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Das V-Mann-Unwesen muss unterbunden werden

Aus: Frankfurter Rundschau vom 18. März 2004

Ein Jahr nach dem Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens wurden immer noch keine politischen Konsequenzen gezogen
Von Rolf Gössner
Nach den Anschlägen von Madrid ist erneut eine Debatte um Neuordnung des Verfassungsschutzes (VS) aufgeflammt. Landesämter sollen abgeschafft oder zusammengelegt werden, das Bundesamt zentrale Kompetenzen erhalten, um Konkurrenzen und Reibungsverluste zu vermeiden. Doch eine allein an - letztlich nicht überprüfbaren - Effizienzaspekten ausgerichtete VS-Strukturreform aus dem Affekt heraus ist gefährlich, solange die bisherigen Pannen, Skandale und Kontrolldefizite nicht aufgearbeitet sind - strukturelle Mängel und kriminelle Machenschaften, wie sie im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren offenkundig geworden sind.
Vor exakt einem Jahr, am 18. März 2003, endete die größte V-Leute-Affäre in der Geschichte der Bundesrepublik in einem Desaster: Mit einer Verfahrenseinstellung zog das Bundesverfassungsgericht einen Schlussstrich unter den Verbotsprozess gegen die NPD, der von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat angestrengt worden war. Das Verfahren platzte wegen der Verstrickung zahlreicher V-Leute des VS und damit wegen mangelnder "Staatsfreiheit" der rechtsextremen Partei.

Jeder Siebte war V-Mann
Aus diesem Verbotsdesaster sollten schleunigst politische Konsequenzen gezogen werden. Doch bis heute hat sich kaum etwas getan. Weder wurde die V-Mann-Affäre offiziell aufgearbeitet noch wurden aus dem Scheitern des Verfahrens die notwendigen Lehren gezogen - eine skandalöse Untätigkeit der politisch Verantwortlichen, die umso bemerkenswerter ist, als schon der rot-grüne Koalitionsvertrag von 2002 eine Strukturreform der Geheimdienste vorsah.
Zur Erinnerung: Etwa 30 der 200 Vorstandsmitglieder der NPD standen seit Jahren als V-Leute im Sold des Inlandsgeheimdienstes - also fast jeder Siebte. Über Hundert dürften es auf allen Parteiebenen gewesen sein. Allein diese hohe Zahl an staatlich bezahlten Neonazis hatte erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der NPD. Sie haben das Feld, das sie für den VS von innen beobachten sollten, selbst rassistisch mitgestaltet; sie haben die NPD gestärkt, anstatt sie zu schwächen.

Für das Bundesverfassungsgericht war die Grenzlinie zwischen VS und VS-unterwanderter NPD nur noch schwer auszumachen - zumal die Innenminister das Ausmaß der Infiltration mit aller Kraft zu vertuschen suchten. Das Verbotsverfahren war dermaßen geheimdienstlich kontaminiert, dass es - aus Gründen des "Quellenschutzes" und des "Staatswohls" - zu einem Geheimverfahren zu werden drohte, in dem die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, Akten manipuliert und Zeugen gesperrt werden. Ein solches Verfahren wäre weder fair noch rechtsstaatlich, weshalb das Verfassungsgericht zurecht die Notbremse gezogen hat. Für diese juristische Bauchlandung tragen VS-Ämter und Innenminister die Verantwortung. Ihnen war die V-Mann-Deckung stets wichtiger als die Rechtsstaatlichkeit des Verbotsverfahrens.
Das NPD-Verbotsverfahren und sein Scheitern haben gezeigt, wie kontraproduktiv, ja unheilstiftend der VS bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus agiert. Im Laufe der Jahre ist in der Neonazi-Szene ein regelrechtes Netzwerk aus dubiosen Zuträgern, Spitzeln und Agents provocateurs entstanden, über das noch nicht einmal die siebzehn VS-Behörden des Bundes und der Länder einen Überblick haben, geschweige denn die verantwortlichen Innenminister. Dabei steht die hohe Zahl an V-Leuten in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn des VS, der über sein unkoordiniertes V-Leute-Netzwerk schon Teil des Neonazi-Problems geworden ist.
Das verhaltene Eingeständnis des VS-Präsidenten Heinz Fromm, seine V-Männer seien nun mal "keine Pastorentöchter", ist nur die halbe Erkenntnis. Sie verweist darauf, dass es sich bei V-Leuten, die vom VS aus dem rechten Milieu rekrutiert werden, um gnadenlose Rassisten, Neonazis und Gewalttäter handelt. Über solche dunklen Gestalten produziert und finanziert der VS all das mit, was er als "Frühwarnsystem" beobachten und bekämpfen soll, was mit Verfassungsschutz nun wahrlich nichts mehr zu tun hat. Solche geheimdienstlichen Aktivitäten gefährden, was sie eigentlich schützen sollten: Demokratie und Rechtsstaat.
Besonders erschreckend ist die Dreistigkeit, mit welcher der VS selbst straffällig gewordene V-Leute deckt, ihnen für ihre kriminellen Handlungen Freiräume verschafft, sie mitunter gegen polizeiliche Ermittlungen regelrecht abschirmt, um sie weiter abschöpfen zu können - anstatt sie unverzüglich abzuschalten.
Ähnlich wie die Debatte um das umstrittene NPD-Verbot zeigt die geheimdienstliche Infiltration des Rechtsextremismus fokusartig das Dilemma der "wehrhaften" Demokratie im Kampf gegen Rechts: Einerseits gebietet es die deutsche Geschichte, gerade bei Neonazi-Organisationen und -Parteien besonders wachsam zu sein; andererseits aber kann sich die Fixierung auf einen Geheimdienst rasch als fatal erweisen, weil er und seine geheimen Instrumente selbst demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Geheimdienste sind Fremdkörper in einer Demokratie.

Eine Generalrevision ist nötig
Welche Konsequenzen sind zu ziehen? Erstens: Der VS und sein V-Leute-System müssen einer Generalrevision unterzogen werden, die von einer unabhängigen Geheimdienstkommission vorzubereiten wäre. Zu deren Evaluierungsarbeit gehören die Aufklärung der jüngeren V-Mann-Affäre und die Aufarbeitung der VS-Skandalgeschichte. Dazu gehört auch eine kritische Bestandsaufnahme der mehrfach - zuletzt mit den "Anti-Terror"-Gesetzen - ausgeweiteten Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsmethoden und Strukturen des VS, aber auch seiner Effizienz, die noch nie überprüft worden ist. Letztlich wird sich das V-Mann-Unwesen und das damit verbundene Geheimhaltungssystem nur aufbrechen lassen, wenn der systematische Einsatz von V-Leuten unterbunden und die erkennbar gewordene Symbiose von Verfassungsfeinden und Verfassungsschützern beendet wird.

Solange sich an dem V-Leute-Unwesen nichts ändert, kann es passieren, dass kriminelle V-Leute, die künftig verstärkt aus dem "islamistischen" Beobachtungsfeld rekrutiert werden sollen, etwa bei Sprengstoffbeschaffungen mitmischen oder in Mordaufrufe und Attentate verwickelt sein werden - und dass der Verfassungsschutz solche Gewalttäter im Dienste des Staates dann auch noch decken wird, wie wir das bei der Infiltration des Rechtsextremismus erfahren mussten.
Zweitens: Angesichts der notorisch mangelhaften Kontrolle der Geheimdienste sollten unabhängige Geheimdienstbeauftragte gewählt werden, die - ähnlich den Datenschutzbeauftragten - mit weitreichenden Prüfkompetenzen wie Akteneinsichts- und Vernehmungsrecht sowie mit einem arbeitsfähigen Team auszustatten sind. Damit ließe sich die Kontrolle professionalisieren und intensivieren - wohl wissend, dass eine demokratische Vollkontrolle von Geheimdiensten nie zu erreichen sein wird.
Doch ungeachtet der Filigranarbeit beim Versuch einer rechtsstaatlichen Zähmung geheimer Dienste plädiere ich für den Aufbau offen arbeitender, wissenschaftlicher Dokumentationsstellen zur Beobachtung, Erforschung und Analyse des Rechtsextremismus. Solche Institutionen hätten den enormen Vorteil, dass sie weniger interessegeleitet wären als Regierungsgeheimdienste, dass sie kontrollierbar wären und dass ihre wissenschaftlichen Diagnose- und Analysefähigkeiten denen des VS deutlich überlegen wären. Solche Stellen sollten der Aufklärung und Politikberatung dienen, frühzeitig über rechtsextreme Tendenzen informieren sowie Gegenstrategien ausarbeiten. Zu diesen Gegenstrategien gehört eine konsequente Antidiskriminierungspolitik, eine humane Asyl- und Migrationspolitik, die Stärkung der Position von Minderheiten und eine bessere Unterstützung von Opfern rechter Gewalt. Gefordert sind also primär sozial- und verfassungsverträgliche Lösungsansätze - jenseits von Rassisten und Schlägern im Dienste des Staates.

Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 17.03.2004 um 17:41:05 Uhr
Erscheinungsdatum 18.03.2004

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater, Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte", Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky". In seinem jüngsten Buch "Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes - Kriminelle im Dienst des Staates" (Knaur Verlag, München 2003) deckt Gössner die Verstrickung des Verfassungsschutzes in die braune Szene auf. www.rolf-goessner.de.

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