DIRECT ACTION
Abseilen über Autobahnen - der Streit um eine spektakuläre Aktionsform
1. Provokante Aktionen und ihre Bedeutung für politischen Protest
2. Aktionen von "Letzte Generation" und der Streit darum
3. Abseilen über Autobahnen - der Streit um eine spektakuläre Aktionsform
4. Hetze gegen Klimaschutz-/Verkehrswendeaktionen allgemein und die Kritik daran
5. Rechtsfragen bei provokanten Aktionen
Straßen blockieren in luftiger Höhe (Abseilaktionen)
Schon mehrmals konnten erfolgreich Autobahnen blockiert werden, ohne die Autobahn zu betreten oder den dazugehörigen Luftraum (4,70m über Fahrbahnhöhe, bei Bundes- und niederrangigeren Straßen nur 4,50m) zu berühren. Das verhinderte oft eine Bestrafung. Beispiele sind die Expo-Eröffnung im Jahr 2000 auf dem Messeschnellweg Hannover (siehe Foto) und Ende Gelände 2015 am Tagebau Garzweiler (auch auf Wikipedia). Ähnlich auch die Aktion am 13.8.2019 zur Blockade des VW-Werks in Wolfsburg. Die Abseilaktion fand hier u.a. über dem Mittellandkanal statt. Am Klimastreiktag, den 20.9.2019, seilten sich Robin Wood-Kletterer über der Autobahn A100 in Berlin ab.Bestraft (allerdings nur zu 20 bis 60 Tagessätzen) wurden Beteiligte, die mit einer Aktion "Grenze dicht - blöd, was?" im Rahmen von No-Border-Aktionen im Jahr 2016 über der A5 an der Schweizer Grenze zwischen Weil und Basel zeigen wollten, wie sich das anfühlt, in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein. Allerdings hingen die Kletteris hier unter der 4,70m-Linie, also tatsächlich im Straßenraum: Bericht erste Gerichtsinstanz ++ Berufung
Zu vielen Blockaden dieser Art kam es 2020 im Zusammenhang mit der Waldbesetzung und den Protesten gegen den Bau der A49 in Mittelhessen.
- Filmbericht der Aktion über der A5 bei Alsfeld am 1.10.2020
- Transpi-Aufhängaktion mit Vollsperrung der A5 am 6.10.2020 bei Reiskirchen (viele Berichte im Internet zu finden, z.B. auf www.facebook.com/A49stoppen/ am 6.10.2020)
- 13.10.2020: A3 bei Wiesbaden (mit Unfall im Stau, bei dem ein quer über alle Spuren rasendes Auto in einen LKW krachte und der mit Handy telefonierende, unangeschnallte Fahrer verletzt wurde)
Danach weitete sich die Aktionsform aus, um allgemein und überall gegen Autobahnbau und für eine Verkehrswende zu protestieren.
- 26.10.2020: Infrastruktur (u.a. Flughafen) im Rhein-Main-Gebiet (viele Verhaftungen, z.T. mehrwöchig) ++ Gerichtsverfahren danach endeten sehr unterschiedlich - von Einstellung bis 7 Monate Haft ++ Verfahren zur A5-Blockade platzte ganz (Bericht in FAZ und FR)
- 24.11.2020: Versuch, das als Demo anzumelden als Protest gegen Inhaftierungen vom 27.10. - gescheitert
- 27.11.2020: Bundesweiter Aktionstag blockfriday am blackfriday
- 8.12.2020: Weiterer Versuch, das als Demo anzumelden - klappt erneut nicht
- 12.12.2020: Über der AVUS in Berlin
- 23.3.2021: A39-Weiterbau und VW-Werk
- 15.4.2021: Verkehrsminister*innenkonferenz / Bremen autofrei (insgesamt sechs Blockaden, eine davon als Zeitrafferfilm: Abseilaktion am 15.4.2021 am Bremer Kreuz (A27)
- Autobahnblockaden zum Auftakt der IAA ++ Zeitrafferfilm der A9-Akton
- Blockade der B404 (A21-Protest) in Kiel am 24.9.2021 ++ eigener Bericht
- Völlig neue Dimension im Januar 2022: Mehrere Abseilaktionen wurden als Versammlungen ganz formal angemeldet - und mehrere dann auch behördlich gebilligt einschließlich Sperrung der Autobahnen. Tatsächlich durchgeführt wurden (unter großem Medieninteresse):
- 21.1.2022 über der A648 in Frankfurt: Bericht auf FFH ++ Pressespiegel
- 23.1.2022 über der A7 in Künzell bei Fulda: Bericht in der Hessenschau ++ Pressespiegel
- Liveticker der Morgenpost zur A100-Blockade und A103-Abseilaktion am 4.2.2022 in Berlin
- Es geht auch lokal: Blockade des Anlagenrings in Gießen zur Durchsetzung einer Fahrradstraße am 27.1.2022 ++ Berichte: Film ++ Gießener Anzeiger ++ HR ++ FFH ++ Live-Ticker der Gießener Allgemeine
- Bericht der Abseil- und Blockadeaktionen zur Eröffnung der Teslafabrik in Grünheide, auf: UntergrundBlättle am 22.3.2022
Ab Januar 2022 folgte dann noch etwas Neues - nämlich etliche Abseilaktionen, die angemeldet und bei offizieller Sperrung der Autobahn als Versammlung durchgeführt wurden. Ausgewählte Beispiele:
- Abseilaktion am 3.4.2022 in Lüneburg über der A39
- Über der A49 bei Gudensberg-Dorla am 14.8.2022
Berichte: HessennewsTV ++ HNA (Fotos) ++ Hessenschau ab 8.51min ++ Kommentar und Debatte auf nh24
Hart umkämpft war dann im Frühjahr 2023 eine angemeldete und dann zunächst verbotene Abseilaktion mit Raddemo auf und über der A9 in München. Das Verbot der Stadt München (KVR) wurde nach einer Klage vom Verwaltungsgericht München bestätigt, vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof dann aber aufgehoben (vorheriger Beschluss ohne Gründe). Die Aktionen konnten stattfinden.
Die Auseinandersetzungen gingen und gehen bis heute weiter: Manche Versammlungsbehörden oder Verwaltungsgerichte lassen Aktionen auf und über Autobahnen zu, andere nicht. Eine einheitliche Rechtsprechung gibt es nicht.
Das gilt auch für die strafrechtlichen Folgen. Von Freispruch bis zu langen Haftstrafen ist alles möglich und auch schon geschehen. Mitunter entscheiden unterschiedliche Gerichte zur gleichen Handlung völlig gegensätzlich.
Absurde Auseinandersetzung um Abseilaktionen in und um Bremen
Im Frühjahr 2021 blockierten mehrere Aktionsgruppen die Autobahnen in Richtung Bremen - aus Protest gegen die dort eingeladene Verkehrsministerkonferenz. Einige Aktionsgruppen agierten auf Bremer Stadtgebiet, andere in Niedersachsen. Das Landgericht Bremen sagte: Keine Nötigung, weil vom Versammlungsrecht gedeckt und ohnehin durch die Kletterhöhe keine direkte Auswirkung auf den Verkehr. In Niedersachsen genau anders: Alle vor Gericht gestellt. Die angeklagten Aktivistis am Amtsgericht Achim plus Unterstützer*innen trieben die Rechtsprechung aber noch weiter ins Absurde. Sie meldeten eine Wiederholung der Aktion als Versammllung an - und bekamen vor dem Verwaltungsgericht Recht. Streit gab es um die Frage, ob der Verkehr wegen der Aktion gestoppt werden müsse. Das Gericht wies diese Vollsperrung an. Die Aktivisti haben gegen die Vollsperrung geklagt, weil sie sie nicht nur für unnötig hielten, sondern auch für gefährlicher als eine Geschwindigkeitsreduzierung. Sie wollten die Aktion über dem fließendem Verkehr durchführen - selbstverständlich in sicherer Höhe über dem Normprofil der Autobahn. Das Gericht hat aber die Sperrung angeordnet und die Aktion auf eine halbe Stunde begrenzt. Am Ende war die Sperrung dann doch länger, weil es am Ende des gerichtlich angeordneten Staus leider zu einem Unfall kam, was die Argumentation der aktivisti, dass eine Sperrung unnötig und gefährlich ist, bestätigt.
Die Polizei informierte sogar korrekt, dass der Unfall NICHT während der Aktion stattfand - aber die Presse ignorierte das.
- Berichte: Zeit ++ Kreiszeitung ++ taz
- Radio Bremen (mit Video) ++ NDR (mit Video)
Es war ganz schön dreist, wie das OVG ungefragt eine Rechtsfrage gegenüber der Presse erläutert ("hätte verboten"). Das erinnert mich an den Anlagenring. Die Justiz, reaktionärer Teil von Politik, erdreistet sich immer offener, jenseits von Urteilen selbst Politik zu machen.
Dann kam der Gerichtsprozess - und natürlich wurden die Angeklagten verurteilt. Warum eine Strafe für eine Aktion, die als Demo zu einem anderen Zeitpunkt legal war? Die beiden Aktionen seien "vollständig unterschiedlich" gewesen, sagte ein Gerichtssprecher. Aha: einmal Abseilen von einer Betonbrücke (legal) und ein anderes Mal Abseilen von Stahlbrücke (Straftat). Nach dem Wortlaut gibt es nichts ("vollständig"), was bei den Aktionen ähnlich ist. Das Material der Brücke macht auch alles andere unterschiedlich ... Justiz halt.
Was ist dran an den Anklagen gegen Autobahnabseiler*innen? Sind solche Aktionen gefährlich? Dieser Film begleitet zwei Aktionen, die am 21. und 23. Februar 2022 ganz offiziell als Versammlungen angemeldet und unter Polizeischutz durchgeführt wurden.