Offener Raum

KURZNACHRICHTEN ZU REPRESSIONSTHEMEN

2020


Übersicht und Kontaktformular · 2024 · 2023 · 2022 · 2021 · 2020 · 2019 · 2018 · 2017 · 2016 · 2015 · 2014 · 2013 · 2012 · 2011 · 2010 · 2009 · 2008 · 2007

November
Politische Justiz: Nötigungsparagraph wird gegen Verkehrswende-Aktionen missbraucht
Zweimal hat die Justiz im November 2020 den Vorwurf der Nötigung gegen Aktivist*innen erhoben, nur weil im Zuge öffentlicher Meinungskundgabe Autofahrer*innen behindert wurden. Der folgenreichere Fall ereignete sich am 26.10., als drei Aktionsgruppen im Rhein-Main-Gebiet große Transparente von Autobahnbrücken hängten, um gegen Verletzte und Tote im Straßenverkehr, den Bau neuer Autobahnen und für eine Verkehrswende zu demonstrieren. Obwohl sie sich dabei nie im Straßenraum selbst befanden und der Vorwurf eines Eingriffs in den Straßenverkehr deshalb schnell fallengelassen wurde, zudem die Polizei die Autobahnen nur sperrte, um den Protest zu beseitigen, wurden gegen elf der Beteiligten Haftbefehle verhängt. Sieben Betroffene sitzen inzwischen über drei Wochen im Gefängnis.
Ein zweiter Fall wirkt harmloser, ist aber umso absurder. Im Rahmen eines Verkehrswendeaktionstages waren mehrere Personen in Dresden mit sogenannten Gehzeugen unterwegs - Holzrahmen in der Größe eines Autos, der, mit entsprechenden Spruchbändern behängt, demonstrieren sollte, wie viel Platz der Individualverkehr ständig einnimmt. Die Polizei beendete die Gehzeugaktionen, obwohl diese selbst nach deren Auffassung unter das Versammlungsrecht fielen. Eine beteiligte Person erhielt ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verstoß gegen das Versammlungsrecht. Der erste Prozesstag am Amtsgericht Dresden endete mit einer Überraschung: Aus dem Bußgeldprozess wurde ein Strafverfahren. Der Richter informierte den Angeklagten, dass ab jetzt auch der Strafvorwurf der Nötigung verhandelt wurde, weil das - nach § 25 StVO völlig legale - Benutzen der Straße bei der Aktion einige Autofahrer*innen zum Langsamerfahren brachte. Der Angeklagte sah politische Justiz am Werk: "Wer sich den Gesetzestext anguckt, sieht, dass der gar nicht passt. Er wird aus Verzweiflung genutzt, um unerwünschtes Verhalten rechtswidrig zu kriminalisieren. Hier handeln Richter*innen für einen Staat, der weiter den klimaschädlichen Autos den grauen Teppich ausrollt!" Infoseite: noetigung.siehe.website

Über die Wirkung von Repression
Repression hat viele Gesichter – und viele Wirkungen. Sie kann als Entzug von Annehmlichkeiten und Vorteilen daherkommen, als direkter Zwang bis hin zu brutaler Gewalt. Bedeutend und auf deutlich mehr Menschen wirkend ist die Wirkung als Bedrohung und Normierung. Repression teilt in richtig und falsch. Damit werden Empfindungen und Diskurse über Gut und Böse, Kriminalität und richtiges Verhalten gesteuert. Repression macht Angst und produziert damit Bürger*innen, die vorauseilend gehorsam oder, um nicht aufzufallen oder anzuecken, übertrieben unterwürfig agieren. Der Staat als Repressionsorgan hat übermächtige Ressourcen, denen auf Dauer nur selten ein langer Atem entgegengesetzt werden kann – selbst bei bestem Willen. In modernen Herrschaftssystem kommt Repression selten allein daher. Meist ist sie begleitet von Angeboten der Integration, oft sogar der Förderung von abweichendem Verhalten, wenn dieses sich in das herrschende Normgefüge aufnehmen lässt. Abweichung wird dann assimiliert und, verbunden mit entsprechenden Änderungen zur Anpassung, selbst zum Teil der herrschenden Verhältnisse. Alexandra Jäger, Julia Kleinschmidt und David Templin haben im Buch „Den Protest regieren“ (2018, Klartext in Essen, 270 S., 24,96 €) diesen doppelten Umgang mit Protestbewegungen in Deutschland vor allem der 70er und 80er Jahre an mehreren Beispielen dargestellt. Ein lohnenswerter Rückblick, um für die Zukunft Strategien zu entwickeln, die sich zumindest nicht so leicht assimilieren lassen.

Verteidigungsmöglichkeiten beim Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB)
„Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ So lautet einer der am häufigsten gegen politisch Aktive eingesetzten Strafparagraphen. Aber es gibt Auswege, vor Gericht die Bestrafung abzuwehren. In beiden Fällen geht es um die Befragung der Belastungszeug*innen. Frage 1: Was ist eine Vollstreckung, und hat die Person, die da angegriffen oder bedroht worden sein soll, eine solche durchgeführt? Das muss die*er Zeug*in dann vor Gericht benennen können, was sie da gerade gemacht hat. Bringt vielleicht nicht oft etwas, aber einen Versuch ist es wert. Denn kann nicht festgestellt werden, ob die*er Beamt*in gerade etwas vollstreckt hat, ist auch der Angriff nicht nach diesem Paragraph strafbewehrt.
Frage 2: Haben die Beamt*innen alles richtig gemacht? So zu fragen, ist in der Regel erfolgversprechender. Denn im Absatz 3 des § 113 steht: „Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.“. Damit lässt sich der Gerichtsprozess umdrehen: Das Verhalten der Polizei (bzw. anderer Behördenleute) wird untersucht – und die sitzen noch im Zeugenstuhl, müssen antworten und die Wahrheit sagen. Wer sich so verteidigt, erreicht oft eine Einstellung. Auch im § 114 (tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamtis) und im § 125 StGB (Landfriedensbruch) ist jeweils ein solcher Straffreiheitspassus enthalten, so dass diese Vorgehensweise Aussicht auf Erfolg hat.

Oktober
Dannenröder Wald und das Versammlungsrecht
Einmal durchgeschüttelt und neu sortiert – so lässt sich vieles zum Versammlungsrecht rund um die aktuellen Kämpfe gegen die Autobahn A49, für die dadurch bedrohten Wälder und für eine Verkehrswende zusammenfassen. Denn aus dem Versuch der Versammlungsbehörden, den Protest möglichst ganz zu verbieten oder wenigstens weitgehend einzuschränken, ist eine Flut von Verwaltungsverfahren einschließlich bislang zwei abgeschlossener Verfassungsbeschwerden entstanden. Weitere werden folgen. Die erste Besonderheit: Weil sich der Vogelsbergkreis und die kleinen Städtchen der Region, in denen sich Autobahnbau und Protest abspielen, als überfordert erklärten, machte sich das Regierungspräsidium Gießen über einen sogenannten Selbsteintritt zur übergeordneten Versammlungsbehörde und zog die meisten Verfahren an sich. Das hatte Folgen, denn das RP zeigte sich als versammlungsfeindlich und verhängte jedes Verbot, was möglich war. Überraschen konnte das nicht: Das RP ist Teil der schwarz-grünen Landesregierung von Hessen, die selbst die Autobahn baut – im Auftrag des Bundes. So ist die gleiche politische Einheit, welche die Zielscheibe des Protestes darstellt, zuständig für Verbot oder Teilverbote dieses Protestes.
Als ersten Hebel verbot das RP alle Übernachtungen. Die seien nicht Teil von Versammlungen, sondern als wildes Campen zu definieren und deshalb oder mit Bezug auf Corona-Regelungen zu verbieten. Obwohl es dazu schon etliche Gerichtsurteile gab, bestätigte das Verwaltungsgericht Gießen (VG) das Verbot. Aber auch das konnte nicht überraschen, gilt die dortige vierte Kammer doch inzwischen als sehr versammlungsfeindlich. Zudem wirkte der als Rassist und NPD-Sympathisant bekannte Richter Andreas Höfer (siehe taz.de/Skandalurteil-eines-Giessener-Gerichts/!5642773/) mit. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) schaffte es dann, ein Urteil zu fällen, welches in mehreren Zeitungen diskutiert wurde nach dem Motto „Was könnten die gemeint haben?“ Denn die Übernachtung bei mehrtägigen Demonstration wurde zwar als Teil der Versammlung gewertet und wäre daher erlaubt, doch da andere Gründe für ein Verbot möglich seien, blieben sie verboten. Welche Gründe das sein könnten, verschwieg das Gericht aber. So fegte erst das Bundesverfassungsgericht das Übernachtungsverbot endgültig vom Tisch (Az. 1 BvR 2146/20). Das sollte RP und VG aber nicht davon abhalten, auch bei weiteren Versammlungen einfach weiter Übernachtungen zu verbieten. Der VGH hob diese jedoch alle wieder auf, während die Beteiligten bei RP und VG eine Strafanzeige wegen offensichtlicher Rechtsbeugung kassierten. Darauf wechselte das RP die Taktik und verhängte absurde Auflagen für das Übernachten in Form großer Anzahl von Toiletten, Duschen usw. Es entstand eine bis heute andauernde Gerichtsverfahrensschlacht um Details der Ausgestaltung. Den juristischen Versuchen, Proteste einzudämmen, wurde vereinzelt auch aktivistisch entgegengehalten, zum Beispiel mit öffentlichkeitswirksamen Schlafdemos auf Bundesstraßen.
Versammlungen nahe oder auf der späteren Trasse der Autobahn blieben lange Zeit ganz verboten. Als Grund wurde der Schutz von Natur und Grundwasser angeführt, die jedoch durch die Autobahn ohnehin zerstört würden. An anderen Stellen wurde behauptet, die Grundstücke für die Autobahn würden irgendwelchen Privatleuten gehören und daher sei das Demonstrieren nicht möglich. Viele dieser Aussagen entpuppten sich als Lügen, die Verfahren laufen überwiegend noch. Am 22.10. entschied der VGH, dass mindestens einmal pro Woche eine Demo auch an den zur Rodung anstehenden Flächen stattfinden darf. Über die genaue Ausgestaltung brach sofort wieder der Kleinkrieg zwischen Anmeldern und Behörde aus. Nach Lage der Dinge werden solche und weitere noch folgende Entscheidungen insgesamt die Rechtsprechung zum Versammlungsrecht verändern oder zumindest deutlich präzisieren. Prägen heute Begriffe wie Fraport- oder Brokdorf-Urteil wichtige Versammlungsentscheidungen, wird es bezogen auf den Danni wohl eine Mehrzahl sein: Danni-Urteile.
Die juristische Aufarbeitung nimmt vermutlich Jahre in Anspruch. Rund um den „Danni“ sind ein erfahrenes Versammlungsrechts-Unterstützungsteam, erreichbar über die Projektwerkstatt in Saasen (www.projektwerkstatt.de/saasen), die übliche Rechtshilfegruppe und unterstützende Anwält*innen aktiv.

Autobahnblockaden durch Transpiaktionen sind keine Straftat
Rechtsgeschichte könnten auch weitere Gerichtsbeschlüsse und -urteile schreiben, vor allem zu Aktionsformen. Mehrfach kam es Autobahnsperrungen durch Transpi-Aufhängaktionen an Brücken. Wird dadurch in den Straßenverkehr eingegriffen, und wenn ja, wäre das gefährlich? Was ist durch das Versammlungsrecht gedeckt? Ist ein Unfall, der dann weit entfernt im Stau durch einen Fahrfehler entsteht, den Aktivistis zuzurechnen? Der Gießener Anzeiger vermeldete am 20.10.2020: „Dass Aktivisten aus dem Umfeld der Gegner des Baus der A 49 mit einer Aktion an der Autobahnbrücke zwischen Bersrod und Reiskirchen für mehrere Stunden die A 5 lahmgelegt haben, hat keine strafrechtlichen Konsequenzen. Nach der Autobahnblockade nahm die Polizei neben den drei Aktivisten vier weitere Personen für einige Stunden in Gewahrsam. Die Polizei hat später die Gießener Staatsanwaltschaft um eine strafrechtliche Einschätzung der Protestaktion gebeten. Laut Auskunft der Polizei wurden seitens der Staatsanwaltschaft Gießen die Tatbestände „Nötigung“ und „Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ aber verneint.“

Knastbibliotheken
In der Isolation, die Zwangsanstalten für die in ihnen Eingesperrten bedeuten, sind der Zugang zu Lesestoff und persönliche Kontakte besonders wichtig. Gefängnisse und Zwangspsychiatrien lassen aber in der Regel weder die Nutzung des Internets noch unkontrollierte Besuche oder Briefwechsel zu. Es bleiben begrenzte Kontakte zu Mitgefangen, soweit nicht Haftverschärfungen verhängt wurden, und die Ausleihe von Büchern. Viele Gefängnisse verfügen über kleine Leihbibliotheken, in die Gefangene zeitweise eingelassen oder aus denen sie sich Lesestoff bestellen können. Privatpersonen und einige Organisationen kümmern sich darum, dass solche Bibliotheken auch ausreichend viel und gute Bücher aufweisen. Auf de.wikipedia.org/wiki/Gefangenenbibliothek wird die Organisierungsform beschrieben, über freiabos.de/gebrauchte-buecher-spenden können solche Bibliotheken mit Büchern unterstützt werden.

August
Dunkle Geschichte – gemacht auch in den Gerichtssälen
Ein prägnantes Beispiel, wie autoritäre Kontinuitäten eine Gesellschaft prägen und verbrecherische Regimes vorbereiten, bietet stets die Justiz. Die Machtfülle, die Richter*innen im Gerichtssaal und sowohl gegenüber ihnen völlig schutzlos ausgelieferten Menschen als auch durch ihre beherrschende Stellung über alle anderen Teilen der Gesellschaft macht aus ihnen einen zentralen Baustein jeden Machtsystems. Niemals wurde das so deutlich wie im Übergang zum Nationalsozialismus. Ein umfassender Austausch von Personal war gar nicht nötig. Die bestehenden Strukturen trugen und rechtfertigten den Wandel. Heinrich Hannover hatte schon 1966 erstmals sein Buch „Politische Justiz 1918-1933“ veröffentlicht und haarklein zusammengetragen, wie die Gerichtssäle zum Ort zuerst der Restauration nationalistischer Gewaltverhältnisse und dann des Umbaus in ein Terrorsystem wurden. 2019 wurde das Werk neu aufgelegt (Metropol in Berlin, 368 S., 22 €). Jedes Kapitel bietet Schrecken pur – sei es die Beschreibung der Nicht-Verurteilung von Mördern und ihren Auftraggebern oder die überzogene Repression gegen Kritiker*innen deutschnationaler Politik. Die passende Ergänzung ist Stephanie Bohras „Tatort Sachsenhausen“ (2019, Metropol in Berlin, 661 S., 29 €), in dem am Fallbeispiel des KZ Sachsenhausen beschrieben wird, wie die Nachkriegsjustiz Täter schützte. Es dauerte lange, bis sich Gerichte überhaupt bemüßigten, Strafverfahren einzuleiten. Die führten nur zu wenigen Verurteilungen, und etliche Haftstrafen wurden zudem frühzeitig beendet. Nichts deutet darauf hin, dass die Justiz als Garant von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit geeignet ist.

Wolfsburger Kessel: Polizei außer Rand und Recht
Knapp zehn Monate nach der spektakulären Aktionsserie für eine Verkehrswende und gegen die weitergehende Massenproduktion von Automobilen im August 2019 fand am 2. Juni 2020 der erste Strafprozess gegen einen Beteiligten vor dem Amtsgericht der Stadt statt. Begleitet wurde dieser zunächst von einer lange vorher angemeldeten und dann drei weiteren Versammlungen. Schon die erste war mit Auflagen belegt, die eine seltsame Vorliebe für den Autoverkehr zeigten: Die Straße durfte nicht benutzt werden. Das führte zu erheblicher Enge auf Fuß- und, soweit überhaupt vorhanden, Radwegen, die entgegenkommende Fußgänger*innen zwang, unter Missachtung der Corona-Abstandsregeln die Demo zu passieren. Einer weiteren Versammlung wurde untersagt, die Grünanlage vor dem Gericht zu nutzen. Sie musste stattdessen einen entfernten Fuß- und Radweg belegen, der dadurch nicht mehr benutzbar war. Die vierte Versammlung fand spontan als Protest gegen die Polizeischikane dann auf der Straße statt, wurde aber nach wenigen Sekunden von der Polizei abgedrängt und auf einem dadurch schon wieder zwei Stunden gesperrten Rad- und Fußweg gekesselt. Rechtswidrig erhielten alle Versammlungsteilnehmer*innen Platzverweise für die ganze Stadt und den ganzen Tag. Eine solche Maßnahme gegenüber einer Demo ist gar nicht zulässig, da das Polizeirecht für Versammlungen keine Wirkung entfaltet. Völlig absurd wurden zudem noch Anzeigen wegen Verstößen gegen die Abstandsregeln gefertigt. Als Zeitpunkt ist der Moment der Kesselung durch die Polizei angegeben, also eine Situation, wo die Versammlungsteilnehmer*innen unfreiwillig durch die rabiate Polizei zusammengedrängt wurden.
Außerhalb des Kessels griff die Polizei zwei Journalist*innen an – offensichtlich, um belastende Aufnahmen zu verhindern oder nachträglich zu vernichten. Eine Journalistin erhielt trotz Vorlage ihres Presseausweises recht früh einen Platzverweis für die ganze Stadt und den ganzen Tag. Sie wurde bis zum Einsteigen in den Zug polizeilich überwacht. Ein anderer Journalist wurde erst am Ende der polizeilichen Kesselung von der Polizei angegangen, aber dann auch gleich festgenommen, um Kamera, weitere Ausstattung und alle Datenträger zu beschlagnahmen. Er erhielt ebenfalls noch einen Platzverweis, obwohl zu diesem Zeitpunkt kein*e einzige*r Versammlungsteilnehmer*in mehr vor Ort war. Der eingelegte Widerspruch wurde vom örtlich nicht zuständigen Amtsgericht Braunschweig bestätigt. Das daraufhin angerufene Landgericht ordnete die Kamera sogar als Tatwaffe ein, die auf Dauer eingezogen werden könne, um weitere journalistische Arbeit zu unterbinden. Inzwischen laufen über 20 Klagen vor dem Verwaltungsgericht, zudem ist bezüglich der Unterbindung journalistischer Tätigkeit Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wäre all das in der Türkei, in Russland oder China passiert – es hätte einen breiten Aufschrei gegeben. Hierzulande oder zumindest in der VW-Stadt scheint es akzeptierter Alltag zu sein. Genauere Berichte und Links zu den Klagen und Stellungnahmen auf blockvw.siehe.website.

Und ewig grüßt der Schwarzfahrprozess …
Fünf Personen, fünf Pappschilder, ein Bus, drei Kontrolleure: Das ist das Setting, aus welchem gerade eine ganze Serie von Strafprozessen am Amtsgericht Braunschweig folgt. Während der erste mit einer Verurteilung endete, kam es im zweiten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gericht und Angeklagten sowie seinem Laienverteidiger. Daraufhin wurde der Prozess unterbrochen. Angesetzt sind aber schon weitere Termin zu den übrigen Menschen, die ohne Ticket im Bus unterwegs waren und für den Nulltarif warben. Gerade weil sie dies als Gruppe taten, sind die Anklagen absurd. Denn die „Erschleichung von Leistungen“ darf eigentlich nur verurteilt werden, wenn das Fahren ohne Ticket heimlich oder sogar unter aktiver Täuschung verläuft. Allerdings sind Gerichte seit Jahren kreativ am Suchen seltsamer Formulierungen, warum auch auffälligstes Verhalten unauffällig sein soll (schwarzstrafen.siehe.website).
Immerhin hat ein Film über all diese Fragen die üblichen Klickgrenzen politischer Debatten gesprengt. Mit dem Titel "Nahverkehr umsonst: Wie weit gehen Aktivist:innen für kostenlose Bahntickets?" liegt das Y-Kollektiv inzwischen satt im sechsstelligen Bereich bei über 3.000 Kommentaren. Im Film wird auch der Nulltarif in Monheim vorgestellt. Ob es hilft? Anschauen lohnt in jedem Fall: youtu.be/pAqVgCfkLds.

Kleiner Leitfaden für kreative Demokultur
In der Projektwerkstatt ist ein vierseitiges Papier mit Tipps zur kreativen Gestaltung von Versammlungen im dafür geltenden Rechtsrahmen entstanden. Es ist als Download auf der Seite www.demotipps.siehe.website zu finden.

Mai
Corona und Gefängnisse: Die verschärfte Krise
Aus der Gefangengewerkschaft GG/BO wurde im April ein verzweifelter Aufruf verschickt, für eine Verbesserung der Lage Inhaftierter angesichts der Corona-Infektionsgefahr einzutreten. Darin wurden Schikanen und Probleme hinter den Mauern beschrieben: „1. Seit den 16. März 2020 sind uns allen die Lockerungen gestrichen. Auch die längst genehmigten Lockerungen sind gestrichen worden. Zeitgleich betreten und verlassen Hunderte Bedienstete u.a. Vollzugsangestellte die JVA Werl tagtäglich! Diese wahnwitzige Maßnahme ist also offensichtlich nicht durchdacht. Nicht nur wir Strafer und "Verwahrten" haben keine Desinfektionsmittel, sondern selbst die Abteilungsbediensteten, die engstens mit den Freiheitsberaubten arbeiten, haben diese Schutzmittel ebenfalls nicht! Und weder Strafer und "Verwahrte" noch die Abteilungsbediensteten haben Schutzmasken bekommen! Die Produktionsbetriebe sind nach wie vor ... hochgefahren. In Freistunden bei den Strafern Menschentrauben. Ebenso Menschenmassen beim Gemeinschaftsduschen. …
2. Seit den 18. März 2020 sind alle Besuche gestrichen. Darunter auch die schon längst genehmigten Besuche. Vor dem Hintergrund der zu vorstehend 1. gemachten Ausführungen zerlege man sich einmal diesen Irrsinn.
3. Seit den 18. März 2020 sind wir dazu genötigt, folgende Regeln umzusetzen, bedroht mit dem Übel der Nichtbehandlungen
a.) Wer etwas von dem Sani will, muss sein Anliegen (Erkrankung) auf einen Zettel schreiben, den er dem Abteilungsbediensteten zu geben hat.
b.) Wer etwas von dem Arzt will, muss ebenfalls sein Anliegen (Erkrankung) auf einen Zettel schreiben, den er ebenfalls dem Abteilungsbediensteten zu geben hat.
c.) Wer bestimmte Medikamente wünscht, auch der muss seinen "Wunsch" auf einen Zettel schreiben, den er gleichfalls dem Abteilungsbediensteten zu reichen hat.“

Prozessauftakt in Wolfsburg: „blockVW“ vor Gericht
13. August 2019: Ein Zug voller neuer Autos verlässt das Werksgelände des Autokonzerns VW in Wolfsburg. Auf der Brücke über den Mittellandkanals muss er bremsen, weil Personen auf dem Gleis auftauchen. Dann geht alles sehr schnell: Vor und hinter dem Zug ketten sich Aktivist*innen mit Rohren an den Schienen fest. Vier seilen sich Richtung Mittellandkanal ab. Ihre Seile sind durch den Zug gespannt. Die Weiterfahrt wird so für fast 12 Stunden blockiert. Gleichzeitig erklettern weitere Aktivist*innen den großen Globus in der Eingangshalle zur Autostadt, während andere Infostände in der Innenstadt errichten. Eine gut durchgeplante Aktion nimmt seinen Lauf.
2. Juni 2020: Um 11 Uhr soll der erste Strafprozess um die Aktion eröffnet werden, weitere Verfahren sind in Vorbereitung. Die Angeklagten und ihre Unterstützer*innen sehen ihre Aktion von einem besonderen Paragraphen im Strafgesetzbuch gedeckt. Laut § 34 „handelt nicht rechtswidrig“, wer eine „gegenwärtige Gefahr“ abwenden will und dabei erstens passende Mittel anwendet sowie zweitens überprüft hat, ob keine milderen Mittel zur Verfügung gestanden hätten. „Der rechtfertigende Notstand ist gegeben. Autos bedrohen das Klima, rauben Flächen und Lebensqualität, verpesten die Luft durch Abgase und Reifenabrieb, verbrauchen in Herstellung und Betrieb riesige Rohstoffmengen und stehen einer Verkehrswende in Richtung Fuß, Fahrrad und ÖPNV im Weg!“ Mildere Mittel hätten nicht zur Verfügung gestanden, da der Staat eine umwelt- und menschenfreundliche Verkehrspolitik verweigere und als Vetomacht bei VW selbst Täter der Zerstörung sei. Mehr auf autofrei.noblogs.org.

Neue Gebührenordnung für die Bundespolizei
Die Bundespolizei ist vor allem auf Bahnhöfen und Flughäfen tätig, viele Anreisende von Veranstaltungen müssen diese Knotenpunkte passieren. Auch für die Sicherung der Bundesministerien, im Grenzbereich und zur Abwehr von Gefahren gegen "wesentliche Vermögenswerte" und vieles mehr wird die Bundespolizei eingesetzt.
In einigen Bundesländern sind Gebührenregelungen für Polizeieinsätze schon länger in Kraft. In Niedersachsen kann auch eine Gewahrsamnahme kostenpflichtig sein. Solche Gebühren gibt es auch schon in Baden-Württemberg und Hessen. War die Maßnahme rechtswidrig, ist die Gebühr nicht zulässig. Gegen die Gebühr kann geklagt werden. Wenn Personen nichts zu pfänden haben und eine Vermögensauskunft abgeben, kann die Zahlung der Gebühren umgangen werden. Die taz schrieb: „Dass die Bundespolizei nun aber ihre ureigensten Tätigkeiten, die die BürgerInnen mit ihren Steuer schon längst finanziert haben, mit einem zusätzlichen Preisschild versieht, ist als Ausuferung eines repressiven Polizeistaats zu verstehen." (taz.de/Gebuehren-fuer-Massnahmen-der-Polizei/!5658040/; Quelle: Legal team für alle)

März
Diesmal ausgiebig zum Thema „Psychiatrie“

Schwache Lobby und wenig Engagement für Alternativen
Die Psychiatrie ist ein dunkler Fleck der Gesellschaft, wenig beachtet und selten grundsätzlich hinterfragt. Das gilt vor allem für die von Mauern und Stacheldraht umgebenen, also geschlossenen oder sog. Zwangspsychiatrien. Die Menschen dort sind von der Umgebung abgeschottet, werden aus vermeintlich disziplinarischen Gründen zusätzlich isoliert oder durch Fixierung oder erzwungene Einnahme von Medikamenten traumatisiert. Wenige, oft personell schwache Betroffenenverbände versuchen, ein Sprachrohr für die Verschwundenen und Vergessenen zu schaffen, so der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen (www.bpe-online.de) und das Werner-Fuss-Zentrum in Berlin (www.zwangspsychiatrie.de). Auch Bücher handeln meist von Betroffenen, stammen aber nicht von ihnen. „Erlebte Psychiatrie 1946-1986“ von Christian Müller ist dafür ein erschreckendes Beispiel (2016, Schwabe AG in Basel, 269 S., 48 €). Der Autor war viele Jahre Chef psychiatrischer Einrichtungen und schildert sein Berufsleben. Dabei geht es selten um Patient*innen, viel öfter um seine Karriere, Vorgesetzte oder Auftraggeber, Umzüge oder Urlaube. Insofern ist der Titel zwar verfehlt, das Buch aber entlarvend für Einrichtungen, über die Betroffene immer wieder klagen, dass es um alles Mögliche geht, nur nicht um sie. Im Buch kommen sie nur kurz und stets als verwirrte Kranke vor, wenn sich der Autor unberechtigt kritisiert fühlte. Wer ein Buch von einem Betroffenen sucht, findet mit „Maßnahmenvollzug“ (2016, Schwabe AG in Basel, 269 S., 48 €) von Markus Drechsler Berichte über Zwangspsychiatrisierung und Sicherungsverwahrung in Österreich (Untertitel „Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt“). Sein eigenes Schicksal steht dabei nicht im Mittelpunkt, obwohl er inzwischen ganz offiziell als Justizopfer aufgrund einer Falschverurteilung gilt. Fast die Hälfte dreht sich um die rechtlichen Bedingungen, die bei Zwangsmaßnahmen kaum Grenzen setzen. Ein Vergleich mit der Rechtslage in Deutschland zeigt, dass Österreich noch stärker Menschenrechte einschränkt. Der zweite Teil enthält Analysen von Gutachten und etliche Interviews mit weiteren Betroffenen bzw. Beobachter*innen.
Was wären die Alternativen? Längst gibt es eine Debatte und Experimente für eine Psychiatrie ohne Zwang. In ganzen Regionen Italiens wird seit den 70er Jahren auf große, geschlossene Anstalten verzichtet. Auch Deutschland hat einige Häuser, die weitgehend auf das Abschließen von Türen und den Einsatz von Zwang verzichten. Die Erfahrungen sind sehr positiv – und solche gibt es auch in anderen Bereichen der psychiatrischen Dienste. Statt Druck und Bevormundung fordern Klinikleiter Martin Zinkler, Psychologin Candelaria Mahlke und der Anwalt Rolf Marschner „unterstützende Entscheidungsfindung“ und haben einen Kreis von Menschen, die in beteiligten Institutionen, an Universitäten, in politischen Gremien, Arztpraxen arbeiten oder selbst betroffen sind, eingeladen, aus ihren Tätigkeiten zu berichten. Aus den Texten ist das Buch „Selbstbestimmung und Solidarität“ entstanden (2019, Psychiatrie-Verlag in Köln, 240 S., 35 €). Es vermittelt eindrucksvoll, dass Zwang nicht alternativlos ist – auch wenn diejenigen, die ihn anwenden, das immer wieder behaupten und viele Gerichte ihnen dabei folgen. Ähnliche Sammlungen und Hilfsangebote finden sich im Internet, unter anderem unter schicksal-und-herausforderung.de.

Heißes Eisen „Pädophilie“
Eine populistische Entgegnung auf Kritik an Gefängnissen und Zwangspsychiatrie verweist auf sexuelle Übergriffe an Kindern. „Wollen Sie denn Kinderschänder frei rumlaufen lassen“, ist noch harmlos formuliert. Eine faire Antwort muss, soll die Ablehnung an Mauern und Stacheldraht ernst gemeint sein, doppelt ausfallen. Zum einen: Ja – und das wäre besser für alle, insbesondere sicherer für die Kinder. Zum anderen: Es muss aber mehr passieren als nur das Ende von Knast und Klapse. Besser für alle wäre, wenn Menschen ihre sexuelle Ausrichtung auf Kinder gefahrlos ansprechen und um Unterstützung bitten könnten. Das aber verhindert die Gefahr der sozialen Ausgrenzung bis Lynchgefahr. Pädophilie sucht sich aber kein Mensch aus. Sie führt zu der belastenden Situation, die eigene Sexualität ein ganzes Leben nicht ausleben zu können. Das ist ein erhebliches Handicap – es zusätzlich zu bestrafen, folglich absurd. Nur wenn es normal wird, dass Menschen anderen von ihrer Neigung erzählen und darum bitten können, nicht z.B. mit Kindern allein gelassen zu werden, könnten tatsächliche Übergriffe, die meist in der Verschwiegenheit von Familie und Freundeskreisen stattfinden, vermieden werden. Es sollte aber nicht beim Absehen von Strafe oder der noch grausameren Zwangspsychiatrisierung bleiben. Stattdessen braucht es mehr offen zugängliche Beratung und Selbsthilfe. Auch das setzt das Ende der Stigmatisierung pädophil ausgerichteter Menschen voraus. Ein wertvolles Buch zum Umgang mit Pädophilie (wofür niemensch etwas kann) haben Claudia Schwarze und Gernot Hahn unter dem Titel „Herausforderung Pädophilie“ (2. Auflage 2019, Psychiatrie-Verlag in Köln, 214 S., 20 €) herausgebracht. Es enthält neben Kurztexten von Betroffenen auch viel Material für alle, die Kinder attraktiv finden, aber nicht übergriffig werden wollen.

Warnung vor Anwält*innen
Matthias Seibt engagiert sich schon lange für Psychiatrie-Betroffene und spart nicht mit Kritik am System des Zwangs. Schlechte Erfahrungen scheint er mit Anwält*innen gemacht zu haben. Im Lautsprecher Nr. 63 (Februar 2020) veröffentlichte er den Text „Der Unterschied zwischen Rechtsanwalt und gutem Rechtsanwalt“. Gleich der erste Satz hat es in sich: „95 bis 99% aller Rechtsanwälte sind grottenschlecht.“ Dann erklärt der selbst in Beratung und Vorständen von Psychiatriebetroffenen-Verbänden aktive Autor: „Warum ist das so? Im Gegensatz zu anderen Dienstleistern (Friseur, Fahrradmechaniker) braucht man nur sehr selten einen Rechtsanwalt. Daher fehlt den meisten Mandanten eine Vergleichsmöglichkeit, wie gearbeitet werden sollte und wie das Ergebnis der Arbeit auszusehen hat. … Wie ein Rechtsstreit funktioniert und welche Ergebnisse man in welcher Zeit erwarten kann, wissen wir nicht. … Daher vertrauen wir dem Fachmenschen Rechtsanwalt blind.“ Im Text folgen konkrete Kritikpunkte und Tipps, sich selbst kundig zu machen und dann doch die richtige Rechtsvertretung zu finden (www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/wersindwir/lautsprecher/63e.pdf).

Januar
Typisch: Stimmungsmachende Polizei-PR nach Silvesternacht in Leipzig
Was auch immer genau am späten 31.12. oder frühen 1.1.2020 in Leipzig geschah, die Polizei trug sofort dick auf und die Medien sprangen brav über das Stöckchen. Doch die nächsten Tage zeigten: Da wurde dramatisiert, zum Teil glatt gelogen. Der schwerverletzte Polizist – ein Märchen. Der brennende Einkaufswagen, in die Polizeireihen geschoben – gab es nicht. Organisierte Gruppen, die Polizei attackierten – nirgends irgendein Nachweis. Eher scheint es umgekehrt. Nach Recherchen veröffentlichte BuzzFeed News Deutschland am 10.1. recht wahllose Angriffe der Polizei auf Partygäste und einen insgesamt eher unkoordinierten Einsatz in der Silvesternacht. Stefan Jarolimek, Professor an der Deutschen Hochschule der Polizei, erklärte auf Spiegel Online am 11.1.: „Die Kommunikation war unglücklich.“ Das ist angesichts der offensichtlichen Lügen sehr milde ausgedrückt. Vermutlich wird die Polizei für ihre Lügen und die Gewalt gegen Passant*innen keine Konsequenzen zu spüren bekommen, während per Schnellverfahren ein Partygast schon Tage später zu einem halben Jahr Haft auf Bewährung verurteilt wurde – weil er einem Beamten ein Bein stellte. Dieser wurde nicht verletzt. Berichte auf de.indymedia.org/node/57755, auf Zeit Online am 6.1.2020 und im MDR.

Illegale Übergriffe in Psychiatrie wirksam verfolgen
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass bei Fixierungen und anderen Zwangsmaßnahmen ein Recht darauf besteht, die mögliche Strafbarkeit solcher Handlungen überprüfen zu lassen. Stellt ein Patient Strafanzeige, dürfen Gerichte und Staatsanwaltschaften das Verfahren nicht ohne genaue Prüfung einstellen, wie sie es bei Übergriffen durch Hoheitsträger bislang meist machen. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht Kriterien festgelegt, was als Übergriff gilt (Beschluss vom 15. Januar 2020, Az.2 BvR 1763/16): „Ob ein Eingriff in die persönliche (körperliche) Freiheit vorliegt, hängt dabei allein vom tatsächlichen, natürlichen Willen des Betroffenen ab. Fehlende Einsichtsfähigkeit lässt den Schutz des Art. 2 Abs. 2 GG nicht entfallen; die Freiheit ist auch dem psychisch Kranken und nicht voll Geschäftsfähigen garantiert.“ Ärzte und medizinisches Personal können nun strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie ohne rechtswirksamen Beschluss eines Gerichts Zwangsmaßnahmen ergreifen, die sich später als Unrecht erweisen. Mehr auf www.zwangspsychiatrie.de/2020/01/wichtiges-urteil-des-bundesverfassungsgerichts__trashed/

Rückblick aus dem Ermittlungsausschuss: Hambi-Räumung
Die Räumung des Hambacher Forsts wird für viele, die sie miterlebt haben, lange ein wichtiges Erlebnis bleiben. Ob traumatisiert von Polizeigewalt oder begeistert von der Unterstützung durch so viele Menschen, ob glücklich wegen positiver Berichterstattung oder genervt von der Übernahme des Protests durch große Nicht-Regierungsorganisationen, die sich sonst wenig eingebracht haben, jetzt aber den Protest und seine Formen bestimmen wollten. Eine Person aus der AntiRRR hat jetzt ihre Erfahrungen im Ermittlungsausschuss (EA, Legal Team) in einem sehr persönlichen Bericht aufgeschrieben, hier zu lesen: antirrr.nirgendwo.info/2019/12/29/die-hambi-raeumung-im-ea-ein-erfahrungsbericht/ (aus dem Newsletter Klima-Antirepression #12 - Januar 2020).

Das Recht der Whistleblower
Spätestens seit den spektakulären Fällen von Chelsea Manning, Edward Snowden und Julian Assange läuft eine intensive Debatte über Vor- und Nachteile eines rechtlichen Schutzes von Menschen, die Geheimnisse verraten. Die Genannten haben das, wie viele andere Unbekanntere, aus ideellen Gründen gemacht und dafür nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Freiheit verloren. Das war ein hoher Preis, der einschüchtern sollte. Von Strafen für Whistleblower profitieren vor allem die, die Vorteile von Geheimsachen haben. Das sind in der Regel die Mächtigen innerhalb einer Institution oder dem Staat insgesamt. Doch wie ist die Rechtslage genau? Neben den Gesetzen für die Orte, an denen es Geheimnisse gibt, kommen Strafgesetze in Frage. Auf www.whistleblower-net.de sind die deutsche und die internationale Lage genauer dargestellt, ebenso im Buch „Die Strafbarkeit des Whistleblowers“ von Matthias Soppa (2018, Tectum bei Nomos in Baden-Baden, 277 S., 54 €). Dort finden sich eine sehr präzise Informationen zu all diesen Aspekten möglicher Strafbarkeit einschließlich genauer Überlegungen zum rechtfertigenden Notstand. Die Brillanz des Buches geht am Ende etwas verloren, als der Autor einen eigenen Vorschlag für eine neutrale Stelle vorstellt, an die sich Whistleblower angstfrei wenden können. In einer von Funktions- und Deutungseliten dominierten Gesellschaft gibt es keine interessensfreie Räume. Ein solches Gremium wäre vielmehr umkämpfter Raum, in dem sich die bestehenden Machtverhältnisse widerspiegeln würden.

Oberster Strafrechtskommentator sagt: Justiz führt zu Gewalt
Ganz entspannt und positiv sieht der ehemalige Bundesgerichtshofrichter und Autor des führenden Strafprozesskommentars, Thomas Richter, seine Neigung zu wortgewaltigen Formulierungen. Eine Auswahl aus seinen Kolumnen in Zeitungen hat er daher in einem Buch mit dem Titel „Richter-Sprüche“ (2017, Droemer in München, 206 S., 18 €) übersichtlich in alphabetischer Reihenfolge der Kontext-Themen zusammengestellt. Wer sie liest, wird im Eindruck bestätigt, den Fischer in seinen Talkshows und Texten immer gemacht hat: Mutig, widersprüchlich und losgelöst von irgendwelchen erkennbaren politischen Leitlinien. Von einem Richter würde mensch eher Anderes erwarten als solche Auftritte in Form eines verbalen Bulldozers. Beispiele gefällig? Bitte: „Wer nicht hören will, muss fühlen! Das ist des Deutschen Segensspruch. Zweimal höflich gemahnt: Dann gibt’s ein Gummigeschoss zwischen die Augen. Die sächsische Polizei ist weltweit gefürchtet für ihr rigoroses Vorgehen gegen rechtsradikale Gewalt und dafür, wie sie für Angst beim örtlichen Abschaum sorgt.“ Der Spruch steht unter dem Titel „Gewaltbekämpfung“ – „Bekämpfung mit Gewalt“ hätte eher gepasst. An anderer Stelle: „Recht liegt, bildlich gesprochen, eine kleine Sekunde oberhalb der Gewalt und kann sie deshalb verhindern, indem es sie symbolisiert“. Recht als Symbol für Gewalt – das ist wieder sehr reflektiert und findet sich noch zugespitzter: „Justiz ist niemals gemütlich und nie neutral. Sie ist die Maschine, in der Legitimation in pure Gewalt umgesetzt wird.“ Insofern ist das Buch eine Achterbahn zwischen Aha-Erlebnis und Kopfschütteln über einen der ehemals höchstens Richter und immer noch Chefkommentator für Strafsachen (Leitkommentar zum StGB).

bei Facebook teilen bei Twitter teilen

Kommentare

Bisher wurden noch keine Kommentare abgegeben.


Kommentar abgeben

Deine aktuelle Netzadresse: 18.119.109.60
Name
Kommentar
Smileys :-) ;-) :-o ;-( :-D 8-) :-O :-( (?) (!)
Anti-Spam