

Auszug aus den Satyagraha-Normen (zusammengefasst von Johan Galtung und Ame Næss, offenbar fälschlicherweise M. Gandhi zugeschrieben)
1. Befolge Ahisma im Gedanken und Sinn!
Du sollst deine gewaltlosen Handlungen aus einer gewaltlosen Gesinnung entspringen lassen. Deshalb versuche, so zu leben, dass du lernst, keinen Hass gegen jemanden zu empfinden, sondern deinen Nächsten wie dich selbst zu lieben. ...
4. Dehne nicht das Ziel des Kampfes aus!
Du sollst nicht die Zielsetzung der einzelnen Satyagraha-Aktion ausdehnen, unabhängig davon, wie der Kampf und die äußeren Verhältnisse sich entwickeln. ...
7. Du sollst nicht töten!
Du sollst vermeiden, körperliche Gewalt gegen irgendein lebendes Wesen zu üben oder dies zu beabsichtigen, wenn es nicht zum Besten des Wesens dient, wenn es undenkbar ist, dass sich das lebende Wesen über seine Lage klar ist, und wenn es in einem gewaltlosen Sinne geschieht.
8. Zwinge den Gegner nicht – wandle seinen Sinn!
Du sollst in einer Konfliktsituation so handeln, dass du den Gegner nicht in eine Lage bringst, wo dein persönliches Furchtmotiv seinen Handlungen zu Grunde liegen wird, sondern versuche, auf ihn so einzuwirken, dass ein Verhalten der Satyagraha-Gruppe für ihn ein annehmbares Verhalten werden kann. ...
8b. Nütze nicht die Schwächen des Gegners aus!
Du sollst aus schwierigen Lagen des Gegners keine Vorteile ziehen, wenn die Lagen Ursachen haben, die außerhalb des Konfliktes liegen. Lasse den Gegner fühlen, dass der Druck, dem er sich ausgesetzt hat, nur eine Folge des Unrechts ist, das es deiner Gruppe antut.
8c. Provoziere den Gegner nicht!
Du sollst Handlungen vermeiden, die dadurch eine Ausdehnung des ursprünglichen Konfliktstoffes zur Folge haben, dass der Gegner in Situationen gebracht wird, in denen er voraussichtlich besonders herabwürdigende Handlungen begehen wird. Sondern du sollst so handeln, dass die Situation, in die du den Gegner bringst, direkte Folge der ursprünglichen Konfliktlage und der Ahimsa-Norm ist. ...
10. Sei opferbereit!
Du sollst bereit sein, alle deine physischen und geistigen Kräfte einzusetzen im Kampf für die eine Sache, an die du glaubst, und um deinen Mitmenschen dienen zu können, wenn nötig mit deinem eigenen Leben als Einsatz. Du sollst es aber um der Sache und deiner Mitmenschen selbst Willen tun, nicht um des Opfers Willen. ...
11b. Verbirg deine Pläne nicht!
Du sollst ehrlich und offen handeln und deine Pläne dem Gegner darlegen, so dass er zu jeder Zeit wissen kann, was du zu tun beabsichtigst, und sich danach richten kann. ...
13. Mache keine Sabotage!
Du sollst dem Eigentum anderer keinen direkten, aktiven Schaden zufügen mit der Absicht, dem Gegner Schwierigkeiten zu bereiten oder auf ihn Druck auszuüben, sondern nur einen passiven Schaden, der eine Folge davon ist, dass du ihm eventuell Zusammenarbeit verweigerst.
14. Sei, wo immer möglich, loyal!
Du sollst ein loyaler, gesetzestreuer und pflichtbewusster Bürger der Gesellschaft sein, von der du Mitglied bist, solange sie von dir nicht verlangt, dass du gegen dein Gewissen handelst, und der Widerstand soll erst bei einem ernsten Konflikt geleistet werden, auch dann, wenn er zu einem Kampf gegen die Mehrheit führen sollte. ...


Die 15. Norm lautet:
15. Wähle Gewalt vor Feigheit!
Du sollst immer bestrebt sein, Ahisma zu folgen in der Bedeutung 1–14, aber in einer Lage, wo du es nicht fertig bringst, ist ein gewaltsames Verhalten mit einem von Ahisma erfüllten Sinn einem nicht gewaltsamen, aber aus Feigheit entstandenen Verhalten vorzuziehen.

Rettungsmanöver dazu in: Reiner Steinweg/Ulrike Laubenthal (2011): "Gewaltfreie Aktion" (S. 184 - von den Herausgeber_innen in einen fremden Text eingefügt!)
Zu 15 (Ergänzung der Hrsg.): Diese Norm scheint eine Hintertür für die Rechtfertigung von Gewaltanwendung in besonderen Bedrohungssituationen zu öffnen. Galtung und Niess führen in den vier Seiten, die der Präzisierung dieser Norm vorangehen,' folgende Gandhi-Zitate an:
"Ich habe oft bemerkt, dass Menschen, die schwach sind, sich hinter der Lehre [gemeint dürfte die hinduistische Lehre von Ahimsä, dem Nicht Verletzen sein], hinter der Kongress-Partei oder meinen Ratschlägen versteckt haben, wenn sie einfach aus Feigheit nicht imstande waren, ihre eigene Ehre oder die Menschen, für die sie Verantwortung hatten, zu verteidigen. Ich erinnere mich an die Ereignisse, die in der Nähe von Bettiah stattfanden, als die Nicht-Zusammenarbeit auf ihrem Höhepunkt war. Einige Dorfbewohner wurden ausgeplündert. Sie flüchteten und hinterließen dabei ihre Frauen, Kinder und ihr Eigentum den Plünderern. Damit waren die Frauen und Kinder der Gnade und Ungnade der Plünderer überlassen. Als ich den Männern ihre Feigheit vorwarf, haben sie sich schamlos auf meine Gewaltfreiheit berufen.
Ich habe ihr Verhalten öffentlich verurteilt und gesagt, dass meine Gewaltfreiheit auch Platz hat für Gewalt, die von Menschen ausgeübt wird, die sich die Gewaltfreiheit zu eigen gemacht haben, aber Verantwortung hatten für die Ehre ihrer Frauen und ihrer Kinder. Gewaltfreiheit ist kein Versteck für Feigheit, sie ist aber die erste Tugend der Tapferen."
"Ich glaube, dass ich, wo es nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt gibt, Gewalt empfehlen werde. Als mein ältester Sohn mich fragte, was er hätte tun sollen, wäre er damals dabei gewesen, als ich 1908 überfallen und fast tödlich verletzt wurde - ob er hätte weglaufen und zusehen sollen, dass ich umgebracht wurde oder seine physische Kraft einsetzen -, habe ich zu ihm gesagt, dass es seine Pflicht gewesen wäre, mich zu verteidigen, auch mit Gewalt."
Für Gandhi war Widerstand gegen Unrecht das zentrale Motiv. Es veranlasste ihn stets auch zu Sympathie für diejenigen, die den Widerstand mit gewaltsa men Mitteln leisteten, statt sich aus Feigheit dem Unrecht zu unterwerfen, ob wohl er selbst immer den gewaltlosen Widerstand bevorzugte und niemals zu den Waffen gegriffen oder gerufen hat. Er sagt im ersten der beiden Beispiele auch nicht, die Männer hätten die Plünderer erschlagen sollen, sondern: Sie hätten nicht weglaufen dürfen. Vielleicht hätten sie eine Chance gehabt, sie zur Besinnung zu bringen, wenn sie ihr Gewissen angesprochen hätten. Im zweiten Beispiel hätte Gandhi sich Schutz von seinem Sohn gewünscht, wäre er damals schon erwachsen und zugegen gewesen. Hier wird die Situation nicht genau beschrieben. Gandhi scheint in diesem Beispiel nicht wichtig gewesen zu sein, ob bei einer abwägenden Beurteilung des gegebenen Kräfteverhältnisses von Angreifer und Verteidiger der letztere eine Chance gehabt hätte. Es kam ihm offensichtlich mehr auf die innere Haltung als auf den Erfolg an. Diese aber hätte auch oder erst recht - im Sinne der "ersten Tugend der Tapferen" - auf gewaltfreie Weise zum Ausdruck gebracht werden können.
Galtung und Næss vermuten, dass die Norm N 1, flir Gandhi aus folgendem Grund so wichtig war:
"Der Zweck, den Gandhi mit der ganzen Satyagraha-Kampagne verfolgte, war sowohl, die Inder zusammenzuschweißen und ihre Moral zu erhöhen, als auch gegen die englische Regierung zu kämpfen. So wie Satyagraha formuliert wurde [ ... ] gab es viele, die ihre Direktiven ausführen konnten ganz einfach, weil sie nicht wagten, anderes zu tun. Terrorismus gegen die Engländer hätte die strengsten Strafen zur Folge gehabt mit Gefahr für ihr eigenes Leben, und totale Passivität hätte einen starken sozialen Druck seitens ihrer Landsleute aufkommen lassen; Gewaltlosigkeit war ein be quemes Mittelding. Einer solchen Art von Gewaltlosigkeit wollte Gandhi mit dieser Norm beikommen. Er hätte N, mit einer Reihe von Spezifika tionen versehen können, aber indem er die Norm N 15 aufstellte, machte er deutlich, dass er ein gewaltloses Verhalten, das von Feigheit motiviert ist, so niedrig beurteilt, dass er ihm sogar die Gewalt vorzieht."
Galtung und Naess fügen hinzu:
"Wir können vielleicht annehmen, dass Gandhi die folgende ethische Ab stufung von Widerstandsformen im Kopf hatte: 1. Non-violence of the strong; 2. Non-violence of the weak; 3. Gewalt mit einem Bewusstsein, das von Ahimsä geprägt ist; 4. Non-violence of the coward; 5. Gewalt kombiniert mit Rache." (ebenda 204, englisch im Orignial)
Diese Rangliste macht deutlich, dass N 15 keineswegs eine Relativierung oder Aufhebung der Norm (Grundhaltung) N, und der sie ausfächemden Umschreibungen N 1-14 darstellt.

Renate Wanie: "Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg", in: Friedensforum 3/09, zitiert im Buch "Gewaltfreie Aktion"
Renate Wanie ist seit 1987 hauptamtliche Mitarbeiterin der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden. Sie bietet u.a. Workshops zum gewalffreien deeskalierenden Eingreifen in gewaltvollen Situationen an. Schwerpunkte sind Trainings in Zivilcourage und Gewaltfreier Aktion, Konsensentscheidungsfindung, Macht "von unten" sowie Fortbildungen in gewaltfreier Konfliktaustragung. Seit 2004 ist sie als Delegierte und zeitweise als Sprecherin in der bundesweiten "Kooperation für den Frieden" aktiv. Ihre Thesen sind eine Reaktion auf die miterlebten Proteste gegen den 60. NATO-Gipfel im April 2009 in Straßburg, die z.T. in unkalkulierbare und gewaltvolle Angriffe eskalierten.
1. Die Zeit der Formelkompromisse ist nach Straßburg vorbei. Die Friedensbewegung ist gewaltfrei oder sie ist nicht. Ziviler Ungehorsam ist eine gewaltfreie Strategie und kein Slogan, hinter dem sich Randaliererlnnen verbergen können.
2. Randale ist keine Politik, Randale ist Randale. Gesellschaftliche Veränderungen in Richtung Emanzipation und Freiheit werden in hochentwickelten Gesellschaften nicht über Gewalteskalationen herbeigeführt.
3. Gewaltfreiheit greift den staatlichen Gegner nicht dort an, wo er am stärksten ist: beim Monopol der Gewalt. Sondern dort, wo er am schwächsten ist: bei der Legitimation seiner kriegerischen Aktivitäten.
4. Gewaltrituale wie in Straßburg seitens der Polizei und seitens der RandaliererInnen sind Ausdruck eines männlich-chauvinistischen Handelns. Die Friedens- und Antikriegsbewegung muss diese patriarchal-militaristischen Handlungen überwinden und offen kritisieren.
5. Die Kritik an Randaliererlnnen aus Demonstrationen heraus spaltet die Friedensbewegung nicht. Steine werfen spaltet die Friedens- und Antikriegsbewegung. Wer Gewalt zulässt, zerstört die Glaubwürdigkeit der Bewegung und erleichtert Provokateurlnnen der Polizei, ihr friedloses Handwerk zu betreiben.
6. Die Friedensbewegung wird nicht erfolgreich durch Gewalt, sondern durch kreative und beharrliche Kritik an Gewalt und Gewaltorganisationen wie der NATO.
7. Heiligendamm hat neue gewaltfreie Aktionsformen auf der grünen Wiese hervorgebracht. Nach Straßburg ist über neue kreative gewaltfreie Aktionsformen innerhalb von Städten nachzudenken, die auch über Blockaden hinausgehen.
8. Gewaltfreie Aktionen wie auch Großdemonstrationen brauchen Vorbereitung. Dort, wo gewaltfreie Aktionen vorbereitet wurden, wie z.B. für "Heiligendamm" oder im Bündnis NATO-ZU für Straßburg, haben sie funktioniert und zu Teilerfolgen beigetragen. Wir brauchen mehr und verbindlichere Vorbereitungen.
9. Mobilisierungen für große internationale Events zeigen ihren Erfolg immer auch darin, Menschen für den Montag danach zu gewinnen. Die Qualität von großen Events bemisst sich darin, wie viel mehr Menschen in den nächsten Monaten aktiv werden. Hier war Straßburg ein Rückschlag.


Spezieller Begründungszusammenhang: Nazi-Vergangenheit
Aus Tim Wihl (2024), "Wilde Demokratie"
Die Reaktion der westdeutschen Gesellschaft neigte im Allgemeinen dazu, die Studierendenbewegung als Wiedergeburt der chaotischen Straßengewalt der späten Weimarer Republik zu betrachten und sie als Linksfaschisten zu denunzieren. Darin wurde ein spezielles Verhältnis der deutschen Gesellschaft zum Phänomen der Gewalt deutlich. Während die Nazi-Verbrecher:innen sich weiter versteckten und weigerten, sich mit ihren Gräueltaten auseinanderzusetzen, machte die Gesellschaft für den Aufstieg der NSDAP vor allem Weimars politische Polarisierung inklusive häufiger Straßenkämpfe verantwortlich. Anstatt zu versuchen, die besondere Art von Gewalt zu verstehen, die den deutschen Faschismus und manche neofaschistischen Gruppen der Nachkriegszeit kennzeichnete,158 begannen die Deutschen, Gewalt in abstracto zu verabscheuen, ohne ihren Kontext und ihre Rechtfertigung zu berücksichtigen. Dies führte auch dazu, dass viele die befreiende Gewalt der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs verurteilten und mit dem Naziterror auf eine Stufe stellten. (S. 90)

Leidensbereitschaft
Zur bekenntnishaften Gewaltbereitschaft gehört die Hingabe an das Gute, also eine Leidensbereitschaft in Folge der eigenen Überzeugung. Damit werden Bilder an die großen Vorbilder wie Jesus und Gandhi verbunden - unter pragmatischer Umdichtung derer tatsächlichen Positionen.
Umgesetzt wird diese verbalradikale Leidensbereitschaft jedoch nur selten. Viele Anhänger_innen der Gewaltfreiheit sind gut situierte Bürgerliche, die - ob nun mit gewaltfrei-anarchischen Hobbyideologien oder brav-rechtstaatlich - niemals ihren hohen Lebensstandard riskieren würden. Gewaltfreiheit hat bei vielen (wenn auch nicht allen) viel mit Selbstbelügung zu tun. Sie verdeckt eine Feigheit, die Handlungsbremsen als ideologisches Konzept verkauft. Bewegungsführer_innen und - immer häufiger - hauptamtliche Apparate, die ihnen die Ideologie eintrichtern, gewinnen Anhänger_innen und Geldgeber_innen. Auch darin ähnelt das Konzept einer Religion.

Aus Sternstein, Wolfgang: "Die gewaltfreie Revolte gegen 'Stuttgart 21'", in: GWR Dez. 2010 (S. 7)
Ziviler Ungehorsam in diesem Sinne sollte "zivil", also offen, dialogbereit und gewaltfrei sein. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung oder die Gehorsamsverweigerung verhängte Sanktion klaglos hinzunehmen. ...
Selbst wenn Staat und Wirtschaft ein Projekt mit aller Macht durchsetzen wollen, werden sie am gewaltfreien Widerstand der betroffenen Bevölkerung scheitern, vorausgesetzt - und diese Bedingung ist entscheidend - sie ist bereit, den Preis zu bezahlen, den gewaltfreier Widerstand kostet.


Zum dritten Teiltext "Pro Gewalt" im Kapitel über Gewalt und Gewaltfreiheit als Fetisch

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