Offener Raum

KURZNACHRICHTEN ZU REPRESSIONSTHEMEN

2015


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Dezember
Schwerpunkt Laienverteidigung
Laienverteidigung bedeutet die Unterstützung von Gefangenen oder Beschuldigten auf der Basis des § 138, Abs. 2 StPO. Danach können auch Nicht-Anwält_innen andere verteidigen und strafrechtsbezogen unterstützen, wenn das die angeklagte Person beantragt und das Gericht die Rechtskunde und Vertrauenswürdigkeit der Person als ausreichend für eine unterstützende Tätigkeit bejaht. Das gelang inzwischen in vielen Fällen – mit erstaunlichem Erfolg. Verbunden mit Strategien kreativer Antirepression konnten die meisten Verfahren zur Einstellung getrieben werden. Wertvoll ist aber auch die erweiterte Solidarität. Denn nunmehr können auch politische Weggefährt_innen die Beschuldigten direkt, per Anträge, Mitsprache, Akteneinsicht, Unterstützung im Verfahren und unbehinderte Besuche im Gefängnis stärken. Infos unter www.laienverteidigung.siehe.website und www.prozesstipps.siehe.website.

Interview im Schattenblick (SB) zur Rechtshilfearbeit auf dem Klimacamp 2015
Die Redaktion des Schattenblick dokumentierte in einer langen Reihe von Interviews die Geschehnisse und Organisierungsstrategien rund um das Klimacamp im Rheinland 2015. Der folgende Ausschnitt stammt aus dem Gespräch mit einer Beteiligten an der Rechtshilfegruppe (Quelle).
SB: Legt ihr Wert darauf, diese Unterstützung soweit wie möglich in Eigenregie zu organisieren?
Maria: Wir versuchen schon, möglichst unabhängig zu arbeiten, aber wenn es notwendig ist, haben wir auch AnwältInnen, die wir ansprechen können und die Angeklagte bei Prozessen unterstützen. Es gehört zu unseren Aufgaben, diese Kontakte zu vermitteln. Wir vermitteln aber auch Kontakte zu LaienverteidigerInnen: Bei diesem Konzept geht es darum, daß sich AktivistInnen gegenseitig vor Gericht verteidigen und keine externe Anwältin dazuholen, sondern sich gemeinsam das erforderliche juristische Wissen aneignen und den Prozeß gleichberechtigt führen.
SB: Was ist aus deiner Sicht der Vorteil dieses Konzepts?
Maria: Für mich besteht der Vorteil bei einer Laienverteidigung darin, daß ich mehr Kontrolle über einen Gerichtsprozeß behalten kann und auch selber bestimme, welche Strategie ich wähle. Wenn ich einen anderen Menschen mit Laienverteidigung unterstütze, ist mir aber auch eine gewisse Eigeninitiative der Betroffenen wichtig. Laienverteidigung ist keine Dienstleistung, sondern ein gemeinsames Aneignen von Handlungsmöglichkeiten vor Gericht.
SB: Auf welche Weise tauscht ihr euch mit anderen Menschen aus, die sich in dem von dir beschriebenen Sinn engagieren?
Maria: Es gibt zum einen ein Antirepressionsnetzwerk, und zum anderen finden regelmäßig Prozeßtrainings statt, wo man professionell lernt, wie man mit Prozeßsituationen umgehen kann und an welchen Stellen man welche Handlungsmöglichkeiten hat.
SB: Bekommt ihr bei eurer Arbeit manchmal Probleme mit der Gegenseite, sei es, daß ihr unter Beobachtung steht oder behindert werdet?
Maria: RWE und Polizei versuchen hier auf verschiedene Weise, juristisch gegen die Proteste vorzugehen. Der Ermittlungsausschuß selbst hatte noch keine Probleme, aber Menschen, die an Aktionen teilnehmen, werden im nachhinein oft mit Anklagen konfrontiert. Eine Strategie, die RWE im letzten Jahr angewandt hat, waren Unterlassungserklärungen. Dabei handelt es sich um eine zivilrechtliche Möglichkeit, beispielsweise Menschen, die bei einer Zugblockade dabei waren, hinterher zu zwingen, ein Papier zu unterzeichnen, auf dem steht, daß sie sich nie wieder an Blockaden in diesem Bereich beteiligen.
SB: Auf welcher rechtlichen Grundlage setzt RWE solche Maßnahmen durch?
Maria: Auf dem Betriebsgelände hat RWE natürlich Hausrecht, weshalb ein häufig angewandter Straftatbestand Hausfriedensbruch ist. Hingegen ist der Wald im Umfeld der Tagebaue nach wie vor öffentlich zugänglich und darf auch betreten werden.

Laienverteidigung als neue Chance der Knast-Solidarbeit
Ein Verfahren in Koblenz zeigt das Potential der Laienverteidigung. Angeklagt sind zwei Personen, die schon sehr viele und lange Gefängnisstrafen abgesessen haben. Wegen eines erneut geplanten Überfalls sollen sie nun nicht nur verurteilt werden, sondern anschließend in die Sicherungsverwahrung verlegt werden, d.h. bis zum Lebensende eingesperrt bleiben. Als sie Anfang April verhaftet und in Untersuchungshaft eingesperrt wurden, beschlagnahmte die Justiz etliche Briefe an Bekannte, so auch an einen Anti-Knast-Aktivisten im Umfeld der Projektwerkstatt in Saasen. Der schickte einem der Gefangenen daraufhin die nötigen Unterlagen, um von diesem als Wahlverteidiger beantragt zu werden. Das klappte und seitdem kann er unkontrolliert Briefe als Verteidigerpost austauschen und den Gefangenen ohne Überwachung und unter Mitnahme von Akten, Laptop usw. im Gefängnis besuchen. Der Laienverteidiger spielt im Prozess, z.B. bei Vernehmungen, die aktivste Rolle und beantragte die Aufhebung der Haftbefehle. Diese Strategie erweitert die Möglichkeiten der Strafverteidigung und der Soliarbeit enorm. Die Verbreitung der Information ist daher wünschenswert. Die einschlägigen Rechtshilfeorganisationen verweigern das bislang aber, da sie ein Eigeninteresse an der Unmündigkeit vieler Aktivist_innen und am Monopol bezahlter Anwält_innen bei Verteidigungstätigkeiten haben.

Hilfen für die Selbst- und Laienverteidigung
Wer sich selbst einarbeiten will bzw. muss, kann sich die einschlägigen Gesetzeskommentare besorgen. Die sind vor Gericht oft ausschlaggebend, aber harter Stoff für Anfänger_innen. Leichter fällt der Einstieg mit Büchern, die zum Lernen da sind. Ein Beispiel ist die Reihe "Kompendium für Studium, Praxis und Fortbildung" im Nomos-Verlag (Baden-Baden). Das erschienene Werk "Polizei- und Ordnungsrecht Hessen" von Lothar Mühl/Rainer Leggereit/Winfried Hausmann (4. Auflage 2013, , 237 S., 26 €) bietet eine äußerst komprimierte Darstellung der Eingriffsmöglichkeiten von Ordnungsbehörden nach dem allgemeinen Polizeirecht (in Hessen vor allem: HSOG) bzw. zur Gefahrenabwehr. Es schildert, illustriert mit Beispielen, die praktischen Fälle im Handeln von Polizei und anderen Ordnungsbehörden. Die gesetzlichen Grundlagen sind dabei genannt, leider aber meist nicht zitiert. Für den Lesefluss wäre es mitunter besser, der Paragraph stände ausformuliert im Text – kombiniert mit passenden Gesetzesbücher oder dem Internet lässt sich diese Lücke aber überwinden.
Viele weitere Hilfen, Musteranträge und Gesetzestexte halten die Internetseiten zur Selbst- und Laienverteidigung im Internet bereit: www.prozesstipps.siehe.website und www.laienverteidigung.siehe.website. Auf Wunsch kommen auch Trainier_innen zu Betroffenen und Interessierten, damit Handlungsmöglichkeiten bei Polizei und Gericht geübt werden können (www.vortragsangebote.siehe.website).

November
Schwerpunkt Urheberrecht
Allmende, Teilen statt Tauschen und andere Begriffe bezeichnen Ideen, mit denen die starren Eigentumsschranken von Wissens- und materiellen Ressourcen überwunden werden sollen. Was bei Sachen wegen begrenzter Duplizierbarkeit zwar schwieriger, aber deshalb umso wichtiger wäre (um Rohstoffe und Aufwand zu sparen), gilt bei Wissen als einfach: Creative Commons (CC), die freie Verfügbarkeit von Wissen und Ideen sollte in emanzipatorischen politischen Kreisen eigentlich Standard sein. Weil CC so eingesetzt werden kann, dass alle aus der Nutzung entstehenden Werke auch frei sein müssen, entstünde eine wellenförmige Ausdehnung freien Wissens. Doch die Praxis sieht dürftiger aus. Verwertungsgesellschaften jagen Copyright-Diebe, in Kampagnen werden Raubkopierer_innen auf eine Stufe mit Schwerkriminellen gestellt. Kaum eine Redaktion, Zeitschrift, Runde von Kulturschaffenden oder ein Verlag geben ihre Texte, Bilder oder Filme frei. Selbst anarchistische Buchmessen sind ein Schauplatz von Kapitalverwertung statt freien Wissens.

Die Methoden des Creative Commons
Wer Texte verfasst, Fotos schießt filmt oder Bilder malt, hat ohne eigenes Zutun das Urheberrecht auf das eigene Werk. Technische Erfindungen müssen als Patent aktiv angemeldet werden. Wer von einer freien Gesellschaft träumt, hat aber schon jetzt das Mittel der Subversion – ohnehin immer eine wichtige Handlungsstrategie. Es bedeutet, neben dem Kampf gegen die starren Regeln diese so zu nutzen, dass sie gegen sich selbst wirken. Beim Creative Commons nutzt mensch gerade das Urheberrecht und bestimmt kraft diesem, dass das eigene Werk frei genutzt werden kann – aber z.B. unter der Bedingung, dass alles, was daraus entsteht, auch frei sein muss. Wer also ein Foto schießt und unter CC veröffentlicht, kann festlegen, dass alle Bücher, Internetseiten usw., die es verwenden, auch frei sein müssen.

Nutzung geschützter Werke: Das Zitaterecht
Leider dominiert auf der Welt der Kapitalismus. Das drängt Menschen und Firmen dazu, materielle und immaterielle Ressourcen in Wert zu setzen und zu vermarkten. Selbst viele Projekte freien Zugangs zu Wissen und materiellen Produktionsmitteln dienen früher oder später wieder der Geldvermehrung. Für den Zugriff auf Ideen, Texte, Bilder, Musik usw. bestehen überall starke Schranken. Zum Glück gibt es aber Handlungsmöglichkeiten, neben direkter Aktion und Ungehorsam auch ganz formal. Geistige Werke anderer dürfen z.B. als Zitat eingebaut werden. Bei einem Zitat geht es darum, durch die Übernahme im Original (Textausschnitte, Bilder, Film- oder Tonsequenzen) zu dokumentieren, dass eine andere Person oder Gruppe etwas gemacht hat. Wer z.B. zeigen will, dass eine Musikgruppe rassistische Texte singt, darf in Radio oder in Film die passenden Ausschnitte als Beleg bringen. Nicht erlaubt ist, geschützte Werke anderer zu nutzen, weil mensch selbst nicht Gescheites hat – also nicht einfach als Lückenfüller, Untermalung eines Films mit Musik oder Illustration einer Broschüre mit Bildern.

Drei Fallbeispiele aus der Projektwerkstatt in Saasen
Vor etlichen Jahren entstanden Bücher zur Kritik an Knast und Strafe. Ein ehemals linker, knastkritischer Verlag hatte dazu schöne Karikaturen veröffentlicht, verweigerte jetzt aber das Nutzungsrecht. Offenbar waren ihm die Zeichnungen peinlich, denn der Verlag hatte inzwischen einen guten Ruf als Fachverlag für Literatur pro Justiz und Gefängnis. Genau das dokumentierten nun die Aktivist_innen aus der Projektwerkstatt. Sie druckten die Zeichnungen als Zitat, nämlich zum Beleg der Kritik, dass sich ein Verlag aus kapitalistischen Interessen ändert. Der zweite Fall betraf den ersten großen Dokumentarfilm aus der Projektwerkstatt. In "Aufstieg und Fall einer Patentlösung" wurde der Erfolg des Widerstands gegen die Agrogentechnik festgehalten. Eine kurze Sequenz zeigte Stefan Raab in TVtotal, als er einen Witz über eine Aktion versuchte. Der Sendungsausschnitt war ein Zitat, nämlich der Beleg, dass es die Aktion in die Sendung schaffte. Die damalige Produktionsfirma Brainpool wollte die Nutzung verhindern, scheiterte jedoch.
Spannend wird der dritte Fall. Es ist ein Film über den Rechtsruck des Anti-Atom-Aktivisten Holger Strohm. Der zeigt die ganze Breite rechter Gedanken und Weltvereinfachungen in den Filmen, Interviews und Vorträgen von Holger Strohm. Den Anfang bildet sein Werdegang, die folgenden Szenen zeigen die Verzweiflung, aus denen dann der Glaube an Verschwörungen, die Adressierung des Bösen und Teuflischen an bestimmte Personenkreise und schließlich rechtsextremes Gedankengut wachsen. Die Stärke des Films, dass er nur Originalsequenzen aus Strohms Treiben verwendet, dient diesem als Ansatzpunkt, solche Kritik verbieten zu lassen. Er pocht auf Urheberrechte, aber eine Filmsequenz ist genauso ein Zitat wie eine Textpassage aus Buch oder Zeitschriften. Dient es als Beleg, ist es vom Zitaterecht gedeckt. Das Landgericht Hamburg muss nun am 17.12.2015 um 11 Uhr entscheiden. Der inzwischen stark erweiterte Film ist Teil der Aufklärungskampagne "Den Kopf entlasten – Kritik an vereinfachten Welterklärungen" ist (siehe www.kopfentlastung.siehe.website) und dort auch anzuschauen.

Taschenkarte mit Tipps zu rassistischen Polizeikontrollen
Du findest rassistische Polizeikontrollen erniedrigend, widerlich und gefährlich? Ihr überlegt, wie Ihr solidarisch eingreifen könnt und wollt etwas zur Rechtslage wissen? Dann hilf mit, die praktische Info mit handlicher Taschenkarte "Rassistische Polizeikontrolle – Was tun?!" zu verbreiten. Du kannst eine kleine oder große Stückzahl bestellen – für Dich, für Deine Zusammenhänge, zum Verteilen. Kontakt: post@schoener-leben-goettingen.de

Gefühlte Kriminalität als Dauerproblem
Medien vermitteln durch ihre reißerische Berichterstattung den Eindruck, dass Kriminalität allgegenwärtig, das Leben gefährlich ist und im Gefängnis vor allem Mörder und Vergewaltiger sitzen. Dass gerade Gewalt zwischen Menschen fast immer unter Bekannten und nur selten in dunklen Ecken stattfindet, verschwindet aus dem Bewusstsein und schafft so den Nährboden für autoritäre Innenpolitiken. Gilt eine solche Verzerrung auch für die Darstellung der Polizeiarbeit? Barbara Steinhart geht in ihrem Buch "Spannungsfeld Fiktion und Berufsalltag in deutschen Fernsehkrimis" (2012, Verlag für Polizeiwissenschaft, 164 S., 19,80 €) der Frage nach, wieweit die fernsehgemachten Bilder des Polizeidienstes in Krimis mit dem Alltag im Beruf übereinstimmen? Ihre Antwort fällt je nach beschriebener Beispielsequenzen unterschiedlich aus. Im Gesamtresümee aber verzichtet sie auf scharfe Kritik: Einige Bereiche würden immer wieder verzerrt, aber neben den zur filmischen Dramaturgie notwendigen Verfälschungen sei doch eine Nähe zum Original immer wieder gegeben. Dabei übersieht sie, dass sowohl im Film als auch in den Selbstdarstellungen der Polizei einiges gerne verschwiegen wird: Frustration im Job, Gewaltanwendungen, Übergriffe und Willkür – zusammen die gefürchtete "Cop Culture" männerbündischer Machtspielchen in Uniform.

Oktober
Schwerpunkt Psychiatrie
Neue Urteile (Mitteilung aus dem Werner-Fuß-Zentrum)
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei bemerkenswerte Entscheidungen zur Zwangsbehandlung sowie Zwangseinweisung veröffentlicht:
A) In den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden [. . .]
1. gegen den Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 26. Mai 2014 - 02 T 285/14 - (Genehmigung der - auch zwangsweisen - medikamentösen Behandlung) - 2 BvR 1549/14 -,
2. gegen den Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 26. Mai 2014 - 02 T 285/14 - (Genehmigung der vorl. Unterbringung) - 2 BvR 1550/14 - hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts [. . .] am 14. Juli 2015 einstimmig beschlossen: … Der Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 26. Mai 2014 - 02 T 285/14 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. …
Der vollständige Beschluss mit der Begründung, warum auch nicht eingesperrt werden darf, wenn die Zwangsbehandlung illegal ist, hier ...
Die Begründung des Beschlusses des BVerfG ist eine "Prügelorgie" gegen die unteren Gerichte, die in nahezu jeder Hinsicht einfach nur "frei Schnauze" geurteilt hatten. Das macht den Beschluss an sich schon lesenswert. Besonders hervorheben möchten wir noch folgende Zitate:
"...Auch soweit feststehen dürfte, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt des Erlasses des landgerichtlichen Beschlusses krankheitsbedingt die Notwendigkeit der Behandlung nicht (mehr) einsehen konnte, hätte das Landgericht angesichts der aus dem amtsgerichtlichen Beschluss ersichtlichen Feststellungen überprüfen müssen, ob nicht möglicherweise ein nach § 1901a Abs. 1 oder 2 BGB [Patientenverfügungsgesetz] beachtlicher Wille der Beschwerdeführerin der Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung entgegenstand (vgl. hierfür Marschner, in: Jürgens, Betreuungsrecht, 5. Auflage 2014, § 1906 Rn. 36; siehe hierzu auch die Neuregelung des § 630d BGB; vgl. zur Bindung des Betreuers an den mutmaßlichen Patientenwillen [fett von uns] bei dessen Einwilligungsunfähigkeit, soweit keine Patientenverfügung i.S.d. § 1901a Abs. 1 BGB vorliegt, auch die Gesetzesbegründung BTDrucks 17/11513, S. 7)." ...
"...Vielmehr lassen sie vermuten, dass das Landgericht daraus, dass die Entscheidung der Beschwerdeführerin zur Absetzung der Medikamente von durchschnittlichen Präferenzen abweicht und aus der Außenansicht unvernünftig erscheinen dürfte, auf die (eingriffslegitimierende) Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zu freier Selbstbestimmung geschlossen hat. Damit verkennt es, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit als Freiheitsgrundrecht das Recht einschließt, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der - jedenfalls in den Augen Dritter - den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt gerade auch die "Freiheit zur Krankheit" und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind (vgl. BVerfGE 128, 282 (304 m.w.N.))."
Damit betont das BVerfG genau den Punkt, den wir immer hervorgehoben haben: laut Gesetzestext des § 1901a Abs 2 ist der mutmassliche Wille "aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln." Also müssen Beweise für einen vorhergegangenen (freien) Willen, auch grundrechtsverletzend zwangsbehandelt zu werden, vorgebracht werden! Sonst ist der mutmaßliche Wille offensichtlich der natürliche Wille, nicht eingesperrt zu werden, weil sich die Person ansonsten freiwillig in die Psychiatrie begeben bzw. dort bleiben würde. Ärzte bzw. Betreuer müssen diesen (natürlichen) Willen – der vom Gesetzgeber so gestärkt wurde, dass damit sogar eine Patientenverfügung widerrufen werden könnte – entkräften, indem sie mit Tatsachen einen vorher geäußerten Willen, eingesperrt und zwangsbehandelt zu werden, beweisen. Das geht eigentlich nur mit einer positiven psychiatrischen Vorausverfügung, der unter Zeugen mündlich ausdrücklich zugestimmt wurde.
B) Beschluss vom 07. Juli 2015 - 2 BvR 1180/15 - Beschluss zur Forensik - gleicher Senat und dieselben Richter:"Zwangsbehandlung mit Neuroleptika im Maßregelvollzug
Die Anordnung einer medizinische Zwangsbehandlung nach dem ThürMRVG kann vor dem Hintergrund von Art. 2 Abs. 2 GG nicht für die Dauer von zwei Jahren erfolgen."
Dabei sind die Gründe wichtig, denn obwohl das BVerfG das Verfahren nicht angenommen hat, hat es mir der Begründung gezeigt, dass es solche "frei-Schnauze-Beschlüsse" der unteren Gericht nicht hinnimmt.

Wer hat Originalakten, Beipackzettel usw., die Verbrechen durch der Psychiatrie dokumentieren?
In Buchform, im Internet und als Dokumentarfilm sollen besondere Skandale und der Schrecken des Alltags hinter Mauern und Stacheldraht der Zwangspsychiatrien nachgezeichnet werden. Die Besonderheit: Alles soll an Unterlagen der "anderen Seite" belegt werden – also keine Erlebnisberichte der Betroffenen oder ihres Umfeldes, sondern Schriften der Kliniken, Gutachter_innen, Pharmafirmen usw. Genau das suchen wir also – und rufen dazu auf, uns solche Akten und Unterlagen zugänglich zu machen für die Veröffentlichungen. Am meisten hilft natürlich, wenn das Material schon so aufbereitet ist, dass es gut verwendbar ist. Beispiele für gesuchte Akten:
- Ausgewählte Teile von Patient_innenakten, z.B. Fälle mit einer Beschreibung, wo welche brisanten Stellen sind.
- Zusammenstellungen zu Geflechten, Filz und Seilschaften in und hinter den Kliniken, Gutachter_innen usw. mit Belegen und Beschreibungen.
- Infos zu Medikamenten, von Beipackzetteln über Firmendokumente bis zu Abhandlungen aus Psychiater_innenkreisen.
Bitte an die Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen-Saasen, kobra@projektwerkstatt.de (für Rückfragen: 06401-903283).

Umfangreiche Dokumentation: "Der Fall Mollath"
Dieses Buch von Gerhard Strate (2014, OrellFüssli in Zürich, 271 S.) könnte einem richtig Freude machen – trotz der bedrückenden Geschichte, die es beschreibt. Denn der Autor hat die Abläufe um Verfolgung, Verurteilung und Inhaftierung des inzwischen bekanntesten Zwangspsychiatrisierten in Deutschland minutiös aufgelistet. Er zitiert dabei sehr viele der offiziellen Unterlagen und hat diese zu großen Teilen als Original ins Netz gesetzt. Das ist richtig gute Recherchearbeit. Dennoch bleibt ein beklemmendes Gefühl nach: Held des Buches ist nicht Mollath, sondern der Autor selbst. Das Titelbild zeigt ihn, nicht die Figur des Titels. Es hätte also auch "Der Anwalt Strate" heißen können. Das ist schade, aber trübt den positiven Gesamteindruck nur in einem Nebenaspekt.

September
Neuer Durchbruch für das Versammlungsrecht?
Mit einer vorläufigen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht den Weg geöffnet für die Hoffnung, mit einem weiteren wegweisenden Urteil das Demonstrationsrecht räumlich auszuweiten. Hatte das sogenannte "Fraport-Urteil" vom 22.2.2011 (Az. 1 BvR 699/06) Versammlungen auf öffentlich genutzten Flächen staatlich dominierter Unternehmen erlaubt (also die Teile von Flughäfen, Bahnhöfe usw., die allgemein zugänglich sind und genutzt werden), so geht es jetzt um öffentlich zugängliche Flächen in privater Hand. Auch hier würden Grundrechte gelten und erlaubten daher im Wege einer einstweiligen Anordnung eine Demo in Passau. (Az. 1 BvQ 25/15). In einer Presseinfo des Verfassungsgerichts hieß es: "Als private Grundstückseigentümerin ist die GmbH & Co. KG nicht wie die staatliche Gewalt unmittelbar an Grundrechte gebunden. Dennoch entfalten die Grundrechte als objektive Prinzipien rechtliche Wirkungen; die Versammlungsfreiheit ist im Wege der mittelbaren Drittwirkung nach Maßgabe einer Abwägung zu beachten. Je nach Fallgestaltung kann dies einer Grundrechtsbindung des Staates nahe oder auch gleich kommen. Für den Schutz der Kommunikation kommt das insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die früher in der Praxis allein dem Staat zugewiesen waren." Die Hauptentscheidung wird erst noch folgen.

Versammlungen aus Polizeisicht
Einfach nur spannend! Die "Dokumentation der Polizeieinsätze anlässlich der Demonstration gegen das Kernkraftwerk Grohnde am 19.03.1977 und der Räumung des besetzten Kühlturmgeländes am 23.08.1977", kurzgefasst unter dem einprägsamen Buchtitel "Grohnde" (Autor: Michael Stricker, 2014, Verlag für Polizeiwissenschaft in Wiesbaden, 271 S., 39,90 €) ist eine minutiöse Beschreibung der Abläufe nicht nur aus Polizeisicht (das wäre einseitig und normalerweise langweilig), sondern aufgrund der von der Polizei damals angefertigten Originalunterlagen. Pläne, Skizzen, Abschriften von Rufen, Anweisungen, Funksprüchen usw., sogar ein Diagramm der Führungsstruktur findet sich in dem A4 großen Buch. Beweisen tut es auch eines: Die Polizei dokumentiert sehr genau. Schade, dass solche Unterlagen erst nach 37 Jahren veröffentlicht werden, während bei aktuellen Gerichtsverfahren und Debatten gemauert wird, was das Zeug hält.
Aus dem gleichen Verlag stammt als weiteres Buch "Versammlungsrecht" von Volker Stein (2014, 274 S., 19,80 €). Es wurde verfasst von einem Richter, der mit Polizeirecht ständig auf Tuchfühlung ist. Die Texte lassen sich daher nicht nur als Informationsquelle nutzen, um Demonstrationen rechtmäßig durchzuführen, die Grenzen abschätzen zu können und um das Handeln der Polizei zu bewerten, sondern es ist auch hilfreich, wenn es zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommt. Das nützliche Buch ist dabei in zwei Teile geteilt. Zu Beginn werden konkrete Fragestellungen erörtert, danach die einzelnen Paragraphen des Versammlungsgesetzes wie in einem Rechtskommentar erörtert.

Die willigen Vollstrecker in Robe: Justiz im Dritten Reich
Die Behauptung, fast alle Deutschen seien nach 1933 Nazis gewesen, ist falsch. Ebenso falsch ist, dass die Nazis irgendwie von außerhalb gekommen wären und das eigentlich gute Deutschland missbraucht hätten. Vielmehr zeigte sich im Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in einer beeindruckenden Art, dass williges Vollstreckertum beliebige, auch brutalste Handlungsweisen ermöglicht. Die NSDAP musste nicht viele Menschen austauschen oder umerziehen. Sie trafen auf eine Mehrheit, die jeden Befehl ausführen würde, wenn das nur ausreichend propagandistisch unterfüttert oder als Dienstanweisung im Job oder anderen Hierarchien geschah. Schonungslos zeigt das Buch "NS-Justiz und Nachkriegsjustiz" von Albrecht Pohle und MitautorInnen (2014, Wochenschau in Schwalbach, 222 S.) das Wirken der Richter im Nationalsozialismus – im Gericht und im politischen Raum. Und schlimmer: Nach 1945 setzten viele ihre Karrieren in Robe. Nur wenige Verbrechen "im Namen des deutschen Volkes" wurden zwar überhaupt geahndet, aber selbst dann kamen die Richter nach kurzer Zeit wieder frei und konnten neue Karrieren beginnen. Das Buch zeigt das an konkreten Personen und an den Orten des Grauens, unter anderem den Lagern Esterwegen und Hinzert. Im Mittelpunkt stehen dabei die Nacht-und-Nebel-Deportierten, also denen, bei denen die NS-Führung politische Unruhen befürchtete und die deshalb "verschwinden" statt öffentlich abgeurteilt werden sollten.
In ebenso beeindruckenden Büchern haben Autor_innen im Suhrkamp-Verlag das für die Justiz und das Rechtsdenken insgesamt untersucht. Dabei stehen weniger die konkreten Taten als Motive und Denkkulturen im Mittelpunkt – so in "Recht und Justiz im ‚Dritten Reich'", herausgegeben von Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (1989, 373 S., 15 €). Hier werden in verschriftlichten Fachbeiträgen zu einer gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Göttingen die Beeinflussungsgrößen untersucht, die aus der Justiz eine Stütze der Tötungsmaschinerie machte – vom Jurastudium über die Gesetze bis zur Personalpolitik. Wer die unfassbaren Denklogiken in Originaltexten nachvollziehen will, kann zum Buch "Rechtfertigung des Unrechts" von Herlinde Pauer-Studer und Julian Fink (2014, 563 S., 22 €) greifen. Hier sind die maßgeblichen Gesetze, Anweisungen und Leitlinien – meist auszugsweise – zitiert. Damit das mörderische Treiben der Täter in Robe, die ja vom Schreibtisch aus agierten, auch zur Praxis wurde, brauchte es willige Vollstrecker_innen, die zu umfangreichen Gewaltorgien ohne Tötungshemmung bereit waren. Wie solche Organisationen und in ihnen die brutalisierten Rädchen im System geschaffen wurden, beschreibt Stefan Kühn in "Ganz normale Organisation" (2014, 411 S., 16 €). Die "Soziologie des Holocaust", wie der Untertitel heißt, vermittelt einen intensiven Einblick in Gehorsams- und Anpassungsstrategien mit einer Mischung aus Manipulation und Drohung.

Neuer Trend? Personalien verweigern …
Über 1000 Menschen fluteten am 14. August 2015 den Tagebau Garzweiler in einer genialen Aktion. Die vielen internationalen Aktivist_innen brachten eine neue Form des Umgangs mit Polizei und Justiz mit: Die Verweigerung der Personalien. Unterstützt vom Rechtshilfeteam konnten Hunderte der kontrollierten Menschen erfolgreich anonym bleiben. Etliche wurden die gesetzlich maximale Dauer von 12 Stunden festgesetzt – am Ende aber half aber auch das der Polizei nicht. Und wenn sie keine Personalien hat, kann sie auch kein Ordnungsgeld wegen Verweigerung der Personalien in Rechnung stellen. Eine in Deutschland eher ungewohnte Form offensiver Antirepression ließ an diesem Tag bisherige Protesttraditionen dahinschmelzen.

August: Schwerpunkt Zwangspsychiatrie
Psychiatriechef gibt zu: Disziplinarmaßnahmen als Therapie verschleiert
In einer Stellungnahme zum Entwurf des Hessischen Maßregelvollzugsgesetz gab der Chef der forensischen Psychiatrien in Haina und Gießen, Rüdiger Müller-Isberner, am 24.2.2015 zu Menschen mit Disziplinarmaßnahmen zu drangsalieren und diese als Therapiemaßnahmen zu verschleiern. Eine Rechtsgrundlage dafür fehle auch in seinen Augen, denn er selbst forderte, dass er durch ein eventuell neues Maßregelvollzugsgesetz "endlich eine gesetzliche Grundlage" erhalten würde. Der Ausschnitt aus seiner Stellungnahme: "Disziplinarmaßnahmen werden in der Praxis (häufiger verdeckt) verhängt und müssen dann als therapeutische Maßnahmen oder besondere Sicherungsmaßnahmen deklariert werden. Dies führt fast immer zu Schwierigkeiten und Beschwerden, auch gerichtlichen. ... Die Einführung von Disziplinarmaßnahmen führt in der Praxis nicht zu Einschränkungen der weiterhin möglichen therapeutischen Reaktionen bzw. besonderen Sicherungsmaßnahmen zum Erreichen des Vollzugsziels. Die bisherigen diesbezüglichen Verfahrensweisen haben teilweise damit lediglich endlich eine gesetzliche Grundlage." Das Eingeständnis hat umfangreiche strafrechtliche Bedeutung, denn Fixierungen, Zwangsbehandlungen, Isolation usw. ohne Rechtsgrundlage sind je nach Art der Maßnahmen Straftaten der Freiheitsberaubung, Nötigung, Bedrohung oder Körperverletzung. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft Gießen sofort nach Bekanntwerden klargestellt, dass sie nicht ermitteln wird. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus …

Kein Wahlrecht für Zwangspsychiatrisierte
Das Bundeswahlgesetz schließt im § 13 ("Ausschluß vom Wahlrecht") Zigtausende Menschen durch die Psychiatrisierung vom Wahlrecht aus. Wählen, von Kritiker_innen zwar eher als Verschleierung von Machtverhältnissen kritisiert, von den Propagandaabteilungen der Regierenden aber als vornehmste Bürger_innenpflicht bezeichnet, darf danach nicht, "1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst, 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet."

Besuchsverbot: Patienten dürfen nicht in klinik-kritische Handlung bestärkt werden
Peter C. Heinrichs ist seit ca. 12 Jahren in der forensischen Psychiatrie Riedstadt-Goddelau eingesperrt. Grund waren eine Vielzahl von Kleinstdelikten im alkoholberauschten Zustand. Die Strafhöhe betrug eineinhalb Jahre – wegen der Psychiatrisierung sind daraus inzwischen 12 Jahre Eingesperrtsein geworden. Zur Zeit läuft das Überprüfungsverfahren, ob sich diese Zeit weiter verlängert. Die Klinik will das, unter anderem mit dem Argument, er hätte draußen kein soziales Umfeld und würde deshalb wahrscheinlich rückfällig werden. Gleichzeitig verhindert die Klinik die Entstehung eines Umfeldes. Eine Person, die Peter unterstützt, erhielt jetzt ein Besuchsverbot. Begründung: Sie würde ihn in seiner psychiatriekritischen Haltung bestärken. Besuchen darf also nur, wer die Psychiatrie toll findet. Und wer keinen Besuch empfängt, hat kein Umfeld und bleibt drin.

Hausverbot: Ex-Patient darf wegen Interview im Fernsehen nicht mehr auf Klinikgelände
Über Thomas Lindlmair ist in den vergangenen Monaten immer mehr berichtet worden. Der aktive Psychiatriekritiker aus dem Deutschen Forensik-Bund e.V. war wie seine prominenteren Leidensgenoss_innen Ilona Haslbaur und Gustl Mollath jahrelang rechtswidrig eingesperrt worden. Jetzt kämpft er draußen nicht nur für seine Rehabilitation, sondern auch für andere Inhaftierte, um sie möglichst schnell aus ihrem Gefängnis zu befreien. Der Bayrische Rundfunk berichtete im Sommer 2015 einige Male über seine Inhaftierung in der Psychiatrie von Wasserburg/Gabersee. Die Folge: Die Klinik verhängte ein Hausverbot für das gesamte Gelände. Kritik ist offenbar unerwünscht.

Blicke hinter die Kulissen der Medizin
In einem dicken Buch sortiert zeigt der Autor Peter C. Gøtzsche, "wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert" (so der Untertitel). Umfangreiche Quellenangaben machen das Werk zu einer Art Lexikon des Grauens hinter den Kulissen vermeintlicher Wissenschaftlichkeit und Fürsorge. Zwei Kapitel sind der Psychiatrie und speziell den Psychopharmaka für Kinder gewidmet, der Rest beleuchtet die Medizin als Ganzes: Interessenskonflikte von Ärzt_innen, Verkaufsstrategie für Medikamente, Vertuschung und Fälschung, verfilzte bis korrupte Behörden. Gøtzsche, selbst Professor am Rigshospitalet Kopenhagen, erinnert all das an kriminelle Vereinigungen oder gar eine Mafia – nur das es deutlich mehr Tote gibt (Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, 2014, riva in München, 512 S., 24,99 €).

Kleine Demo gegen Zwang und Gewalt in Psychiatrien
Am Freitagnachmittag (24. Juli) demonstrierten in Königslutter ca. fünfzehn Personen gegen Zwangsmaßnahmen in Psychiatrien. Sie riefen "Psychiatrie geht auch zwangfrei!" und "Für die Freiheit! Für das Leben! Zwangsanstalten das Handwerk legen!", verteilten Flugblätter mit ihren Forderungen und diskutierten mit Passant_innen auf ihrem Demonstrationszug vom AWO Psychiatriezentrum (APZ) über die Innenstadt zum Kaiserdom (Bericht).

Welche Alternativen gibt es?
Arno Deister/Bettina Wilms wollen in ihrem Buch "Regionale Verantwortung übernehmen" (2014, Psychiatrieverlag in Köln, 280 S., 34,95 €) Auswege aus dem ständigen Einsperren aufzeigen. Sie starten dabei aber leider mit einer harten Selbstbeschränkung. Schon im Vorwort steht, dass "der Mensch im Allgemeinen (und natürlich auch der im Gesundheitswesen) geneigt" ist, "primär das zu tun, wofür er Geld bekommt". So richtig der Satz ist, wer beschreibt kein Naturgesetz, sondern einen politischen Zustand der aktuellen Welt. Wenn das Buch eine solche Annahme als Voraussetzung wählt, muss es in einem sehr engen Korridor des Üblichen und Machbaren verbleiben. Ein Ausbruch aus festgefahrenen Denkmustern fällt das schwerer. Dennoch lohnt die Lektüre auch für alle, die aus einer überzeugten Ablehnung der großen Verwahranstalten nach dezentralen Wegen suchen. Sie, und alle anderen ohnehin, können von den praktischen Hinweisen profitieren, wie die finanziellen, formalen und organisatorischen Anforderungen zu meistern sind.

Juni
Neues Strafvollzugsgesetz gemeinsam in mehreren Bundesländern
Bis zur Föderalismusreform im Jahr 2006 gab es ein einheitliches Strafvollzugsgesetz für ganz Deutschland. Seit dieser Reform liegt die Gesetzgebungskompetenz für das Strafvollzugsgesetz bei den Ländern, das heißt die einzelnen Bundesländer können eigene Gesetze für den Knast machen. Bayern, Hamburg, Baden-Württemberg und andere Bundesländer haben diese Möglichkeit schon genutzt. Berlin hat mit anderen kleineren Bundesländern (Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen – Anhalt, Schleswig- Holstein und Thüringen) einen gemeinsamen Gesetzesentwurf für ein Strafvollzugsgesetz erarbeitet. Die geplanten Strafvollzugsgesetze der Länder bringen viele Änderungen mit sich. Unter anderem soll das Recht, 3 Mal im Jahr ein Paket mit Nahrungs- und Genussmitteln zu bekommen, abgeschafft werden. In Kraft treten soll das Gesetz im Juni 2015. Genauere Informationen mit Auszügen aus dem neuen Gesetz finden sich unter de.indymedia.org/node/4528.

Revision gewonnen!!! Stuttgarter Rathausbesetzer_innen setzen sich durch!
Aus einer Pressemitteilung der Angeklagten: Im Prozess vor dem Amtsgericht hatten sie offensiv auf ihr Versammlungsrecht gepocht und die Vertreter_innen der Stadt in langen Zeug_innenbefragungen vernommen. Das Gericht folgte ihren Argumenten nicht und verurteilte alle Angeklagten wegen Besetzung des Rathauses aus Protest gegen Stuttgart21-Bauvorhaben. Doch jetzt haben sie den Spieß umgedreht: Das Verfahren muss wiederholt werden – die Revision des Anwaltes und der zwei Laienverteidiger_innen war erfolgreich. Damit steht wieder alles auf null – und die Angeklagten freuen sich auf die neue Runde vor dem Amtsgericht. "Wir hoffen auf ein neues und diesmal faires Verfahren, bei dem unsere Beweisanträge endlich gewürdigt werden" äußert sich Bernd-Christoph K. zuversichtlich. Katharine E. fügt hinzu: "Eine Menge Fragen blieben nur unzureichend beantwortet. Ich freue mich darauf, endlich die richtigen Zeugen befragen zu können. Z.B. war der Erste Bürgermeister H. Föll den ganzen Abend über als Graue Eminenz im Hintergrund, im Zeugenstand war er aber bisher nicht. Das wird sich jetzt ändern."
Zugute kam den Angeklagten ihre Beharrlichkeit und ihr Mut, den Prozess offensiv zu führen. Erfolg in juristischen Auseinandersetzungen sei eben auch Einstellungssache. "Es scheint doch noch Reste von Rechtsstaatlichkeit in Stuttgart zu geben. Bisher hatten wir eher Stuttgarter Landrecht erlebt" sagt Peter G. "Vielleicht erleben wir die Staatsanwaltschaft ja nun auch endlich als Ermittlungs- anstatt als Verfolgungsbehörde mit Bestrafungsneurose. Und hoffentlich endet damit endlich die Willkür, die politisch Aktiven in dieser Stadt seit Jahren entgegengebracht wird. Jedenfalls hoffen wir, dass dieser Erfolg vor Gericht allen noch immer Aktiven gegen Stuttgart 21 und andere unsinnige Projekte Mut macht, sich weiter, offensiver und kreativer zu wehren." Die ganze Presseinfo steht auf www.parkschuetzer.de//statements/182657.

Prozess wegen Amtsanmaßung: Laienverteidiger darf sich Verteidiger nennen
Für viele aus der Kaste der Robenträger_innen ist es überraschend, andere ärgern sich einfach: Auch einfache Menschen ohne jahrelanges Jurastudium und daraus oft folgende Gläubigkeit an Recht, Wahrheit und die Überlegenheit der Richtenden in Straf- und Polizeisachen können als Verteidiger_innen agieren. In München kam es deshalb zu einer grotesken Prozessserie: Das Legale wurde als Amtsanmaßung gewertet. Angezeigt von der Polizei, angeklagt von der Staatsanwaltschaft, verurteilt in erster Instanz, machte das Berufungsgericht dem Spuk ein Ende. Über den "Freispruch für Laienverteidiger vor dem Landgericht München: Auftritt als Verteidiger auch gegenüber Polizei ist erlaubt" berichteten die Abendzeitung (www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.prozess-zur-amtsanmassung-vor-gericht-freispruch-fuer-laien-verteidiger.49aac919-d95f-4a4a-bd55-a86981eb9377.html) und die Süddeutsche Zeitung am 23.3.2015
(www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/germeringmuenchen-falscher-rechtsanwalt-1.2406707). Witzig: Das Gericht machte selbst den Fehler und verwechselte die Begriffe "Verteidiger" (erlaubt auch für Laien, die vor Gericht verteidigen) und "Anwalt" (geschützte Berufsbezeichnung).

Erneuter Versuch, eine Veröffentlichung aus der Projektwerkstatt verbieten zu lassen
Bücher und Filme aus der Projektwerkstatt nehmen Herrschaftsverhältnisse, gesellschaftliche Verflechtungen zwischen Institutionen und anti-emanzipatorische Positionen auseinander. Die so Kritisierten mögen die Veröffentlichungen nicht. Drei Jahre nach dem bizarren Rechtsstreit um Bücher wie "Monsanto auf Deutsch" versucht der frühere Anti-Atom-Aktivist und heutige Verkünder rechter und verschwörerischer Welttheorien, Holger Strohm, eine kritische Betrachtung seines Filmes "Friedlich in die Katastrophe" verbieten zu lassen. Am 17. September kommt es um 11 Uhr vor dem Landgericht Hamburg deshalb zur Verhandlung. Der Film ist hier zu sehen.

Buchvorstellung
Die Überwacher. Prism. Google. Whistleblower
(2015, le monde diplomatique/taz in Berlin, 112 S., 8,50 €)
Ein großformatiges, im Magazinstil gestaltetes Buch über moderne Überwachungstechniken, die großen Datensammelorganisationen und –konzerne und die kleinen Möglichkeiten, ihnen zu entgehen oder sie sogar auffliegen zu lassen. Der Einstieg erfolgt über umfangreiche Kapitel, in welch gewaltigem Umfang Behörden der USA schnüffeln – die NSA ist in aller Munde. Aber ob dieser Schwerpunkt der Realität entspricht oder EU-Firmen und –Behörden nur besser verheimlichen, was sie tun, oder der verbreitet antiamerikanische Blick europäische Medien gerne über die andere Seite des Atlantiks schreiben lässt, bleibt ein bisschen unklar. Für ein in Europa geschriebenes Buch wäre mehr vom Blick auf das Geschehen hier wünschenswert gewesen. Dennoch bietet auch die jetzt vorhandene Sammlung viel Information und Aufklärung, auch über die Wirkungsweisen und Reichweiten der Überwachung.

Mai: Schwerpunkt "Revisionsrecht"
Revision heißt die Überprüfung eines Urteils auf Rechtsfehler. Es "kann nicht auf neue Tatsachen, sondern nur auf einen Rechtsfehler des angefochtenen Urteils, also auf Verletzung formellen Rechts oder materiellen Rechts gestützt werden. Die Revisionsinstanz ist daher keine Tatsacheninstanz. Anders als bei einer Berufung werden daher grundsätzlich keine Beweise erhoben. Eine Beweiserhebung ist jedoch über den Revisionsgegenstand oder von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens unter zu prüfenden Verfahrensvoraussetzungen zulässig. Bleibt die Revision gegen ein Urteil erfolglos, so wird das angefochtene Urteil mit der Entscheidung des Revisionsgerichts rechtskräftig. Hat eine Revision zumindest teilweise Erfolg, so trifft das Revisionsgericht grundsätzlich keine eigene Entscheidung, sondern hebt das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zur neuen Entscheidung an die Instanz zurück, die das angefochtene Urteil gesprochen hat. Es muss dann vor dem Ausgangsgericht neu verhandelt werden, wobei andere Richter die neue Entscheidung zu treffen haben." (Zitat aus Wikipedia).
Praktisch spielen Revisionen bei strafrechtlichen Auseinandersetzungen nur selten eine Rolle. Die meisten Verfahren enden nach der ersten Instanz, spätestens nach dem zweiten Durchgang (sogenannte Berufung)– entweder wird eingestellt oder freigesprochen, meist aber geben die Angeklagten auf: Ihr Geld reicht nicht für die erheblichen Kosten der Revision oder es fehlt die Kraft, nach oft mehreren Jahren Gerichtskrampf noch einen draufzusetzen.

Politische Bedeutung von Revisionen
Revisionsverfahren zu gewinnen, hat aber besondere Bedeutung, weil es auf Urteile der darunterliegenden Ebenen durchschlägt – auch für die Zukunft. Denn die Urteile von Oberlandes- oder noch höheren Gerichten gelten als Vorgaben für Amts- und Landgerichte. Mit ihnen kann argumentiert werden, um eigene Rechte und Handlungsmöglichkeiten in Prozessen einzufordern. Ein brillantes Beispiel war das Revisionsverfahren gegen die Verurteilungen von drei Genfeldbefreier_innen (Aktion in Gatersleben 2008). Hier ordnete das OLG an, dass Verflechtungen und Abhängigkeiten von Genehmigungsbehörden untersucht werden müssen, wenn die Angeklagten deren Versagen als Rechtfertigungsgrund benennen. Dieses Urteil kann nun in Strafprozessen mit politischen Hintergrund vorgetragen werden. Wie brisant es ist, zeigte sich, dass das Landgericht Magdeburg die angeordnete Wiederholung ausfallen ließ und das Verfahren auf Staatskosten einstellte.

Lösungsmöglichkeiten
Trotz der politischen Bedeutung sind Revisionen selten. Dabei gibt es einige Möglichkeiten, die fraglos bestehenden hohen Hürden zu überwinden.
  • Kooperation mit Anwält_innen: Die Vorschrift, dass Angeklagte oder ihre Unterstützer_innen nicht selbst Revisionsbegründungen einreichen dürfen, führt in der Regel zur Notwendigkeit, dass Anwält_innen spätestens hier eingeschaltet werden müssen. Revisionen sind aufwändig und bedürfen besonderer Form, so dass ihr korrektes Erstellen nicht leicht fällt. Selbst Anwält_innen scheitern immer wieder. Dennoch ist es möglich, sie so zu unterstützen, dass es zukünftig leichter fällt, Revisionen zu erarbeiten und zu gewinnen. Dazu gehört vor allem die vorbereitende Tätigkeit im zur Revision führenden Prozess. Werden hier Rechtsfehler des Gerichts provoziert, dann ordentlich protokolliert und formal bereits im Prozess angegangen (Rüge, Beschwerde, Gerichtsbeschluss usw.), so lassen sich später daraus einfacher Revisionen formulieren. Entsprechende Schulungen und Ratgeber sind notwendig.
  • Laienverteidigung: Der Anwaltszwang ist nicht absolut, auch wenn das Anwält_innen und Rechtsberatungsgruppen oft behaupten. Berechtigt, eine Revisionsbegründung abzugeben, sind nämlich alle Personen, die als Verteidiger_innen in den Vorinstanzen zugelassen wurden. Das können aber vor Amts- und Landgericht auch Laien sein (www.laienverteidigung.siehe.website). Eine solche zu beantragen, ist folglich nicht nur sinnvoll, um eine politische Prozessführung und Hilfe auf Gegenseitigkeit zu realisieren, sondern auch nötig, um sich eine zusätzliche Option zu eröffnen, die Revisionsinstanz anrufen zu können.
  • In der Regel läuft die Revision im rein schriftlichen Verfahren. Das bedeutet, dass die Erstellung der schriftlichen Revisionsbegründung die wichtigste, in der Regel einzige richtige "Arbeit" ist. Aber die hat es in sich, weil die Formvorschriften an Revisionen sehr hoch sind. Zudem bleibt nach Zustellung des Urteils nur einen Monat Zeit – und das Protokoll, welches wesentlich ist für das präzise Belegen von Rechtsfehlern, ist oft ab dann erst mühselig zu organisieren. Andererseits: Die Textbausteine für die einzelnen, nachzuweisenden Rechtsfehler lassen sich schon während des Gerichtsverfahrens, auf das sich die Revision bezieht, sammeln.
  • Sprungrevision: Der für Politaktivist_innen übliche Ablauf eines Strafverfahrens ist erste Instanz, Berufung und dann Revision – jedenfalls wenn das Verfahren voll ausgeschöpft wird. Eventuell ist danach noch eine Verfassungsklage möglich, wenn Grundrechte betroffen sind. An einer Stelle kann abgekürzt werden: Wenn schon in der ersten Instanz deutliche Rechtsfehler vorlagen, kann die zweite ausgelassen und sofort die Rechtsfehlerüberprüfung eingeleitet werden. Das nennt sich Sprungrevision. Wird die gewonnen, muss die erste Instanz nach den Vorgaben der Revisionsentscheidung wiederholt werden.

Aktuelle Beispiele: Zweimal Sprungrevision gewonnen!
In zwei Verfahren wagten die Beteiligten die Revision schon nach der ersten Instanz. Das ist ein riskantes, aber auch sehr offensives Verfahren. Einerseits besteht die Gefahr, hier schon endgültig zu verlieren, denn dann ist das Urteil rechtskräftig. Die Berufung ist einfach ausgefallen. Andererseits ist die Sprungrevision die entschlossenere Variante, um Amtsrichter_innen aufzuzeigen, dass deren typische Rechtswillkür nicht akzeptiert wird. Sowohl im Prozess um die Stuttgarter Rathausbesetzung wie auch um einen Workshop in einem besetzen Haus an den Kohleabbaugruben nahe dem Hambacherforst westlich von Köln gab es jetzt Erfolge: Beide Prozesse müssen wiederholt werden – von Anfang an. Spannend waren beide Fälle vor allem deshalb, weil es mehrere Angeklagte gab und nicht alle den gleichen, offensiven Weg wählten. Die, die offensiver vorgingen und dann die Sprungrevision wagten, waren deutlich erfolgreicher. Das kann ein Signal an die bisher üblichen Repressionsschutzpraxen in politischen Zusammenhängen sein. Es geht mehr, es geht offensiver, schlicht: politischer!
Infoseite zu kreativer Gerichtsprozessführung: www.prozesstipps.siehe.website.

Passend dazu ein aktuelles Buch von Volker Stein: "Versammlungsrecht"
Ein wichtiges und nützliches Buch aus dem Verlag für Polizeiwissenschaft in Wiesbaden, verfasst von einem Richter, der mit Polizeirecht ständig auf Tuchfühlung ist. Die Texte lassen sich daher nicht nur als Informationsquelle nutzen, um Demonstrationen rechtmäßig durchzuführen, die Grenzen abschätzen zu können und um das Handeln der Polizei zu bewerten, sondern es ist auch hilfreich, wenn es zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommt. Das Buch ist dabei in zwei Teile geteilt. Zu Beginn werden konkrete Fragestellungen erörtert, danach die einzelnen Paragraphen des Versammlungsgesetzes wie in einem Rechtskommentar erörtert. (2014, 274 S., 19,80 €)

April: Schwerpunkt "Psychiatrie"
Psychiatriekritische Demonstration: Kritik an Gesetz zum Maßregelvollzug
"Das war noch schlimmer, als ich erwartet hatte", zog eine Demonstrantin ein Fazit, nachdem nur die Landtagsfraktion der Linken einer Einladung gefolgt war, sich vor der gestrigen Anhörung zum neuen Maßregelvollzugsgesetz mit Betroffenen zu treffen, deren Forderungen anzuhören und diese dann mit in den Landtag zu nehmen. "Wenn von fünf Parteien nur eine zu uns kommt – und gleichzeitig die aktuell Betroffenen nicht in den Landtag gelassen werden, dann ist das ganze System faul." Tatsächlich war es schon vor der Anhörung am 12.3.2015 zur Ausladung einer Person aus der forensischen Psychiatrie in Riedstadt gekommen. Gestern nun warteten Betroffene und Unterstützer_innen in Sichtweite zum Ort der Anhörung darauf, Kontakt zu den Entscheider_innen hessische Politik aufnehmen zu können. Umfangreiche Polizeieinheiten sicherten die Bannmeile ab, damit zwischen Politik und Betroffenen kein Kontakt zustande kam. Nur die linke Landtagsabgeordnete Marjana Schott und MitarbeiterInnen ihrer Fraktion suchten das Gespräch. Abgeschottet von Betroffenen prägten im Landtag die Nutznießer_innen die Debatte. Star-Psychiater Nedopil forderte eine schnelle Umsetzung, während die hessischen Vertreter_innen der Kliniken die Wiedereinführung brutaler Zwangsbehandlungsmethoden lobten. "Hier macht die Regierung Politik für Konzerne und Kliniken – also für die, die durch den Maßregelvollzug reich werden", kritisierte der Anmelder der Demonstration die Ziele des neuen Gesetzes. Gemeinsam mit den anderen Anwesenden forderte er die Abschaffung von Zwang und Einsperren psychiatrischer Patient_innen. Bericht auf mit weiteren Informationen auf de.indymedia.org/node/3854.

Forderungen zum Maßregelvollzug (so den hessischen Landtagsfraktionen überreicht)
Das Maß ist voll! Unter Aufrechterhaltung unserer grundlegenden Forderung nach Abschaffung aller psychiatrischen Zwangsstrukturen und damit einem Ende allen Maßregelns sowie unserer Ablehnung der Verfügung von Menschen über Menschen, der zwangsweisen Verabreichung verhaltenssteuernder Stoffe von Menschen durch Menschen und der Erniedrigung oder formalen Begutachtung von Menschen durch Menschen fordern wir zur sofortigen Umsetzung im neuen Maßregelvollzugsrecht und in allen Psychiatrien Hessens:

  1. Volle Anerkennung der Patient_innenverfügungen und Vorsorgevollmachten ohne Wenn und Aber in Kliniken, vor Gutachter_innen und vor Gericht.
  2. Internetzugang, Wahrung des Postgeheimnisses, uneingeschränktes Telefon- und Besuchsrecht in allen freien Phasen des Tages (mindestens zwei Stunden pro Tag).
  3. Vorführung vor Richter_innen oder Gutachter_innen nur ohne vorherige, erzwungene Einnahme oder Zuführung von Psychopharmaka sowie Dokumentation (auch bei gewünschter Einnahme), welche Psychopharmaka in den sechs Monaten davor eingeflößt oder abgesetzt wurden.
  4. Keine Sanktionierung für kritische, auch polemische mündliche oder schriftliche Äußerungen. Keine Einschränkung oder Repression für Pressekontakte oder Teilnahme an Protestaktionen.
  5. Keine Fixierungen, Zwangsmedikamentierungen und Isolierungen in oder durch die psychiatrischen Anstalten!
  6. Uneingeschränktes und jederzeitiges Einsichtsrecht in die Patient_innenakten und Einhaltung der Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes.
  7. Besuchskommissionen mit vollen Rechten und unter Beteiligung von Angehörigenvertreter_innen, Betroffenen und zivilgesellschaftlichen, u.a. psychiatriekritischen Vertreter_innen aus dem In- und Ausland.
  8. Ständige, mindestens einmal jährlich öffentlich zu machende Dokumentation aller Grundrechtseinschränkungen (Freiheitsberaubungen, Verschärfung der Freiheitsbeschränkungen, körperliche Unversehrtheit, Wahrung des Post- und Telefongeheimnisses), von Todesfällen und schweren Gesundheitsschäden durch die Behandlung.
  9. Standardisierung der Rechtsbelehrungen für Betroffene und Überreichung einer standardisierten Rechtshilfe mit Benennung aller Rechte und Pflichten der Inhaftierten.
  10. Schriftliche Dokumentation und Begründung aller sogenannten "Besonderen Sicherungsmaßnahmen" einschließlich der vollen Akteneinsichtsmöglichkeiten und sofortiger Beschwerdemöglichkeiten für die Betroffenen.
  11. Ausgang jeden Tag und mögliche frühzeitige Integration in Maßnahmen außerhalb geschlossener Einrichtungen, d.h. psychiatrischer Vollzug in Anlehnung an den offenen Strafvollzug als Standard des Maßregelvollzugs. Dokumentation und besonderer richterlicher Beschluss bei Einschränkungen.

Der Mensch ist das Maß der Dinge!

Gesucht: Originalakten, Beipackzettel usw. für geplante Psychiatriedokumentation
Die Idee besteht weiter, die Dokumentensammlungen füllen sich aber nur langsam: In Buchform, im Internet und als Dokumentarfilm sollen besondere Skandale und der Schrecken des Alltags hinter Mauern und Stacheldraht der Zwangspsychiatrien nachgezeichnet werden. Die Besonderheit: Alles soll an Unterlagen der "anderen Seite" belegt werden – also keine Erlebnisberichte der Betroffenen oder ihres Umfeldes, sondern Schriften der Kliniken, Gutachter_innen, Pharmafirmen usw. Wer konkrete Skandale mit Auszügen aus Patient_innenakten, Dokumenten über Filz und Seilschaften in und hinter den Kliniken, Gutachter_innen usw., Infos zu Schäden und Fehleinsatz von Medikamenten oder enthüllende Abhandlungen aus den Psychiater_innenkreisen beisteuern kann, sollte diese schicken oder sich melden bei der Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen-Saasen, 06401-903283, kobra@projektwerkstatt.de.

Oberflächliche Einblicke
Dokumentationen aus dem Inneren der Psychiatrien gibt es nicht viele, aber einige schon. Die sind mitunter aber eher niveaulos. Ein Beispiel: Detlef Vetten beschreibt in "50 Tage lebenslänglich" (2011, 254 S., 17,99 €) seine Phase in der Psychiatrie. Schon der Titel ist anmaßend, denn der Autor ist wegen Drogenproblemen zwar hinter Mauern und Stacheldraht verbracht worden, die Härten des dortigen Alltags hat er aber offensichtlich genauso wenig erlebt wie ein "Lebenslänglich"-Gefühl nahelag. Im Gegenteil: Über die Psychiatrie erfahren Leser_innen des Buches eher gar nichts. Die wenigen Sätze, die sich mit dem Verhalten von Pfleger_innen beschäftigen, sind wohlwollend bis zustimmend. Umso intensiver walzt Autor, immerhin ein bekannter Journalist und Moderator, die Vorgeschichten seiner Mitpatient_innen aus – bevorzugt deren Sexualleben und Beziehungsstories. Offenbar empfand er die Psychiatrie eine Zumutung, weil er sich für etwas Besseres hielt und ungerecht mit Verrückten zusammengesperrt. Fazit: Schlecht geschrieben, Thema verfehlt – sechs, setzen!

März: Schwerpunkt "Einblicke in den Polizeialltag"
Inside – Berichte aus den Zwangsstrukturen
Einblicke in den Alltag von Polizei und Justiz, von Gefängnissen und Zwangspsychiatrien, Heimen und Jobcentern gibt es etliche. Die einen führen akribische Sammlungen von Belegen, andere tragen als Whistleblower ihr Wissen nach draußen, wieder andere enthüllen per Undercover-Recherche das Grauen gewaltförmig-hierarchischer Systeme. Ein bei riva (Münchner Verlagsgruppe) erschienenes Buch zeigt den Polizeialltag aus der Perspektive derer, die ihn ausführen. Stefan Schubert lässt als Autor von "Inside Polizei" (2012, 234 S., 9,99 €) etliche Polizeibeamt_innen zu Wort kommen, deren genaue Identität allerdings ebenso wenig offenbar wird wie Belege und Quellen für die Schilderungen benannt werden. Dennoch sind die Geschichten nicht nur packend geschrieben, sondern tatsächlich ein intensiver Einblick in Polizeiabläufe. Dabei finden sich zwar die üblichen Stereotypen über die Zielpersonen uniformierter Zugriffe, aber auch das Verhalten der Beamt_innen und vor allem der Polizeiführungen wird schonungslos dargestellt. So entsteht ein lesenswerter, kritischer Blick in die Welten, die entstehen, wenn Menschen Macht über andere ausüben, aber dabei nur als Rädchen für die Interessen anderer funktionieren. Die folgenden Einblicke sind Originalzitate aus dem Buch, also von Uniformierten selbst.

Vertuschen, solange es geht! (auf S. 6)
Polizeiführer und Behördenleitungen verheimlichen Vorgänge und leiten, seitdem sie bestehen, Medien und die Öffentlichkeit bewusst in die Irre, Geschehnisse und Tatsachen, die nach Meinung der Verantwortlichen in den Führungsetagen dem Image der Behörde schaden, politisch nicht opportun sind oder die bestmögliche Selbstdarstellung gefährden, werden als "ver traulich", "geheim" oder unmissverständlich als "nicht pressefrei" dekla riert. Diese Akten und Berichte verschwinden dann in den endlosen Archi ven der Ämter. Sollten diese selbst errichteten Bollwerke in den Maschinerien von Behörden und Ministerien aber nicht ausreichen, um unangenehme Wahrheiten zu verschleiern, findet häufig die über Jahrzehnte bewährte Salamitaktik Anwendung: nur zugeben, was nicht länger zu leugnen ist. Die Nahkampfausbilder frischten alte Kenntnisse auf und vermittelten neue gezielte Kniffe, falls ein Blockierer nicht so funktionieren wollte, wie die Poli zisten es wollten. Die Mittel und Wege, dieses "Funktionieren" zu erreichen, waren einfach, aber sehr effektiv. Speziell anzuwenden bei extrem klam mernden Blockierern, die partout nicht ihren Nebenmann oder das Gleis los lassen wollten.

Vertuschen von Selbstmorden unter Polizeibeamt_innen (auf S. 142 und 145)
Aussagen von der Polizei selbst, in: Stefan Schubert (2012), "Inside Polizei", riva in München
Da war es wieder, ein Thema, mit dem man sich nicht beschäftigen wollte, das man vermied, wenn es nur irgendwie ging. Die hohe Selbstmordrate von Polizeibeamten. Offiziell werden Selbsttötungen nicht nach Berufen erfasst, statistisch dokumentiert und ausgewertet. Es sind darüber keine Daten zu erfahren, weder bei Polizeibehörden direkt noch bei Gewerkschaftsvertre tern. Und dies im Statistikland Deutschland!? Wahrheit oder eine gewollte Vertuschung? …
Die schmutzige Wäsche und die unangenehmen Geschichten im Innersten der Polizeiwelt behandelten die Führungsbeamten einzig und allein nach ihrem Gusto. Nichts, aber wirklich auch nichts sollte den Ruf der Polizeibehörde in der Öffentlichkeit beflecken und einen Makel auf den Staatsdienst werfen.

Schmerzgriffe und versteckte Körperverletzungen (auf S. 131f)
Oft und leicht anzuwenden ist das schmerzhafte Hochreißen der Nase. Mit einer Hand drückt der Beamte die empfindliche Nasenspitze des Betroffenen gegen seinen Schädelknochen nach oben - der Nasenhebel. Der entstehende starke und sehr unangenehme Schmerz lässt den Demonstranten sogleich die Anordnungen des Polizisten befolgen. Der Beamte sollte allerdings dar auf achten, die unteren Finger seiner Hand für diesen Griff zu benutzen, um es dem Störer nicht zu ermöglichen, kraftvoll in die Finger über seinem Mund zu beißen.
Nummer zwei der effektivsten Griffe nutzt die Nervenstränge, die im Schä delknochen hinter den Ohren verlaufen. In diese Nervenbahnen bohrt der einschreitende Polizist seine beiden Zeigefinger so lange, bis seine Anwei sungen befolgt werden. Die Nervendrucktechnik.
Abseits von Fernsehkameras und Pressefotografen können der Schmerz und die Wirksamkeit beider Griffe mithilfe eines Kugelschreibers, anstatt der Fin ger der Polizisten, um ein Vielfaches erhöht werden. Offiziell ist dies natür lich nicht erlaubt.
Durch den neuen, extrem harten Einsatz/Mehrzweckstock, den Tonfa, wurde eine Vielzahl von neuen Hebel- und Grifftechniken möglich. Zum Beispiel wenn der Polizist den Tonfa im Kreuzgriff führt und damit den hockenden Blockierer umklammert. Durch das Heranziehen des Tonfa mit Muskelkraft entsteht Druck auf den Knochen des polizeilichen Gegenübers, der Knochen und die darüber befindlichen Nerven werden damit zu einem schmerzhaf ten Hebel umfunktioniert.
Für diese Art des Einschreitens eignet sich so ziemlich jeder Knochen eines Störers. Arm-, Handgelenk-, Schienbein- oder Oberschenkelknochen erlau ben eine Vielzahl von Varianten, je nachdem, welche Extremitäten gerade am besten zu greifen sind. Dieses Vorgehen führt zu enormen Schmerzen, die jeglichen Widerstandswillen sofort brechen. Diese Eingriffstechnik ver fügt über eine Menge von Vorteilen: Außenstehende nehmen diesen Griff und seine Auswirkungen kaum wahr, selbst vor einer kritischen Fernsehka mera sieht dieses Vorgehen unspektakulär und angemessen aus, nichtsdes totrotz fügen diese Griffe große Schmerzen zu, jedoch ohne grobe sichtbare Verletzungen zu hinterlassen.

Rassistische Polizeipraxis
Dass Uniformierte besonders oft und besonders intensiv Menschen kontrollieren und behandeln, die nicht "deutsch" aussehen, ist nicht neu und durch zahlreiche Studien belegt. Ein Erfahrungsbericht eines Flüchtlings mit einer offenbar rein als Schikane durchgeführten Polizeikontrolle in der Dortmunder Nordstadt einschließlich Bedrohung, Gewaltanwendung und Gewahrsamnahme ist auf de.indymedia.org/node/3662 veröffentlicht worden.

Februar
Selbst(mit)verschuldetes Elend
Im Juli 2014 demonstrierten Polizist_innen demonstrierten gegen ihren eigenen Arbeitsgeber, die Regierung, und forderten bessere Arbeitsbedingungen. Solche Demonstrationen zeigen deutlich, welche Verhältnisse staatliche Herrschaft sichern. Mensch steht in Bettel-Abhängigkeit von der institutionalisierten Macht, darf nur die von denen genehmigten Protestkanäle nutzen und muss unter miesen Arbeitsbedingungen gegen diejenigen den Knüppel schwingen, die für die eigenen Interessen kämpfe. Wes' Brot ich ess, ... Bericht:
krisenfrei.wordpress.com/2014/07/27/3-000-polizisten-demonstrierten-in-potsdam.

Überwachung von Tierrechtler_innen
Über den Jahreswechsel 2013/2014 hörte das Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen drei Monate lang die Handys von drei Personen ab, die in der Kampagne gegen Tierfabriken aktiv sind. Die Kampagne richtet sich seit 2010 gegen Schlachthofbauten und -erweiterungen in Niedersachsen und wurde bereits wiederholt mit Verfahren, Prozessen und Überwachung konfrontiert. Die dann mit der Telefonüberwachung erfolgte Eskalation staatlichen Schnüffelns in den Privatsphären von Menschen endete am 9. Februar 2014, zwei Wochen nach der Enttarnung eines Spitzel. Zirka drei Monate später lieferte der Kriminalbeamte Spittler seinen dritten und finalen Ermittlungsbericht, in welchem er die Telekommunikationsüberwachung ziemlich knapp auswertete und zu dem Schluss kam, "dass sich durch die Überwachungsmaßnahmen keinerlei neue Ermittlungsansätze hinsichtlich einer Aufklärung der oben angegebenen Brandanschläge gegeben haben." Kurz danach folgte die Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft mit postalischer Benachrichtigung der Betroffenen im Spätsommer 2014. Sowohl die Betroffenen als auch einer von zwei Journalist_innen und eine Rechtsanwältin, deren Telefonate mitabgehört wurden, beantragten die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Abhörungen, deren Ergebnis noch aussteht (Quelle und mehr Informationen: linksunten.archive.indymedia.org/de/node/128275).

Zweierlei Maß in Stuttgart
Wenn Polizeibeamt_innen rechtswidrig handeln und dabei Schwerverletzte entstehen, gibt es (falls überhaupt ein Verfahren in Gang kommt) oft Einstellungen wegen "Geringfügigkeit". Das gilt selbst dann, wenn die Strafvorwürfe so stark sind, dass schon der erste Rechtszug vor dem Landgericht stattfindet. Das passiert nur bei heftigen Straftaten - Einstellungen kommen folglich selten vor, erst recht wegen "Geringfügigkeit". In Stuttgart war das nun der Fall, als es im den Wasserwerfereinsatz am "Schwarzen Donnerstag" ging, bei dem Menschen durch den Einsatz zu Schaden gekommen sind. Ein Mensch verlor sogar das Augenlicht. Verurteilt wurde niemand. Wenn jedoch Menschen für einige Stunden aus Protest einen Raum des sogenannten "offenen Rathauses" besetzen, um von dort auf den Vorplatz und ins Internet Kritiken an der Stadtzerstörungspolitik zu richten, scheut die Justiz keine Mühen und Kosten, um in mehreren Verfahren Bestrafungen auszusprechen. So zeigen sie, dass die Justiz eine Sache der herrschenden Klasse ist.
Kommentar der Kletteraktivistin "Eichhörnchen", die in einem Prozess als Verteidigerin agierte, ist auf blog.eichhoernchen.fr/post/S21-Wasserwerferprozess-der-Schmale-Grat-zwischen-Rechtsstaat-und-Willkur zu finden.

Dreierlei Maß: Proteste gegen Islamisierung, Repression gegen Karikaturist_innen, Kumpanei mit Terrorregimen
Aus emanzipatorischer und aus menschenrechtlicher Sicht ist an einem Mordanschlag auf eine Satirezeitung kein Fünkchen Legitimation zu finden. Schnell aber zeigt sich, dass es rundherum nicht Gut und Böse gibt, sondern den Kampf zwischen Apparaten und Strömungen, die um Hegemonie ringen. Erste Seite der Medaille: Über die populistischen Kritiker_innen des Islam namens Pe-/Legida & Co. wurde tausendfach geschrieben. Ihnen geht es weder um Analyse des autoritären Charakters von Religionen noch um emanzipatorische Politik, sondern um die Abwehr einer autoritären Kultur zugunsten ihrer eigenen, ebenfalls herrschaftsförmigen. Die Gewerkschaft der Polizei forderte Akzeptanz für solche Kundgebungen (Bericht: de.indymedia.org/node/3390). Mit Aufrufen zu Gegendemonstrationen werde der "systemstabilisierende Zugehörigkeitsgedanke der Organisation Polizei als Teil der Gesellschaft wird angegriffen".
Weitgehend verschwiegen wurden etliche Festnahmen wegen Karikaturen oder Bemerkungen zum Pariser Attentat vor allem in Frankreich – die zweite Seite der Medaille. Einige hatten den Betroffenheitskult all derer kritisiert, die ansonsten kaltblütig den Tod von weit mehr Menschen in Kauf nehmen und bewirken, andere einfach blöde Bemerkungen rausgehauen (www.heise.de/tp/artikel/43/43943/1.html). Den Verfolgungsrausch legitimiert beides nicht, sondern der Staat zeigt, dass er im Zweifel den Knüppel zieht.
Wie heuchlerisch alles ist, zeigt sich als dritte Seite an der Bevorzugung eines der autokratischsten und islamistischen Regimes dieser Welt, nämlich Saudi-Arabien. Wer dem westlichen Kapitalismus nützt, ist immer willkommen – egal wie die politischen Verhältnisse tatsächlich sind. Eine Kostprobe von Indymedia (de.indymedia.org/node/3279): "Für Amnesty International ist er ein politischer Gefangener, aus Sicht des Regimes in Saudi Arabien hat er den Islam beleidigt. Nun wurde Raif Badawi öffentlich ausgepeitscht - es ist nur der erste Teil der Strafe. Noch am Donnerstag hatte Saudi-Arabien das Attentat in Paris "als feigen Terrorakt, der gegen den wahren Islam verstößt", verurteilt. 24 Stunden später statuierte das ultrakonservative Königreich seine Version des wahren Islam und ließ den Blogger Raif Badawi vor der Al-Jafali-Moschee in Jeddah öffentlich auspeitschen. 50 Hiebe erhielt der 30-Jährige nach dem Freitagsgebet, wie Augenzeugen bestätigten. Der Geschlagene habe mit dem Rücken zu den Zuschauern gestanden und keinen Schmerzensschrei von sich gegeben. Insgesamt ist Badawi zu 1000 Peitschenschlägen verurteilt, die in den nächsten 20 Wochen alle acht Tage vollzogen werden sollen …"

Prozesse wegen Schwarzfahren mit Hinweisschild
Mehrfach wurde an dieser Stelle schon über die Bestrafung fahrscheinloser Nutzung von Verkehrsmitteln berichtet. Mehrere Aktivist_innen nutzen eine Lücke im Gesetz aus. Denn laut 265a StGB, den Kommentaren und Urteilen dazu ist ein gekennzeichnetes "Schwarzfahren" straffrei. Viele provinzielle Richter_innen sehen das nicht ein und bestrafen trotzdem. Daraus entsteht gerade eine Kampagne mit dem Ziel, erst den §265a und dann die Fahrkarten überhaupt abzuschaffen. Mehr steht auf www.schwarzstrafen.siehe.website, auch über bevorstehende Gerichtstermine. Anfang März kommt es in Gießen innerhalb von zwei Tagen gleich zu zwei Prozessen, bei denen um die Sache gerungen wird – mit einem offensiven Angeklagten: Di, 3.3., ab 9.30 Uhr im Amtsgericht Gießen (Gutfleischstr. 1, 35390 Gießen, Saal 204 im Gebäude A) und Do, 5.3. ab 8.30 Uhr im Landgericht Gießen (Ostanlage/Ecke Gutfleischstraße, Raum 015). Weitere Verfahren laufen in Bonn, Dresden und München.

Januar: Schwerpunkt "Psychiatrie"
Bündnis gegen Folter in der Psychiatrie
Unter www.folter-abschaffen.de gibt es eine Erklärung zur Zwangspsychiatrie, die gut verwendbar ist für die öffentliche Auseinandersetzung. Ein Auszug: "Die unterzeichnenden Organisationen
  • haben zur Kenntnis genommen, dass der Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E. Méndez, in der 22. Sitzung des "Human Rights Council" am 4. März 2013 Zwangsbehandlung in der Psychiatrie zu Folter, bzw. grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erklärt hat.
  • unterstützen die Forderung des Sonderberichterstatters, dass "alle Staaten ein absolutes Verbot aller medizinischen nicht einvernehmlichen bzw. Zwangsbehandlungen von Personen mit Behinderungen verhängen sollten, einschließlich nicht-einvernehmlicher Psychochirurgie, Elektroschocks und Verabreichung bewusstseinsverändernder Drogen, sowohl in lang- wie kurzfristiger Anwendung. Die Verpflichtung, erzwungene psychiatrische Behandlung wegen einer Behinderung zu beenden, ist sofort zu verwirklichen und auch knappe finanzielle Ressourcen können keinen Aufschub der Umsetzung rechtfertigen."

Deshalb fordern wir alle Landes- und den Bundesgesetzgeber auf, alle Sondergesetze, die psychiatrische Zwangsbehandlung legalisieren, sofort für ungültig zu erklären. Nur so kann kurzfristig die Forderung nach einem absoluten Folterverbot in Deutschland verwirklicht werden. Das Verbot der Folter ist eines der wenigen absoluten und unveräußerlichen Menschenrechte, ein ius cogens, also eine zwingende Norm des internationalen Rechts."

Was "psychisch krank" ist, verändert sich je nach Interessenlage
Zur nachträglichen Gesunderklärung hessischer Finanzbeamter erreichte uns eine Erklärung aus dem Werner-Fuß-Zentrum (Berlin): "Obwohl es diese angebliche "psychische Krankheit" gar nicht gibt, haben Psychiater jetzt bei 3 hessischen Steuerfahndern gemerkt, dass sich die Stimmung der herrschenden Landesregierung gedreht hat und entsprechend haben sie opportunistisch nun die 3 davon frei gesprochen, damals vor Jahren ‚psychisch krank' gewesen zu sein. Geht doch - selbst so eine Rückwärtsbegutachtung :-) Denn wenn man willkürlich ‚psychisch krank' schreiben kann, kann man genauso willkürlich so eine Diagnose auch widerrufen - nur, wenn man das vor großem Publikum tut, merken alle, was für eine Betrugs- und Lügen-Schein'wissenschaft' die Psychiatrie ist." Berichte über den Fall gab es bei Spiegel Online und in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, siehe
www.faz.net/aktuell/rhein-main/schadenersatz-fuer-steuerfahnder-spd-fuer-reha-13182806.html und
www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/psychiater-muss-steuerfahndern-in-hessen-schadensersatz-zahlen-a-994523.html. Es sollte in Erinnerung bleiben, dass die größten spontanen Heilungserfolge in der Geschichte der Menschheit eintraten, wenn eine vorher als Krankheit definierte Neigung oder Macke als nicht mehr krank angesehen wurde. Wie vor einigen Jahrzehnten die Homosexualität. Ganz ohne Chemie und Zwang wurden Hunderttausende Menschen plötzlich "gesund". Nötig war aber öffentlicher Protest. Das gilt auch in Zukunft, um dem Krankerklären unerwünschter oder außer-gewöhnlicher Verhaltensweisen entgegenzuwirken.

Schwerpunktausgabe zu Zwangspsychiatrie von "grünes blatt" erschienen
Das "grüne blatt" ist eine Vierteljahreszeitschrift für emanzipatorischen Umweltschutz, Herrschaftskritik und direkte Aktion. Die aktuelle Ausgabe enthält als Schwerpunkt "Zwangspsychiatrie" und kann über www.aktionsversand.siehe.website bezogen werden. Alle Texte finden sich auch auf der Internetseite www.gruenes-blatt.de.

Lust auf Aktionen? Mehrere Trainings in den nächsten Wochen geplant
Bisher prägen nur wenige öffentliche Aktionen den Protest gegen die Zwangspsychiatrie bzw. ihre Methoden. Viele Menschen treffen sich in Selbsthilfegruppen oder deren Landes- und Bundesverbänden, kommen aber auch dort nur selten zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Frühjahr und Sommer 2015 sollen bunter und widerständiger werden. Dazu sind Trainings geplant, in denen z.B. Straßentheater, kreatives Demonstrieren oder Kommunikationsguerilla geübt wird. Wer Interesse hat, kann sich bei saasen@projektwerkstatt.de melden und wird über die Termine informiert.
Demonstrationen gegen Zwangspsychiatrie gab es bis in den Herbst hinein, so am 23. August in Limburg und Hadamar (Bericht auf www.fnp.de/lokales/limburg_und_umgebung/Protest-gegen-Zwangspsychiatrie;art680,1001812, Fotos auf behoerdenstressnews.blogspot.de/2014/08/heute-23082014-demo-in-limburg.html), ebenso in Berlin, danach noch zweimal im September und Oktober in Gießen sowie in einigen anderen Städten. Berichte sind auf www.anti-zwangspsychiatrie.siehe.website verlinkt.

Recherche hinter den Kulissen
Bitte sammelt Unterlagen, die all das belegen, was hinter den Mauern und Zäunen an schlimmen Sachen abgeht – und zwar mit Akten der anderen Seite (also Beschlüsse von Gerichten, Protokolle oder Schriftliches der Kliniken und Gutachter_innen, Briefe von dort usw.). Das ist wichtig, weil den Insassen selbst kaum jemand glaubt. Ihre Bericht werden regelmäßig mit Sätzen wie "die sind ja auch verrückt" oder, gediegener, "das gehört zu ihrem Krankheitsbild" vom Tisch gefegt. Wer die eigenen Patient_innenakten nicht erhält oder sonst Hilfe braucht, um an die Unterlagen zu kommen, kann sich ebenfalls unter saasen@projektwerkstatt.de melden.

Anti-Psychiatrie-Archiv
Die Antipsychiatrie-Ecke im kabrack!archiv der Projektwerkstatt in Saasen wächst allmählich. Hier soll auch die Sammlung der Unterlagen aus Kliniken und Gerichten untergebracht werden. Noch gibt es keine Person(en), die diese Ecke fest betreut (also immer mal wieder sortiert, neue Unterlagen einheftet usw.). Hat dazu jemand Lust? Außerdem darf das vorhandene Material natürlich genutzt (gelesen, zitiert …) werden. Infos über alle Themenbereiche auf der Infoseite zum Archiv. Im Haus gibt es auch genügend Arbeitstische und Übernachtungsmöglichkeiten, falls jemand mal länger darin stöbern oder an den Archiven mitwirken will.

Ganz neu: Rolf Marschners Buch "Psychisch kranke Menschen im Recht"
"Ein Ratgeber für Betroffene, Angehörige und Mitarbeiter in psychiatrischen Einrichtungen", steht im Untertitel. Das Autor führt durch alle wichtigen Bereiche der Psychiatrie und beschreibt, was dort erlaubt ist und was nicht. Eher dürftig kommt die Forensik weg, was leider typisch ist für viele Abhandlungen zur Psychiatrie. Die Zahl der Betroffenen dort mag kleiner sein als in anderen Bereichen, aber die Durchgriffshärte ist wesentlich heftiger. Daher wäre eine intensivere Betrachtung wünschenswert. Ebenso fehlen im Buch meist Hinweise auf die tatsächliche Wirksamkeit rechtlicher Regeln in der Gemengelage von Macht, Interessen, Zeitdruck und Willkür. Nur kurz geht es um Beschwerdemöglichkeiten. Jenseits dieser Lücken ist das Buch aber eine gute Einführung in die relevanten Fragen – ohne im Detail in die Tiefe zu gehen. (2015, Balance im Psychiatrieverlag, 255 S., 19,95 €)


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