Glosse "Alles einsteigen!", in: Gießener Anzeiger am 17.6.2023
»Unsere nächste Station ist Gießen. Wir sind dankbar, dass wir angekommen sind.« Lautes Lachen schallt durch den Zug, als der Lokführer diese eher ungewöhnliche Durchsage macht. Die heitere Reaktion der Fahrgäste ist höchst bemerkenswert. Denn der Zug hat bei seiner Einfahrt in den Bahnhof gute 20 Minuten Verspätung. Zornig ist augenscheinlich niemand – dabei könnte diese Verzögerung im Berufsverkehr durchaus Anlass für Zorn sein. Wohlgemerkt: nicht auf das Zugpersonal, das für die Verspätung keine Verantwortung trägt. Ebenso wenig wie die Mitarbeiter am Bahnhof – Ärger lassen eher die Häufigkeit der Verspätungen und die damit verbundenen Durchsagen aufkommen. Mal ist zu hören, dass Reparaturen an Stellwerk, Strecke oder Fahrzeugen Ursache des Zuspätkommens seien. Oder es ist die Verspätung vorausfahrender Züge. Und das mehrfach pro Woche. Der treue Kunde muss also Geduld haben mit einer offensichtlich eher defizitären Infrastruktur. Umso befremdlicher mutet es an, wenn der RMV laut Medienberichten erneut eine Preiserhöhung um gut acht Prozent ankündigt. Trotzdem ist das noch das kleinere Problem. Viel schwieriger ist es, Massen täglicher Berufspendler davon zu überzeugen, vom Auto auf die Bahn umzusteigen. Denn wer an seiner Arbeitsstelle keine Gleitzeit hat, muss häufige Verspätungen in seinen Tagesplan einkalkulieren und entsprechend früher aufstehen. Statt ständig über Verbote und Regulierungen zu diskutieren, sollte es darum gehen, wie der ÖPNV nachhaltig attraktiver wird.
Im Januar 2018 tauchte in Gießen stadtweit ein Flugblatt auf, welches zu einer Testphase des Fahrens ohne Fahrschein aufrief. Es war eine Fälschung, führte aber zu einer umfangreichen Debatte. Leider blieb es bei der Debatte, selbst Mini-Anträge im Stadtparlament für eine Prüfung oder für testweise Einführung an Samstagen hatten keine Chance. Allerdings gab es auch keine Partei, die das vehement vertrat.
In der kleinen Gemeinde zwischen Gießen und Wetzlar kam es - auf Antrag der CDU - zu einem einstimmigen Beschluss für die Einführung des Nulltarifs. Doch es scheiterte an den Verkehrsunternehmen, hier vor allem am RMV. Klein beigeben will die Gemeinde aber nicht.