Kopfentlastung

MASSE ... IN FORM GEGOSSEN
WIRD AUS DEN VIELEN AUCH VIELFALT?

In welcher Form leben wir?


1. Soziale Organisierung als Teil des Menschseins
2. Eine Menge von Menschen kann sehr unterschiedlich aussehen
3. In welcher Form leben wir?
4. Biologie und Kultur des Menschen bieten mehr
5. Plädoyer für Vielfalt ohne Hierarchie
6. Links und Leseempfehlungen

Die heutige Gesellschaft "westlicher" Prägung ist eine Mischung aus Vermassung und Hierarchien - mit kleinen, exotisch anmutenden Einsprenkseln kleiner Subräume, die als offene Vielfalt ohne Hierarchie organisiert werden. Solche Mischungen sind sehr modern, sie kommen dem Verständnis von Pluralität als Handlungsraum innerhalb eines durch Kontrolle, ökonomische und diskursive Vorgaben eingehegten Menschenmenge nahe. Die Beherrschbarkeit solcher Gesellschaften steigt mit der Zerschlagung von Binnenstruktur. Tradierte Netzwerke wie Familien, Vereine oder Clans - wegen ihrer internen Hierarchien durchweg keine emanzipatorischen Erscheinungen - gehen verloren, während neue Zusammenhänge z.B. über internetgestützte Sozialbeziehungen deutlich weniger intensiv sind. Insofern gewinnt die Orientierung an Masse ohne Binnenstruktur wieder an Bedeutung. Dieses gilt auch für erstarkende religiöse Orientierungen und nationale Erweckung. Immer geht die interne Selbstorganisierung zurück und die Menge der Menschen wird zur steuerbaren Masse.

Anpassung ist "in"
Aus "Studie: «Soziale Chamäleons» sind beliebt", in: Pharmazeutische Zeitung am 14.11.2017
Wer andere beim Kennenlernen nachahmt, macht sich beliebt ...

Die größte Vermassungsorganisation ist der Nationalstaat, denn er versucht, mit einheitlichen Regeln, einheitlicher Sprache, Formularen, Lehrplänen usw. aus der Vielfalt der Menschen eine einheitliche Menge zu formen.

Aus James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus" (S. 77ff.)
Hauptsächlicher Erfüllungsgehilfe hinter ihrem Verschwinden ist niemand anderer als der geschworene Feind des Anarchisten, der Staat, und insbesondere der moderne Nationalstaat. Der Aufstieg des modernen und nunmehr hegemonialen politischen Bauteils, das man "Nationalstaat" nennt, hat eine Menge traditioneller und einheimischer politischer Formen verdrängt und in der Folge zerschlagen: „Banden“ (bands), Stämme, Freie Städte, lockere Konföderationen von Städten, Gemeinschaften entlaufener Sklaven, Großreiche, alles Gesellschaftstypen, die ohne Staat auskamen. An ihrer Stelle findet sich überall eine einzige Ausführung in Form des nordatlantischen Nationalstaats, die im 18. Jahrhundert kodifiziert wurde und sich seither als Universalie ausgibt. Man tritt zurück, geht etwas auf Distanz und stellt dann verlieh wundert fest, dass man, wohin man sich auch wendet, wohin immer man reist, überall dem gleichen Ordnungsschema und den gleichen Einrichtungen begegnet: einer Nationalflagge, einer Nationalhymne, Nationaltheatern, Nationalorchestern, Staatsoberhäuptern, einem Parlament (real oder nur zum Schein), einer Zentralbank, einer Reihe von gleichartig organisierten, einander gleichenden Ministerien, einem Sicherheitsapparat und so weiter. Der Kolonialismus und ein "moderner" Nachahmungsdrang haben das Ihre zur Propagierung des Einheitsmoduls beigetragen, aber durchgesetzt hat es sich auf Dauer, weil solche Institutionen das weltweit funktionierende Getriebe bilden, mit dessen Hilfe politische Gebilde in die etablierten internationalen Systeme integriert werden können. Bis 1989 gab es zwei Pole mit Vorbildcharakter. Im sozialistischen Lager konnte man von der Tschechoslowakei nach Mosambik, Kuba, Vietnam, Laos, in die Mongolei reisen und überall einen annähernd gleichen Planungsapparat, die gleichen landwirtschaftlichen Kollektive und Fünfjahrespläne vorfinden. Das ist mit wenigen Ausnahmen so geblieben.
Einmal etabliert, schickte sich der moderne (National-)Staat an, seine Bevölkerung und die abweichenden lokalen Praktiken anzugleichen. Fast überall schritt der Staat zur Bildung einer Nation: Frankreich brachte Franzosen, Italien Italiener hervor. Ein großes Vereinheitlichungsprojekt war die Folge. Zahlreiche Sprachen und Dialekte, die oft gegenseitig unverständlich waren, unterwarfen sich, schon wegen des Schulunterrichts, einer standardisierten Nationalsprache - dies war nicht selten der Dialekt der vorherrschenden Region. Damit verschwanden Sprachen, mündliche wie schriftliche lokale Literaturen; Musik; Legenden und Epen; ja ganze Bedeutungswelten. Lokale Gesetze und ein brauchtümliches Rechtswesen von enormer Vielfalt wurden durch ein nationales Rechtssystem ersetzt, das zumindest im Prinzip überall das gleiche war. An die Stelle vielfältigster Landnutzungspraktiken trat ein nationales Rechtssystem, das Besitzansprüche an Grund und Boden, ihre Registrierung und Übertragung regelte - günstig für die Steuerveranlagung. Ungezählte lokale Erziehungspraktiken - Berufslehren, Unterricht durch reisende „Schulmeister“, Heilkunde, Religionsunterricht, zwanglose Klassen wurden nach dem immer gleichen Muster durch ein nationales Schulsystem verdrängt, so dass ein französischer Erziehungsminister sich konnte, da es gerade 10 Uhr 20 vormittags sei, wisse er genau, welchen Abschnitt aus Cicero alle Schüler, die in Frankreich eine Klasse besuchten, lesen würden. Dieses utopische Bild der Uniformität wurde selten erreicht, aber solche Projekte führten in der Tat dazu, dass die einheimischen Traditionen verschwanden. Jenseits des Nationalstaats werden die Kräfte der Standardisierung heute durch internationale Organisationen repräsentiert. Es ist ein vorrangiges Ziel solcher Institutionen wie der Weltbank, des Interna- Währungsfonds, der Welthandelsorganisation, der UNESCO und sogar der UNICEF und des Weltgerichtshofs, normative Standards („in bester Praxis«) zu propagieren; und auch diese lassen sich rund den Erdball von den Nordatlantik-Nationen herleiten. Gelingt es jemandem nicht, den Empfehlungen dieser Instanzen nachzukommen, so können diese dank ihrer finanziellen Stärke erhebliche Strafen verhängen - in Form von Kreditsperren und eingestellter Hilfe. Der Prozess der internationalen Angleichung wird mit dem Euphemismus „Harmonisierung“ schöngeredet. Globalen Konzernen kommt bei diesem Standardisierungsvorgang eine nicht minder entscheidende Bedeutung zu. Sie florieren in einem vertrauten und vereinheitlichten kosmopolitischen Umfeld, wo das Rechtssystem, die Handelsbestimmungen, das Währungssystem etc. uniform sind. Und durch Warenverkauf, Dienstleistungen und Werbung arbeiten sie unaufhörlich daran, Konsumenten zu produzieren, deren Bedürfnisse und Geschmäcker so sind, wie sie es haben wollen.


Oder umgekehrt: Kritik, ein eigener Kopf, Kooperation der Unterschiedlichen - all das ist gerade gar nicht angesagt.

Plurale Systeme erlauben innerhalb der zugelassenen Bahnen Experimente anderer Art. Sie können sich das leisten, denn solange diese klein bleiben, sind sie eher eine kulturelle Bereicherung und bieten, wenn ihre AkteurInnen etablieren, die Chance zu Innovation.

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