Kopfentlastung

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

Von Schuld und Verantwortung


1. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
2. Von Gewalt, Kriminalität und was davor geschieht
3. Von Schuld und Verantwortung
4. Von Verbrechen und wie man sie verarbeitet
5. Von Sündenböcken und fragwürdigen Ursachen
6. Das Recht – wessen Recht?
7. Ich will nur das Beste für dich!
8. Von Rache und Gerechtigkeit
9. Die alles entscheidende Frage
10. Von Reformen und wie es sein sollte

Strafe ist eine bestimmte Art von gewaltförmiger Reaktion. Sie hat aber die Eigenschaft, dass sie als richtig und gut angesehen wird. Im Gegensatz zur Handlung des Täters ist die Straf-Reaktion des Opfers gerechtfertigt. Sie ist legitim, da sich der Täter mit seiner Handlung schuldig gemacht hat. Im Grundgesetz ist daher das Prinzip verankert: nulla poena sine culpa – keine Strafe ohne Schuld.[1] So zumindest wird das Strafprinzip mehrheitlich gesehen. Aber was ist Schuld? Betrachten wir diesen Begriff einmal etwas genauer. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Arten von Schuld: einer allgemeinen, von aussen betrachteten Schuld und einer individuellen, von innen empfundenen Schuld. Man spricht auch von der normativen und der psychologischen Schuld. Die sogenannt „psychologische Schuld“ besteht in der persönlichen Beziehung des Menschen zu seiner Handlung. Es ist eine individuelle Schuldeinsicht. Jemand fühlt sich schuldig, nachdem er die Konsequenzen seiner Handlung erkannt hat und diese bereut. Durch dieses Schuldgefühl wird im Normalfall ein Impuls zum „Wiedergutmachen“ freigesetzt. Diese Schuld wird also als Gefühl wahrgenommen. Und Gefühle betreffen in erster Linie den Fühlenden. Für die Strafe ist sie daher kaum relevant – vielmehr bewirkt sie das Gegenteil von Strafe, einen natürlichen, freiwilligen und wiedergutmachenden Versöhnungsprozess. Die Reaktion des Opfers besteht dann lediglich darin, Konsequenzen einer Tat zu ziehen. Für diese gibt es keine Formel, was Kommunikation, Veränderung und Problemlösung ermöglicht.

Für den Bestrafungsmechanismus relevant ist die normative Schuld. Jemand wird von aussen als schuldig betrachtet, da er willentlich eine nicht erlaubte Handlung vollzogen habe. „Als Voraussetzung für die Schuld wird meist angenommen, dass der Schuldige die Wahlmöglichkeit hatte, die als schlecht definierte Tat zu unterlassen.“[2] Die Schuldfähigkeit ist also zurückzuführen auf die Willensfreiheit. Unabhängig von der Diskussion um den Freien Willen stellt sich aber die Frage: Kann ein Mensch von aussen als schuldig betrachtet werden? Kann man ihm vorwerfen, er habe zwischen einer guten und einer schlechten Handlung frei wählen können? Arno Funke, bekannt als „Dagobert“, Kaufhauserpresser und seinerzeit wohl einer der populärsten Gefangenen Deutschlands, schrieb in seiner Autobiographie über folgende Gedanken, die er sich nach der Geburt seines Sohnes gemacht habe:

Der Mensch wird ins Leben gepresst und ist schon belastet. Er wird geboren und ist schon schuldig, weil er womöglich die falsche Hautfarbe hat oder Geschlecht, Religion und soziale Herkunft nicht stimmen. Er kann nichts dafür, wird aber doch dafür verantwortlich gemacht. Er wird in die Welt gesetzt, und nichts liegt in seinem Ermessen. Er kann sich nichts von dem aussuchen, was einen Menschen ausmacht, weder Intelligenz noch Temperament, weder Talente noch Neigungen. Aber irgendwann kommen die Selbstgefälligen und behaupten: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Wer es im Leben nicht schafft, ist selber schuld“.

Im Leben ist es wie beim Roulett: Jeder ist für seine Einsätze selbst verantwortlich – aber nur der Zufall entscheidet, wer gewinnt. Egal, ob wir dieses Spiel gut oder schlecht finden, wir können uns ihm nicht verweigern; es sein denn, wir knüpfen uns auf. Wenn wir nicht unseren Einsatz auf den Tisch legen, setzt für uns das Fatum, und das würde uns zu Fatalisten machen.

Mein Sohn könnte mich nun fragen, ob es denn sinnvoll ist, seine Zukunft zu planen, wenn der Zufall das Leben bestimmt. Ich würde ihm darauf antworten, dass wir uns des Spasses und der Spannung berauben würden, die auch der Spieler empfindet, wenn er auf eine Zahl setzt. Wenn wir nicht aktiv am Leben teilnähmen, würden wir nur dahindümpeln wie eine Flaschenpost im Meer. Ob wir unser Leben aktiv oder passiv gestalten, ist allerdings auch zum Teil wieder eine Frage des Temperamentes, und das ist angeboren. Ich höre in Gedanken schon wieder die Selbstgerechten protestieren: „Wo bleiben 30'000 Jahre Zivilisationsgeschichte des Menschen, die Grundlage der Willensfreiheit?“ Diese Leute haben nur Angst, dass ihnen ihre Felle davonschwimmen, auf die sie sonst ihre Schuldzuweisungen betten. Wer kennt nicht die Sprüche: „der ist selber schuld, der wollte es nicht anders, der verdient nicht unser Mitgefühl, der hätte es ja nicht tun müssen“ und so weiter.

Wer so redet, versucht sich meistens nur seiner Mitverantwortung zu entledigen. Für den Gewinner oder für den, der sich dafür hält, ist es einfach zu sagen: „Du musst nur auf die richtige Zahl setzen“.

Nichts geschieht, ohne dass es dafür einen Anstoss gibt. Und niemand entscheidet sich freiwillig dafür, ein Dummkopf zu sein. Leider zeigt sich immer erst im nachhinein, was richtig und was falsch war. Es mag wohl sein, dass menschliches Verhalten vielfältig und oft undurchschaubar ist. Das heisst aber noch lange nicht, dass unser Handeln und Wollen frei ist. Wäre ein Roulettkessel statt mit 37 Zahlenfächern mit 1000 bestückt, so hätte sich nur die Zahl der Möglichkeiten erhöht, nicht aber die Freiheit der Kugel. Und wie die Kugel beim Roulett, so müssen auch wir angestossen werden. Es sind die Gefühle, die unsere Gedanken und somit unser Handeln initiieren. Ohne Gefühle wären wir nicht lebensfähig. Denn ohne Hunger, Durst, Schmerz, ohne Freunde, Liebe, Hass, Neid, Langeweile oder Angst gäbe es nicht den geringsten Grund, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Wir haben nicht die Freiheit zu wählen, was uns emotional berührt und wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. So sind auch unsere Moralvorstellungen in erster Linie von Gefühlen geprägt und weniger von rationaler Überlegung.[3]

Wenn all unser Handeln den Umständen, Trieben und Gefühlen zuzuschreiben ist, liegt es natürlich nahe, damit auch gewaltförmiges Verhalten zu entschuldigen oder erklären, um sich auf diese Weise der Verantwortung zu entziehen. Aber, wie Funke weiter schreibt, „Verständnis haben heisst ja nur, dass man die Zusammenhänge begreift, und nicht, dass man sie auch billigt.“ Es geht nicht darum, den einzelnen Menschen freizusprechen oder ihn gar als gesteuerte Maschine darzustellen – im Gegenteil. Aber man sollte sich durchaus einmal die Frage der Schuld aus einem erweiterten Blickwinkel stellen. Liegt es im Ermessen eines Menschen, einen anderen von aussen als schuldig zu bezeichnen und ihn dafür zu bestrafen?

Man müsste beginnen, zwischen Verantwortung und Schuld zu unterscheiden. Verantwortlich für sein Handeln, oder wie Funke es ausdrückt, für seine Einsätze im Roulett, ist jeder Mensch zweifellos. Er muss die Konsequenzen seines Verhaltens tragen – in jedem Fall. Schuld hat aber eine moralische Komponente. Schuld rechtfertigt nicht nur die Konsequenzen einer Tat (ich lüge dich an – die Konsequenz: du wirst mir in Zukunft nicht mehr so schnell vertrauen) sondern sie rechtfertigt auch, mir für mein Verhalten im Namen eines „höheren Interessens“ Schmerzen zuzufügen – sie rechtfertigt Strafe. Schuld führt zu einem endgültigen Urteil – einem Verurteilen. Schuld verlangt eine Wahrheit. Sie verlangt eine objektive Wahrnehmung der Situation. Aber sind wir dazu fähig? Ist der Mensch fähig, eine Wahrheit zu erkennen, die über seine individuelle Wahrnehmung hinausgeht? Und ist die Art, wie man Dinge wahrnimmt und interpretiert, nicht vom Bewusstsein eines Menschen abhängig? Und ist nicht dieses Bewusstsein bei jedem Menschen äusserst individuell, weil es auf Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gefühle aufbaut? Funke schreibt rückblickend auf die Situation in der er zum „Verbrecher“ wurde:

Für jemanden, der sich noch nie in einer existentiellen Ausnahmesituation befunden hat, ist es schwer zu verstehen, warum jemand dann Dinge tut, die er sonst nie getan hätte. Mancher normale Familienvater wurde im Krieg zur Bestie, oder andere zivilisierte Bürger wurden vor Hunger zu Kannibalen. Wenn die äusseren Umstände, die zu einer Tat führen, sichtbar werden, kann man vielleicht auf Nachsicht hoffen, aber wenn der Notstand in der Person selbst begründet ist, lässt sich das nur schwer vermitteln. Dass man in einen Menschen nicht hineinschauen kann, ist eine Binsenweisheit. Wenn wir einem anderen zu beschreiben versuchen, wie es in uns aussieht, sind wir auf die Erfahrung, die Phantasie und das Einfühlungsvermögen desjenigen angewiesen, der uns zuhört.[4]

Es könnte also durchaus sinnvoll sein, diesen Wahrheitsanspruch des Menschen einmal zu überwinden, mit den ganz unterschiedlichen Wahrheiten der einzelnen Menschen leben zu lernen und die soziale Gemeinschaft als ein Netz zu verstehen, welches diese zahllosen Wahrheiten miteinander verbindet und aneinander vorbeibringt. Würde dies nicht eine viel spannendere, freiere und gewaltlosere Ausgangslage für menschliches Zusammenleben schaffen? Anstatt von einer Gesellschaft Gewaltfreiheit zu verlangen, die Gewalt geradezu predigt, heilig spricht und legitimiert?

Es scheint mir logisch, dass jede neue Handlung eines Menschen gleichsam auch eine Reaktion auf eine vorhergehende Handlung oder Situation ist, durch die sie provoziert wurde. Selbstverständlich ist die Art, wie man reagiert, äusserst vielfältig, äusserst individuell und nie im Voraus bestimmt. Aber jede Aktion ist gleichzeitig eine Reaktion auf etwas vorhergehendes. Damit wird deutlich, dass keine Handlung unabhängig von der vorhergehenden Situation des Handelnden gesehen werden kann. Dies gilt auch für Gewalt. Wird nun mit Strafe darauf reagiert, so ist das keine abschliessende Handlung sondern gleichzeitig wieder eine neue „Aktion“. Noch schlimmer: Strafe verliert durch sein im Voraus festgesetztes Schema die Möglichkeit, aus einem Gewaltkreislauf auszubrechen. Das Prinzip der Strafe entpuppt sich hier erstens als reine Symptombekämpfung und zweitens als stures Handlungsschema, welches eine individuelle KonfliktLÖSUNG geradezu verhindert. Man schiebt die gesamte Schuld für eine Handlung auf den Täter ab, womit man dessen Bestrafung legitimiert. Peter Zihlmann, Rechtsanwalt, ehemaliger Richter und privater Ombudsmann aus Basel, schreibt:

Wir sollten erkennen, dass der Einzelne stellvertretend für viele Schuldige als Sündenbock vor Gericht steht. Wer hat ihn zuvor übervorteilt, ausgestossen, verleumdet? Wer hat dem Drogensüchtigen den Lebensmut genommen? Wer hat die Habgier und Geltungssucht des Hochstaplers angestachelt, von ihm profitiert? Stehen all diese Mitschuldigen vor Gericht? Wurde die angeklagte Mutter, die jetzt ihre Kinder misshandelt hat, nicht damals, als sie selbst ein Kind war, genauso misshandelt? Setzt sich das Elend, das vor Gericht verhandelt wird, nicht über Generationen fort wie ein Fluch? Erben sich nicht auch Gesetz und Recht wie eine ewige Krankheit fort?[5]

Oder wie es der französische Soziologe Emile Durkheim ausdrückte: „Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient!“[6] Um Verbrechen zu vermeiden, muss sie die Ursache bekämpfen. Die ganze Schuld auf den scheinbaren Täter abzuschieben und ihn zu bestrafen ist reine Symptombekämpfung.

[1] de.wikipedia.org/wiki/Schuld

[2] ebenda.

[3] Arno Funke, Mein Leben als Dagobert, Berlin 1998, S. 107ff

[4] Arno Funke, Mein Leben als Dagobert, Berlin 1998, S. 123

[5] Peter Zihlmann, Für eine wirksame Justizkritik, Plädoyer 4/2001

[6] Original: "Les societes ont les criminels quelles meritent", Emile Durkheim (1858 – 1917) [Quelle: www.safercity.de]

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