Kopfentlastung

ANARCHIE VS. MARXISMUS: LIBERTÄRER KOMMUNISMUS ODER GEGENSEITIGE HETZE?

Anarchokritik und -hetze gegen (autoritären) Kommunismus/Sozialismus


1. Einleitung
2. Vergleiche
3. Unterschiede im Detail
4. Anarchokritik und -hetze gegen (autoritären) Kommunismus/Sozialismus
5. Sozialistische und kommunistische Kritik und Hetze an der Anarchie
6. Zusammengedacht: Marxismus und Anarchismus

Gegenwärtig ist das Verhältnis von Anarchismus und Marxismus durch erhebliche Gegensätze geprägt. Praktisch spielt das nur eine begrenzte Rolle, weil Theoriedebatten in politischen Aktionen selten stattfinden (was bedenklich ist). Außerdem sind Begegnungen aufgrund deutlicher Unterschiede in den sozialen Einnischungen der ProtagonistInnen anarchistischer und marxistischer Ideen eher selten. Anarchie ist stark im jugendlichen Protest gegen die Erwachsenenwelt verankert und dort vor allem in der Variante des Anarch@-Lifestyles realisiert. Theoriefeindlichkeit entspringt aus der (verständlichen) Ablehnung autoritärer Erziehungsmodelle und dadurch geformter Lernunwilligkeit. Dadurch liegt auch die Auseinandersetzung mit den meist trockenen bis völlig abgehobenen marxistischen Theorietexten fern. Letztere sind wiederum deshalb oft so abgehoben, weil viele MarxistInnen im realen Leben in einer spießige Bürgerlichkeit eingebunden sind - obwohl das eigentlich ihr eigenes, ideologisches Feindbild darstellt.
Viele AnarchistInnen sind hierarchiefeindlich - auch wenn sie intern sehr wohl Kontrolle auszuüben verstehen. Sie liefern sich immer wieder heftige Organisationsdebatten im Rahmen politischer Aktionen. Viele MarxistInnen befürworten klare Führungsstrukturen, weshalb ihre revolutionären Konzepte - ohnehin meist aus dem Wohnzimmersessel des gut situierten BürgerInnentums heraus entworfen - die Bildung von Avantgarde, Führung durch Parteien usw. vorsieht. So entstehen Gegensätze, die allerdings regional sehr unterschiedlich sein können.

Die durch Zugehörigkeit zu mitunter sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gruppen bestehenden Unterschiede verfestigen sich manchmal zu deutlicher Ablehnung bis Hass, der sich durch gegenseitige Kritik bis Hetze entlädt. Es zeugt dabei von einer gewissen Niveaulosigkeit beider Seiten (die, dass kann gar nicht oft genug wiederholt werden, keine einheitlichen Blöcke darstellen, sondern in sich viele Unterschiede und auch Streitlinien aufweisen), dass umfassende, kritische Analysen eher selten, Slogans und vereinfachende Hetzbilder hingegen deutlich häufiger sind.


Kritik an der Idee der Übernahme des Staates
Hauptkritikpunkt von AnarchistInnen an der Theorie des Marxismus ist deren Akzeptanz einer dominierenden Rolle des Staates zumindest in der revolutionären Übergangsphase oder auch darüber hinaus. Diese Kritik dürfte nach umfassender Analyse der verschiedenen Formen und Verselbständigungstendenzen von Herrschaft gerechtfertigt sein. Ein Update marxistischer Theorie wäre hier wünschenswert. Doch die anarchistische Kritik unterlässt oft diese Analyse und greift marxistische Phantasien von der Diktatur des Proletariats oder die naive Erwartung eines quasi automatischen Absterben des Staates aus einer plumpen Anti-Haltung zu Staat oder Parlamenten heraus an. Auf diesem Niveau verharrt dann auch die Kritik an der Teilnahme linker Parteien beim Legitimationszirkus von Wahlen und Parlamentsdebatten, entwickelt aber kaum Impulse für subversiven Gebrauch der verhassten Obrigkeitsstrukturen und auch nicht für Alternativen zur Herrschaft des Volkes, also des konstruierten Gemeinwillens über die Vielfalt der Einzelnen und ihrer freien Zusammenschlüsse.
Diese Schwäche anarchistischer Kreise ist immer gut zu sehen, wenn bei Erhebungen unzufriedener Bevölkerung gegen ihre Regierungen (zuletzt im arabischen Raum) keinerlei Vorschläge sichtbar werden, aus dem Umsturz eine Entmachtung der Apparate zugunsten der Selbstbestimmung der Menschen und, zumindest als Übergangsform, eine radikale Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen zu formen. Stattdessen prägt allein der Streit, wer nun in Zukunft regieren soll, das Geschehen - und hier mischen marxistische Kreise dann aufgeregt mit, um den historisch längst entlarvten Irrtum zu wiederholen, durch die Besetzung der Machtpositionen die politische Wende zu erreichen.

Im Original: Kritik von AnarchistInnen an Marxismus
Michail Bakunin, zitiert in: Guerin, Daniel: "Anarchismus", Suhrkamp und in: Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 13)
Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist, und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin deshalb nicht Kommunist, weil der Kommunismus alle Macht der Gesellschaft im Staat konzentriert und aufgehen läßt, weil er notwendig zur Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates führen muß, während ich die Abschaffung des Staates wünsche, die radikale Ausrottung des Autoritätsprinzips und der Vormundschaft des Staates, die, unter dem Vorwand, die Menschen sittlich zu erziehen und zu zivilisieren, sie bis heute versklavt, unterdrückt, ausgebeutet und verdorben hat. Ich wünsche die Organisation der Gesellschaft und des kollektiven oder sozialen Eigentums von unten nach oben auf dem Weg über die freie Assoziation und nicht von oben nach unten mit Hilfe irgendeiner Autorität, wer immer sie sei ... Genau in diesem Sinne bin ich Kollektivist und keinesfalls Kommunist.

Aus Bakunin, Michail: "Marxismus - Freiheit - Staat"
Es wird die Herrschaft der wissenschaftlichen Intelligenz sein, der aristokratischsten, despotischsten, arrogantesten und verächtlichsten aller Regime. Es wird eine neue Klasse geben, eine neue Hierarchie wirklicher und angeblicher Wissenschaftler und Gelehrter, und die Welt wird geteilt sein in eine Minorität, die im Namen des Wissens regiert, und eine ungeheure unwissende Majorität. Und dann wehe den unwissenden Massen!
Ein solches Regime wird nicht verfehlen, eine ganz beträchtliche Unzufriedenheit in den Massen zu wecken, und um sie im Zaume zu halten, wird Marxens aufgeklärte und befreiende Regierung einer nicht weniger beträchtlichen bewaffneten Gewalt bedürfen. Denn die Regierung muß stark sein, sagt Engels, um die Ordnung aufrechtzuerhalten unter diesen Millionen von Ungebildeten, deren brutaler Aufstand in der Lage wäre, alles zu zerstören und umzukrempeln, selbst eine Regierung, die von „Eierköpfen“ geleitet wird. 


Aus Bakunin, Michail: "Sozialismus und Freiheit"
Keine Diktatur kann ein anders Ziel haben als ihre eigene Perpetuierung, und sie kann nur Sklavengeist zeugen in dem Volk, das sie duldet; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden, d.h. durch eine allumfassende Rebellion von Seiten des Volkes und freie Organisation der arbeitenden Massen von unten nach oben. Während die politische und soziale Theorie der Anti-Staats-Sozialisten oder Anarchisten sie stetig dem Bruch mit allen Regierungen entgegenführt, mit allen Formen bürgerlicher Politik, und ihnen nur noch den Weg der sozialen Revolution offen läßt, weist die entgegengesetzte Theorie des Staatskommunismus und der wissenschaftlichen Autorität ihre Anhänger unter dem Vorwand taktischer politischer Notwendigkeiten auf den Weg endloser Kompromisse mit Regierungen und politischen Parteien und verstrickt sie in Machenschaften mit diesen, d.h. sie drängt sie auf den Weg unleugbarer Reaktion. ...
Sie werden alle Regierungsgewalten in ihren starken Händen konzentrieren, weil die bloße Tatsache, daß die Massen unwissend sind, starke, besorgte Lenkung durch die Regierung notwendig macht. Sie werden eine einzige Staatsbank gründen, in der alle kommerzielle, industrielle, agrarische und sogar wissenschaftliche Produktion konzentriert sein wird; und sie werden die Masse des Volkes in zwei Armeen aufteilen – eine industrielle und eine agrarische Armee unter der direkten Befehlsgewalt von staatlichen Technokraten, die die neue privilegierte wissenschaftlich-politische Klasse bilden werden.


Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (mehr Auszüge)
Mindestens ebenso aufregend ist die Erkenntnis, daß Marx "Wissenschaftlicher Sozialismus" sich im Gleichklang mit der bösartigen Vernichtung des eigentlichen Ziels wie auch der ideologischen Grundlagen des revolutionären Projekts durch die Bourgeoisie bewegte, indem er nämlich eine Rechtfertigung dafür lieferte, dezentrale Einheiten in einem zentralistischen Staat, föderalistische Visionen in einer chauvinistischen Nation und menschlich angepaßte Technologien in einem System alles verschlingender Massenproduktion aufgehen zu lassen. (S. 122) ...
Endlose Beispiele ließen sich aufzählen, um zu zeigen, wie das "Bewußtsein" das "Sein" zu bestimmen schien (wenn man sich schon auf eine solche "deterministische" Spracheeinlassen will), richtete man den Blick auf die Geschichte Asiens, Afrikas und das Amerika der Ureinwohner. (S. 126) ...
Das Proletariat als Klasse wandelte sich aus dem unnachgiebigen Todfeind der Bourgeoisie als Klasse zu deren Vertragspartner. In der Sprache, die der proletarische Sozialismus - entgegen seinen eigenen Mythen - entwickelt hat, wurde die Arbeiterklasse schlechterdings zu einem Organ innerhalb des kapitalistischen Systems und nicht etwa der "Embryo" einer zukünftigen Gesellschaft, also zu jenem Begriff, dem eine so zentrale Bedeutung innerhalb des revolutionären Projektes des proletarischen Sozialismus zukam.
(S. 129) ...
Zweitens mystifizierte Marx, Mythos einer "embryonischen" Entwicklung die Geschichte und brachte sie um ihr wesentliches Element, die Spontaneität. In einer solchen Theorie konnte es grundsätzlich nur einen Verlauf der Entwicklung geben; Alternativen waren nicht zugelassen. Wahlmöglichkeiten spielten für die gesellschaftliche Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle. Der Kapitalismus, der Nationalstaat, der technische Fortschritt, der Zusammenbruch aller traditionellen Bindungen, aus denen einst ein Gefühl sozialer Verantwortung erwuchs - all dies wurde nicht nur als unvermeidlich, sondern sogar als erstrebenswert angesehen. Im wesentlichen räumte die Geschichte dem Menschen nur ein Minimum an Autonomie ein. "Die Menschen gestalten ihre eigene Geschichte..." schrieb Marx - eine ziemlich offensichtliche Feststellung, die kulturorientierte Marxisten noch lange nach seinem Tode und inmitten zunehmender Widersprüche zwischen seiner Theorie und der objektiven Wirklichkeit betonten. Häufig übersahen sie dabei aber, daß Marx mit diesen Worten eigentlich nur den zweiten Teil des Satzes hervorheben wollte: "... dies geschieht jedoch nicht unter von ihnen selbst ausgesuchten Umständen, sondern unter den von ihnen vorgefundenen, gegebenen und aus der Vergangenheit überlieferten!“ (Anm. zur Quelle: Karl Marx, "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte").
Dem Marx'schen revolutionären Projekt, aber nicht nur dem Marx'schen allein, wurden eine Unzahl von "Stufen", "Vorstufen" und immer weiteren "Vorstufen" auferlegt, die an technologische und politische "Voraussetzungen" geknüpft waren. Im Gegensatz zu der anarchistischen Politik des kontinuierlichen Drucks auf die Gesellschaft, der Suche nach Schwachpunkten und nach Feldern, auf denen eine revolutionäre Veränderung möglich sein würde, war die Marx'sche Theorie entlang einer Strategie der "historischen Grenzen" und der "Entwicklungsstufen" strukturiert. Die Industrielle Revolution wurde als technologische "Voraussetzung" für den Sozialismus begrüßt und buddistische Tendenzen wurden als "reaktionär" verurteilt; der Nationalstaat wurde als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur "Diktatur des Proletariats" gefeiert, während konföderalistische Forderungen als atavistisch verdammt wurden. Auf der ganzen Linie wurde die Zentralisierung der Wirtschaft und des Staates als Schritt in die Richtung einer "Planwirtschaft", d.h., einer hoch rationalisierten Ökonomie, begrüßt. So stark waren die Marxisten, bis hin zu Engels persönlich, diesen unglückseligen Auffassungen verbunden, daß sich die marxistische deutsche Sozialdemokratie in den 20er Jahren sogar weigerte, Antimonopol-Gesetze zu verabschieden (zum dauerhaften Verdruß des Kleinbürgertums, das alsbald sein Heil bei den Nazis suchen sollte), da die Konzentration von Handel und Industrie in der Hand weniger Konzerne als "historisch fortschrittlich" - nämlich das Land einer Planwirtschaft näherbringend angesehen wurde.
Drittens wurde das Proletariat selbst, das der Kapitalismus bereits zu einem ziemlich flexiblen Instrument der Produktion reduziert hatte, von der marxistischen Avantgarde ebenfalls als solches behandelt. Arbeiter wurden in erster Linie als ökonomische Wesen und als die Verkörperung ökonomischer Interessen betrachtet. Ansätze von Radikalen wie Wilhelm Reich, der auf ihre Sexualität zielte, oder revolutionären Künstlern wie Majakovski, die an ihre ästhetischen Empfindungen appellierten, wurden bei den marxistischen Parteien in Acht und Bann getan. Kunst und Kultur wurden weitgehend als Vehikel der Propaganda in den Dienst der Arbeiterorganisationen gestellt.
Bezeichnend für das marxistische revolutionäre Projekt war das fehlende Interesse an Urbanität und Gemeinschaftsleben. Diese Themen wurden dem "Oberbau" zugerechnet; für die "grundlegenden" ökonomischen Fragen waren sie angeblich ohne Belang. Menschliche Wesen mit ihren weitreichenden Interessen als kreative Menschen, Eltern, Kinder und Nachbarn wurden künstlich als ökonomische Wesen rekonstituiert, so daß das Marx'sche revolutionäre Projekt die Degradierung, Entkulturalisierung und Entpersönlichung der Arbeiter, die das Fabriksystem mit sich brachte, noch verstärkt. Arbeiterinnen und Arbeiter erreichten ihre Erfüllung nicht als kulturell hochentwickelte Wesen mit weitgespannten moralischen und menschlichen Anliegen, sondern im Dienst der Gewerkschaft oder in Parteifunktionen aufgehend.
(S. 131 f.) ...
Marx' "Humanismus" baute vielmehr auf einer ausgesprochen hinterhältigen Reduzierung menschlicher Wesen zu objektiven Kräften der "Geschichte" auf -, er unterwarf sie einer gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit, über die sie keine Kontrolle hatten. Diese Mentalität ist beunruhigender als jede gefühllose Form des "Anthropozentrismus". Die Natur wird hier zur bloßen "natürlichen Ressource", weil Menschen nämlich als bloße "ökonomische Ressourcen" verstanden werden. Wenn Marx die menschliche Arbeit als das Mittel betrachtet, durch das sich "der Mensch" in der Auseinandersetzung mit der Natur selbst entdeckt, so hat dies die gefährliche Implikation, Arbeit sei das "Wesen" der Menschheit, sei also ein Wesensmerkmal, das sich von allen anderen menschlichen Wesensmerkmalen grundsätzlich unterscheidet.
In diesem Sinne steht Marx im Widerspruch zur authentischen humanistischen Tradition der Vergangenheit, derzufolge der Mensch aufgrund seines Bewußtseins, seiner Moralität, seiner ästhetischen Sensibilitäten und seines Einfühlungsvermögens in alles andere Lebende eine Sonderstellung einnimmt. Schlimmer noch: wenn doch alle Menschen, der marxistischen Theorie nach, bloße "Instrumente der Geschichte" sind, kann das Glück und Wohlbefinden der gegenwärtigen Generation der Befreiung zukünftiger geopfert werden - eine Amoral [im Original steht anstelle von "immorality": "immortality" (Unsterblichkeit), wahrscheinlich ein Druckfehler, Anm. d.Ü.], mittels derer die Bolschewiken allgemein, besonders aber Stalin, in erschreckendem Maße und mit todbringenden Folgen auf den Leichenhaufen der Gegenwart "die Zukunft errichten wollten".
(S. 133 f.) ...
Daß sich marxistische Studien in akademische Enklaven zurückgezogen haben, bezeugt den Tod des Marxismus als revolutionärer Bewegung. Er wurde zahm und zahnlos, weil er im Grunde in seiner Gesamtorientierung so bourgeois ist.
(S. 136)
In einem erweiterten Sinn stellen die Soziale Ökologie und der frühe Feminismus einen direkten Angriff auf die ökonomistische Betonung dar, die der Marxismus der sozialen Analyse und Rekonstruktion gegeben hatte. Sie machten die antiautoritäre Ausrichtung der Neuen Linken expliziter und eindeutiger definierbar, indem sie die hierarchische Dominanz statt einfacher antiautoritärer Unterdrückung hervorhoben.
(S. 154)
Der Anarchismus blieb sensibel gegenüber der Spontaneität gesellschaftlicher Entwicklung - einer Spontaneität allerdings, die von einem Bewußtsein und der Notwendigkeit einer strukturierten Gesellschaft geprägt ist. Der Marxismus kettete sich fest an eine "Embryo"-Theorie der Gesellschaft, an eine "Wissenschaft" der "Voraussetzungen" und "Vorbedingungen". Tragischerweise hat der Marxismus fast alle frühen revolutionären Stimmen mehr als ein Jahrhundert lang zum Schweigen gebracht und die Geschichte selbst im eisigen Griff einer ausgesprochen bourgeoisen Entwicklungstheorie gehalten, die sich auf der Beherrschung der Natur und der Zentralisierung der Macht gründet.
(S. 167)

Aus: Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 40 ff.)
Die Folgen dieser Sichtweise, die die notwendige emanzipative Auseinandersetzung mit allen anderen gesellschaftlichen Strukturen vernachlässigt, sind fatal: Die ökonomistisch reduzierte Sichtweise und die im Wesentlichen auf das Postulat der revolutionären Aneignung der Produktionsmittel eingeengte politische Strategie, verhindert nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit Macht und Staat per se, da sie nur den bürgerlichen Staat als Unterdrückungsinstrument beschreibt, nicht jedoch den „proletarisch post-revolutionären" (da ja der immanenten Logik zufolge niemand mehr zu unterdrücken bleibt). Schlimmer noch, sie erhebt Anspruch auf die Eroberung staatlicher Macht. ...
Die egoistische Aufspaltung der Gesellschaft, der Kampf aller gegen alle, veranlaßt Marx zu seiner Definition menschlicher Emanzipation, die den Verdienst trägt, die aufgespaltenen Individuen wieder ‚zu vergesellschaften'. Das an dieser Stelle erhellende, radikale Emanzipationskonzept Marxscher Prägung, erfährt jedoch eine wesentliche Trübung durch die ihm eigene ökonomistische Verseuchung, durch die im Zusammenhang mit dem Begriff der Entfremdung abgeleitete Überhöhung des Werts der Arbeit, der Produktivkraft und des Besitzes. Die Orthodoxie des ökonomistischen Ansatzes erhebt die "Arbeit“ auf die Ebene eines alles bestimmenden Wertes. Es geht mir nicht darum, die Wichtigkeit der "Arbeit“ als anthropologische Größe in Abrede zu stellen, aber sie zur alleinigen Konstante menschlichen Daseins zu erklären, heißt sie über die ihr eigene Wertigkeit hinaus zu zementieren, anstatt sie in Frage zu stellen. Ein Emanzipationsgedanke, der die Leistung vollbringt, Arbeit analytisch zu gewichten, aber dem es nicht gelingt, sich über die Grenzen eines "Arbeitsmodells" hinaus zu wagen, droht sich in das Gegenteil dessen zu verkehren, was er vorgibt zu tun: Die Freiheit des Menschen anzustreben.
„Wenn die Arbeit nicht durch diese Transgression (Überschreitung) erhellt wird, wird sie zum totalitären Popanz. Das Denken, das alles auf Arbeit reduziert, reproduziert einen Arbeitsterror, den der Kapitalismus sich nicht besser wünschen könnte. So wird der Marxismus bei seinem Geschäft der Entlarvung zum Komplizen der Kapitalsherrschaft. Soweit die Arbeit das Grundprinzip des Kapitalismus darstellt, wird er sogar zu einem erzkapitalistischen Unternehmen. Die Systeme, die sich auf den Kapitalisten Marx berufen, haben denn auch nichts eiliger gehabt, als seine asketische Arbeitsmoral zu übernehmen. Das gerade ein Deutscher diesen Arbeitskult geheiligt hat, entbehrt freilich nicht einer makabren Komik, denn gerade die Deutschen haben ja keinen anderen Lebensinhalt als die Wirtschaftsreligion, weshalb sie verdientermaßen in ganz Europa gehaßt werden. Die "Übererfüllung des Plansolls" und die Ernennung zum "Held der Arbeit" in der DDR, verstehen sich nicht nur aus ihrer Konkurrenz zum kapitalistischen System, sondern aus einer eigenen marxistischen Moral und Wertigkeit, die sich an diesem Punkt nur unwesentlich vorn Primat der Arbeit im Gegenwartsdeutschland unterscheidet.
Um nicht falsch verstanden zu werden, die Macht ökonomischer Verhältnisse als prägender Faktor gesellschaftlicher Verhältnisse soll hier nicht in Abrede gestellt werden – was jedoch angezweifelt werden muß, ist der absolute, fast religiöse und allgegenwärtige Einfluß der Ökonomie als ausschließliche Ursache menschlichen Seins, sowie die von Marx fatalerweise daraus gezogene Folgerung, die jede Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse ans der ökonomischen Ebene abzuleiten versucht. Die falsche Marx'sche Kausalität führt zu einer katastrophalen Fehleinschätzung gesellschaftlicher emanzipativer Dynamik, die eben darin gipfelt zu behaupten, die Aufhebung des Privateigentums und die Verstaatlichung der Produktionsmittel führten automatisch zum gesellschaftlichen Glück aller, zum Ende der "Entfremdung" per se. ...
So sehr die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel Kriterium des sozial-ökonomischen Zustands einer Gesellschaft ist und bleibt, sowenig kann die zentrale, alleinige Antwort auf Ausbeutung und Entfremdung darin bestehen, lediglich die Verstaatlichung dieser Produktionsmittel zu fordern. "Verstaatlichung" hebt eben nicht den Interessenswiderspruch zwischen Produzenten und Besitzern auf, auch dann nicht, wenn der „neue" Staat ein "vom Proletariat eroberter" sein sollte. Die Geschichte bleibt Beispiele für einen solchen positiven Aneignungsprozess schuldig. Sei es, weil die Aneignung des Staatsapparates in direkter Linie zur Etablierung einer neuen Führungsschicht führte, die nichts weniger im Sinn hatte als ihre neue Position, legitimiert durch den Führungsanspruch der Partei, gegen andere zu verteidigen; sei es weil die zentralistische Führung des "neuen" Staates am "besten wußte was gut für die Massen sei", und die kapitalistische Form der Ausbeutung, durch die eines "sozialistischen" Staatssystems ersetzte. Die zweifelhafte Logik, daß ein durchs "Proletariat" eroberter Staat mit (verstaatlichten) Ländereien und Fabriken besser und menschlicher umzugehen verstünde, weil nun der Interessenswiderspruch von Besitzer und ProduzentInnen aufgehoben sei, entpuppte sich als Trugschluß. "Die Aufhebung der Entfremdung, zwischen Individuum und Staat hat sich so ausgewirkt, daß der Staat das Individuum geschluckt hat. Der Staat hat die Gesellschaft mit Partei, Bürokratie und Militär so durchsetzt, daß für das Individuum kein Schlupfloch bleibt. Vor dem Staat gibt es keine Flucht als nur zu ihm, zu ihm aber heißt: zum Gulag.


Aus Wilde, Oscar (1970): "Der Sozialismus und die Seele des Menschen", Diogenes
Aber ich gestehe, viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, scheinen mir mit unsaubern Vorstellungen von autoritärer Gewalt, wenn nicht tatsächlichem Zwang behaftet zu sein. Autoritäre Gewalt und Zwang können natürlich nicht in Frage kommen. Alle Vereinigung muß ganz freiwillig sein. Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön. (S. 16f)

Kritik an den Organisationsformen
Ebenso heftig prallen anarchistische und marxistische Ideen aufeinander, wenn es um die Organisierung politischer Aktion geht. Konsens oder Mehrheitsabstimmung, Stellvertretung oder nicht, einheitliches Auftreten, geschlossene Gemeinschaftsaktionen oder unberechenbare Vielfalt - es gibt viele Punkt, an denen sich leidenschaftlich diskutieren und auch zerstreiten lässt.
Die letzten Jahre im deutschsprachigen Raum waren weniger von solchen Streitereien geprägt. Wer sich die Entwicklungen genauer anschaut, bekommt Zweifel, ob es sich hier um eine strategische Annäherung oder vielmehr eine Folge handelt, dass politische Bewegungen - schlicht genauso wie in der gesamten Gesellschaft - von jeweiligen Funktionseliten geführt werden und diese ein stärkeres gemeinsames Interesse entwickelt haben, Bewegungen zentral zu steuern und die Aktionen als telegenen Hintergrund für ihre Botschaften umzufunktionieren. In dieser Neigung, Protest als Aufmerksamkeitsbringer für das eigene Label, für Mitglieder- und Spendenwerbung zu nutzen, sind sich Kirchen und Autonome, Bürgerliche und Militante, Heiner Geißler und Jutta Ditfurth, anarchistische und marxistische Eliten schlicht einig. Wenn alle die Kröte schlucken, dass nicht nur sie im Mittelpunkt stehen, dann wächst zusammen, was - organisationsstrategisch - zusammen gehört. Auf der Strecke bleiben die Menschen, die Basisinitiativen, unabhängigen und selbstorganisierten Gruppen, die in der nun stärker einheitlich gesteuerten Vielfalt von Bewegung ganz unterzugehen drohen.

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