Offener Raum

KURZNACHRICHTEN ZU REPRESSIONSTHEMEN

2022


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November 2022
Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht schränkt Versammlungsfreiheit stark ein
Am 13.11.2022 wollten Verkehrswende-Aktivist*innen gegen den Weiterbaus der A39 und eine neue Autofabrik nahe Wolfsburg protestieren – und zwar auf der A39 zwischen Braunschweig und Wolfsburg. Dafür hatten sie einen verkehrsarmen Sonntagvormittag ausgewählt. Zudem ist die A39 Zubringer für das größte VW-Werk, welches jedoch sonntags nicht arbeitet. Dennoch wurde die Demo verboten – in einem spektakulären Schlagabtausch durch alle Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das endgültige Verbot kam dann vom Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg – und das hatte es in sich. Das Gericht stellte fest, dass die „Leichtigkeit des Verkehrs“ (gemeint: Autoverkehr) höheren Wert besitze als das Grundrecht auf Versammlung. Außerdem würden Versammlungen auf Straßen ab 60 km/h zulässige Geschwindigkeit nicht akzeptable Gefahren heraufbeschwören (Az. 11 ME 330/22). Mit diesem Richterspruch kann das Demonstrieren künftig auf Autobahnen, Bundes- und Landesstraßen grundsätzlich verboten werden. Eine Überprüfung dieses offensichtlich verfassungswidrigen Gerichtsentscheids durch das Bundesverfassungsgericht war nicht möglich, weil Versammlungsbehörde (Stadt Wolfsburg) und Gerichte ihre Entscheidungszeiten so wählten, dass dafür keine Zeit blieb.

Zwangs- oder gewaltfreie Psychiatrie?
Normalität ist der zentrale Begriff, an dem Menschen gemessen werden. Wer abweicht, ist ver-rückt – oder, ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt das ebenso wie der heutige Umgang mit abweichendem Verhalten in vielen Teilen der Welt, schnell tot, eingesperrt oder zwangsbehandelt. Dabei ist die Kategorie alles andere als klar und voller interessensgeleiteter Interpretation. Das stellt Asmus Finzen in „Normalität – Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft“ (2018, Psychiatrie-Verlag in Köln, 144 S.) für den medizinischen Bereich übersichtlich und verständlich dar. Welche Folgen die Ausgrenzung des Unnormalen haben kann, zeigen Heiner Fangerau, Anke Dreier-Horning und andere in „Leid und Unrecht“ (2021, Psychiatrie-Verlag, 837 S.) am Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der „Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR von 1949 bis 1990“ (Untertitel). Nach allgemeinen Kapiteln zu Recht, pädagogischer Gewalt und Arzneimitteln folgen konkrete Beschreibungen von Unterbringungen in Anstalten und Kliniken. Noch deutlicher zeigt Judith Hahn (Hrsg.) in „Der Anfang war eine feine Verschiebung in den Grundeinstellungen der Ärzte“ (2020, Schwabe Verlag in Berlin, 129 S.) am Beispiel der Verbrechen in der Charité während des Nationalsozialismus, wie aus Ärzt*innen Mörder*innen und Folterknechte wurden und wie weit sie dabei gingen. Der Band erschien begleitend zu einer Ausstellung und zeigt viele Dokumente, die die Verbrechen belegen.
Was wären die Alternativen zu Einweisung, geschlossenen Kliniken und Heimen, Fixierung und unfreiwilliger Medikamenteneinnahme? Längst gibt es eine Debatte und Experimente für eine Psychiatrie ohne Zwang. In ganzen Regionen Italiens wird seit den 70er Jahren auf große, geschlossene Anstalten verzichtet – und auch Deutschland hat einige Häuser, die weitgehend auf das Abschließen von Türen und den Einsatz von Zwang verzichten. Ihre Erfahrungen sind sehr positiv – und solche gibt es auch in anderen Bereichen der psychiatrischen Praxis. Statt Druck und Bevormundung fordern Klinikleiter Martin Zinkler, Psychologin Candelaria Mahlke und der Anwalt Rolf Marschner „unterstützende Entscheidungsfindung“ und haben einen Kreis von Menschen, die in beteiligten Institutionen, an Universitäten, in politischen Gremien, Arztpraxen arbeiten oder selbst betroffen sind, eingeladen, aus ihren Tätigkeiten zu berichten. Aus den Texten ist das Buch „Selbstbestimmung und Solidarität“ (2019, Psychiatrie-Verlag in Köln, 240 S., 35 €). Es vermittelt eindrucksvoll, dass Zwang nicht alternativlos ist – auch wenn diejenigen, die ihn anwenden, dass immer wieder behaupten und viele Gerichte ihnen dabei folgen.
Eine Hilfe für eine gewaltfreie Psychiatrie kann die „EX-IN-Genesungsbegleitung“ sein. Im gleichnamigen Buch, herausgegeben von Susanne Ackers und Klaus Nuißl (2021, Psychiatrie-Verlag in Köln, 224 S.) sind „Erfahrungsberichte aus der Praxis“ (Untertitel) verschiedener Autor*innen zusammengestellt. Es geht um Psychiatrie-Erfahrene, die nun andere Betroffene unterstützen – in den Kliniken, in mobilen Diensten oder in der Forschung. Am meisten helfen dürfte, sich aus der formalisierten Behandlung ganz herauszuhalten. „Recht für Selbsthilfegruppen“ von Renate Mitleger-Lehner (Hrsg: Selbsthilfezentrum München, 3. Auflage 2019, 201 S., 19,50 €) vermittelt das Handwerkszeug, sich außerhalb der Fremdbestimmung gegenseitig zu unterstützen – und so eine Psychiatrisierung oft ganz zu vermeiden. Im übersichtlich gegliederten Buch geht es um gruppendynamische Fragen, rechtliche Tipps, Fördermöglichkeiten, Datenschutz, Öffentlichkeitsarbeit und Haftungsfragen.

Oktober
Festkleben auf der Autobahn – eine Straftat?
Um wirksamere Klimaschutzmaßnahmen durchzusetzen, blockieren Aktivist*innen seit einigen Monaten mit spektakulären Anklebeaktionen Autobahnen und Abfahrten. Jetzt laufen die ersten Strafprozesse an. Doch sind solche Aktionen eine Straftat? Daran äußert Prof. Dr. Tim Wihl vom Lehrstuhl für Theorie der Politik der Humboldt-Universität zu Berlin in einem Beitrag auf Legal Tribune Online (lto.de/recht/hintergruende/h/autobahnblockade-sitzblockade-berlin-legal-strafbar-verfassungskonform-noetigung-versammlungsfreheit) starke Zweifel. Der übliche Vorwurf der Nötigung könnte ins Leere laufen, da „die Blockaden eben doch als Versammlungen gerechtfertigt sein können und die Verwerflichkeit der Nötigung aufheben.“ Er argumentiert zudem politisch, nämlich mit dem rechtfertigenden Notstand: „Gerade in der Klimakrise besteht jedoch eine Art "Notstand in Permanenz"; die Menschheit hat nur noch wenig Zeit. Ungeduldige Protestformen, die auf maximale Aufmerksamkeit zielen, werden daher an Bedeutung noch gewinnen. Eine autoritäre Verhärtung ist der Republik als Reaktion nicht zu empfehlen, selbst wenn es um das Auto und die liebe Ordnung geht.“

Verfahren um Autobahnabseilaktion 2015 eingestellt
Es war das erste größere Strafverfahren wegen einer Abseilaktion über einer Autobahn. 2015 hatten Aktivistis die damalige A61 mit dieser Aktionsform zum Stillstand gebracht, so dass Hunderte Kohlegegner*innen diese gefahrlos überqueren und in den Tagebau Garzweiler eindringen konnten (Aktion „Ende Gelände“). Der Versuch, drei Angeklagte für diese wichtige Hilfe der ersten großen Tagebaubesetzung zu verurteilen, scheiterte an einer geschickten Verteidigung, bei der auch drei Laienverteidiger*innen halfen und nachwiesen, dass sich die Kletternden nie im offiziellen Lichtraum der Straße befanden. Der endet nämlich bei Autobahnen in 4,70m Höhe, bei anderen Straßen sogar schon in 4,50m. Die Einstellung ist nun das Eingeständnis, dass der Strafvorwurf des gefährlichen Eingriffs wohl nicht zutrifft. Andere Gerichte probieren sich nach ähnlichen Aktionen 2020 und 2021 weiter, teil mit bemerkenswerter juristischer Phantasie des Uminterpretierens von Paragraphen, beispielsweise zur Nötigung oder zum Hausfriedensbruch.

Sicherheit und Anonymität im Internet
Unter diesem Titel ist 2020 ein Buch von Thorsten Petrowski erschienen (Rottenburg, 254 S., 19,99 €). Dort werden die Gefahren und Gegenmaßnahmen der Bedrohungen bei verschiedenen Onlineanwendungen schlüssig und nachvollziehbar erklärt – durchgehend präzise, umfangreich und anschaulich. Es geht um das Verhalten auf Internetseiten, den Umgang mit Mails und Smartphones. Extrakapitel sind besonderen Sicherheitsmaßnahmen wie dem anonymen Surfen und der Softwaresammlung für Sticks namens Tails gewidmet.

Sonderfall Straftaten mit Antragsvorbehalt
Bei Hausfriedensbruch gilt immer, dass eine Strafverfolgung nur auf Antrag des Betroffenen erfolgt, bei Beleidigung oder einfachen Formen von Sachbeschädigung und Körperverletzung ist das meistens so. Wenn die sogenannten Geschädigten das Gerichtsverfahren nicht wollen, findet es auch nicht statt. § 158 StPO sagt: „Bei Straftaten, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, muss der Antrag bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll, bei einer anderen Behörde schriftlich angebracht werden.“ Die Frist beträgt drei Monate – ab dem Tag, an dem der Antragsberechtigte von der Tat Kenntnis erhalten hat. Das schafft Handlungsmöglichkeiten, ein Verfahren auch außerhalb des Gerichtssaales zu führen – nämlich durch Aktionen gegen die strafantragstellenden Konzerne, staatliche Institutionen oder andere politische Gegner*innen. Wer zum Beispiel beim Containern erwischt und angezeigt wird, kann mit Aktionen vor oder im Geschäft den Inhaber*innen deutlich vermitteln, dass die entstehende Öffentlichkeit eher sie selbst und ihre Wegwerfkultur schädlich sein wird. Gleiches gilt bei Haus- und Flächenbesetzungen oder politische Kritik an Akteur*innen, die diese als Beleidigung werten und anzeigen.

Interesse an Gerichtsprozesstrainings?
Immer mehr politisch aktive Menschen entdecken die Möglichkeiten, vor Gericht eine aktive Rolle zu spielen und sich nicht eingeschüchtert hinter professionellen Jurist*innen zu verstecken. Um dabei Fehler zu vermeiden und die Möglichkeiten der Strafprozessordnung für eine optimale Verteidigung Richtung Freispruch oder zumindest Einstellung sowie für politische Beiträge nutzen zu können, sind Fachwissen und Übungen nötig. Das Rüstzeug dafür lässt sich aber an einem Wochenende gut vermitteln. Das geschieht bei Gerichtsprozesstrainings, die oft mehrmals pro Monat angeboten werden. Wer Interesse hat, kann auf die Terminliste der Internetseite prozesstipps.siehe.website schauen oder sich unter lists.0x90.space/mailman/listinfo/prozesstraining-interessierte eintragen. Wer das tut, bekommt die nächsten Termine mitgeteilt.

August
Geschlossene Psychiatrien – Elendsorte der Republik
Menschen, die den Normen der Mehrheitsgesellschaft nicht entsprechen, sich gleichzeitig nur schlecht selbst zu helfen wissen oder aus sozialen Netzwerken herausgefallen sind, landen schnell hinter den Mauern und Zäunen psychiatrischer Anstalten. Betroffen sind deutlich mehr Menschen als Insass*innen von Gefängnissen, d.h. geschlossene Psychiatrien sind der zahlenmäßig wichtigste Kerker der Republik. Viele dieser Anstalten, am meisten die forensischen Psychiatrien, stellen sich für Viele als reine Aufbewahrungsorte heraus. Die Ver-rückten werden aus der Normalgesellschaft ausgeschlossen und entsorgt. Sie werden oft von denen begutachtet, deren Anstalten von der hohen Belegungsquote ihrer Betten profitieren, und formal eingewiesen von Richter*innen, die aus Angst vor Fehlentscheidungen den Vorschlägen der Psychiater*innen blind folgen. Das zeigt sich sehr deutlich im Vergleich: Wo geschlossene Psychiatrien existieren, gibt es offiziell viel mehr Ver-rückte als in Orten weit entfernt von solchen „Kliniken“. Es besteht ein ständiger Drang, vorhandene Betten zu belegen, um eine Einrichtung protitabel zu führen. Die Leitung der Gießener Forensik schrieb im Lehrbuch Maßregelvollzug von der „Erfahrung, dass höher gesicherte Kapazitäten, so sie einmal zur Verfügung stehen, auch genutzt werden.“ Am 15.8.2022 übersah die örtliche Zeitung in ihrem Bericht „Mehr psychisch kranke Straftäter“ mal wieder diesen Zusammenhang. Kurz zuvor hatten Betroffene und Unterstützer*innen vor der Klinik gegen das willkürliche Einsperren und Zwangsbehandlungen protestiert.
Infoseiten: zwangspsychiatrie.de und anti-zwangspsychiatrie.siehe.website. Seite der Psychiatrie-Erfahrenen: www.bpe-online.de. Schutz durch Patient*innenverfügung: patverfü.de.

„Der Knast-Guide“ – kompetente Infos zum Gefängnis
Ob Verurteilte, Angehörige oder einfach nur Interessierte – sie alle werden aus diesem sehr informativen und dennoch kompakten (2022, Beck im dtv München, 134 S.), aber leider mit 19,90 € ziemlich teuren Buch viel herausziehen können. Denn die Autoren Ingo Lenßen und Robert Scheel, beide Rechtsanwälte, beschreiben vom Haftantritt über den Alltag im Knast bis zur Entlassung alle wesentlichen Abläufe in knappen Absätzen, ergänzt um Gesetzespassagen, Hinweise auf die übliche Sprache unter Gefangenen und viele kleine Tipps. Besondere Kapitel widmen sie der Lage von Jugendlichen, Frauen und Transsexuellen. Nervig ist allein die – für Anwält*innen typische – Distanz zu den Betroffenen. So wird im letzten Kapitel explizit ausgeführt, dass Angaben von Gefangenen als unseriös eingeschätzt und daher im Buch nicht verwendet wurden. Folglich fehlen sie auch unter den Literaturangaben, ebenso gibt es keine Übersicht über (Selbst-)Hilfeorganisationen oder gefängniskritische Kreise.

Und ewig grüßt der Kontrolleur: Schwarzfahren führt weiter in den Knast
Das Landgericht Aachen hat in einer Berufungsverhandlung eine Person verurteilt, die ohne Fahrschein im Zug fuhr, aber das sehr auffällig, wie selbst im Urteil zu lesen ist: „Alle Zeugen haben sich an das vom Angeklagten getragene Schild und an das Verteilen der Flyer erinnert.“ (Az. 117 Cs 82/21) Trotzdem befand das Gericht, dass der Angeklagte heimlich gehandelt habe, was nötig ist, um den Tatbestand des „Erschleichens“ zu erfüllen. Gegen das absurde Urteil ist Revision eingelegt worden, so dass eine höhergerichtliche Überprüfung stattfinden wird. Bemerkenswert ist angesichts dessen ein Gerichtsschreiben in Gießen: In der Stadt ist das sogenannte Aktionsschwarzfahren nämlich schon länger straffrei. Das hat sich nun so weit verfestigt, dass ein Angeklagter vor einigen Wochen zwar nicht verurteilt wurde, aber seine Kosten im eingestellten Verfahren selbst tragen soll, weil er nicht rechtzeitig mitgeteilt hätte, mit Hinweisschild ohne Fahrschein gefahren zu sein. Laut dem Schreiben „dürfte ihm von Beginn an klar gewesen sein, dass - unter Würdigung der von ihm nicht mitgeteilten Umstände - ein Schuldspruch zu seinen Lasten auf der Grundlage des § 265a StGB mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten war.“
Infoseiten: www.schwarzstrafen.siehe.website

Viele Gerichtsprozesstrainings gelaufen – noch mehr nötig und möglich!
Die vielen Besetzungen gegen klimaschädliche Bauprojekte und die Aktionen der letzten Generation haben den Bedarf an Trainings zu kreativer Prozessführung deutlich erhöht. In den letzten Monaten fanden fast wöchentlich solche Wochenendkurse statt, bei denen Angeklagte und Unterstützer*innen lernen, wie sie sich kreativ vor Gericht verteidigen und dabei die formalen Mittel ausschöpfen können. Solche Trainings können an weiteren Orten bei Bedarf angeboten werden, wenn eine örtliche Gruppe die organisatorischen Rahmenbedingungen (Ort usw.) klärt und mindestens zwölf Teilnehmende zusammenkommen. Mehr unter prozesstipps.siehe.website und vortragsangebote.siehe.website.

Mai
Völlig widersprüchliche Urteile gegen Autobahnabseiler*innen
Die ersten Verfahren, zunächst an Amtsgerichten, sind beendet. Es zeigt sich, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte zwar mit großer Wut gegen Aktivistis vorgehen, aber dabei völlig unterschiedliche Wege beschreiten. Eine Bestrafung dieser Aktionsform ist nämlich gar nicht naheliegend. Bei der ersten Aktion dieser Art, im Jahr 2000 zur Eröffnung der Expo über dem Messeschnellweg in Hannover, stellte die Staatsanwaltschaft schnell klar, dass es sich um eine demonstrative Handlung und daher nicht um eine Straftat handele. Der zweite Fall, eine Aktion im Rahmen der Aktion „Ende Gelände“ im Jahr 2015, die das Überschreiten der gesperrten Autobahn Richtung Tagebau Garzweiler ermöglichte, ging zwar vor Gericht. Dort musste die Staatsanwaltschaft aber schnell einsehen, dass der Vorwurf eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nicht in Frage kam, da die Autobahn formal in 4,70m Höhe endete und sich die Kletternden stets darüber befanden. Als sich dann rund um die Räumung des Dannenröder Waldes solche Aktionen häuften, machte zunächst die Gießener Staatsanwaltschaft die gleiche Aussage wie damals die in Hannover. Die gleiche Aktionsform wenig später im Frankfurter Raum wurde dann plötzlich, trotz unveränderter Gesetze, völlig anders ausgelegt. Mehrere Beteiligte wurden direkt wochenlang eingesperrt. Im Mai gab es in Frankfurt-Höchst zudem drastische Urteile: Sieben oder mehr Monate Haft – für Nötigung. Das ist nämlich der neueste Dreh der Justiz. Die Kletternden hätten die Polizei verleitet, den Verkehr zu stoppen. Die hätten das „willenlos“ getan und hinter den ersten Autos im Stau, die noch hätten fahren können, sind dann andere zum Anhalten genötigt worden. Diese wirre Herleitung lehnte wiederum das Amtsgericht Helmstedt für eine Aktion nahe Wolfsburg über der A39 ab, bejahte nun aber plötzlich den gefährlichen Eingriff, obwohl es auch anerkannte, dass nie jemand den Autobahnraum betreten oder beeinflusst, geschweige denn ein Hindernis oder Ähnliches bereitet habe (was der Paragraph aber verlangt). So erleben Klimaaktivist*innen im Moment das Gleiche wie beim Aktionsschwarzfahren: Die Strafgesetze geben es nicht her, zu verurteilen. Also basteln sich Gerichte eigene „Gesetze“ (autobahn.siehe.website).

Neue Waffe der Justiz: § 420 Abs. 4 StPO
Gleich in mehreren Verfahren mussten Verkehrswende-Aktivistis im Raum Wolfsburg eine dort offenbar übliche Praxis erleben, die die Verteidigungschancen fast auf Null reduziert. Ein weit hinten in der Strafprozessordnung versteckter Paragraph ermöglicht es Gerichten bei sogenannten „beschleunigten Verfahren“, in der Beweisaufnahme alle, auch die formal als Antrag vorgetragenen Gegenbehauptungen zur Anklage gar nicht zu überprüfen: „Im Verfahren vor dem Strafrichter bestimmt dieser unbeschadet des § 244 Abs. 2 den Umfang der Beweisaufnahme“. Damit ist das Beweisrecht von Angeklagtem und Verteidigung faktisch auf null bzw. vollständig von der Laune des Gerichts abhängig, denn dieses ist im § 244 Abs. 3 geregelt. Im Abs. 2 geht es um die Beweisführung des Gerichts selbst. Die Einschränkung hat also kaum eine Wirkung, weil das Gericht nur auf sich selbst Rücksicht nehmen muss. Beck online kommentiert:
„Die Ablehnung von Beweisanträgen setzt nur noch voraus, dass das Gericht die Erhebung des angebotenen Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält; sie erfolgt durch Gerichtsbeschluss, der zu begründen und wie der Beweisantrag zu protokollieren ist, wobei sich die Begründung darauf beschränken kann, dass die Beweiserhebung zur Wahrheitserforschung nicht erforderlich ist.“ In zwei Verfahren im April wurden 100 Prozent aller Beweisanträge auf diese Weise pauschal abgelehnt. Immerhin hält der aktuelle StPO-Kommentar diese Praxis in der zweiten Instanz (Berufung) für nicht möglich, was dann statt einer Verkürzung eine Verlängerung von Verfahren bedeutet.

Versammlungsrecht fördert Verkehrswende
Immer mehr Verkehrswende-Aktive entdecken das Versammlungsrecht, um temporär die Verhältnisse herzustellen, die sie sich für einen Straßenabschnitt oder Bereich wünschen. Das Demorecht gibt nämlich deutlich mehr her als die üblichen, ausdrucksschwachen Kundgebungen. Per Versammlungsrecht lassen sich temporär zum Beispiel eine Fahrradstraße, eine autofreie Zone um Grundschule oder Kindergarten, eine Spielstraße schaffen. Ort und Design könnt ihr bei störrischen Behörden dann sogar gut durchklagen, da es ein gewichtiges Argument für die Klage ist, genau das Ziel durch die Demo zeigen zu wollen. So gab es mehrfach Demos auf oder über Autobahnen, um deren Abriss zu fordern, in Gießen Versammlungen für Rundum-Grün-Ampelschaltungen, für Fahrradstraßen und mehr Fußzonen, bei denen diese temporär geschaffen wurden. Nutzt das – nicht nur für verkehrspolitische Themen! Tipps gibt es unter verkehrsaktionen.siehe.website einschließlich Kontaktadressen für weitere Beratung, Workshops und Aktionstrainings.

März
Grundrechtsabwägung führt zu Freispruch für Klimaaktivist*innen
Die Gruppe „Lebenslaute“ hat ein bemerkenswertes Gerichtsurteil erstritten. Im Sommer 2021 waren Chor und Orchester in den Tagebau Garzweiler eingestiegen und gaben dort aus Protest gegen die Kohleverstromung ein Klassik-Aktionskonzert (siehe www.lebenslaute.net/?page_id=4588). Vor dem Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt wurden nun drei Aktivist*innen vom Vorwurf des Hausfriedensbruch freigesprochen, obwohl der Tatbestand als erfüllt angesehen wurde. Der Richter argumentierte bemerkenswert: Wer so tief wie RWE ins Eigentum anderer eingreife, müsse im Zuge einer Grundrechtsabwägung den zeitlich begrenzten Hausfriedensbruch der Aktion von Lebenslaute hinnehmen. Das ist eine ungewöhnliche Begründung für einen Freispruch, deutet aber an, dass Klima- und Umweltschutz als Rechtsgut möglicherweise in Zukunft stärkere Berücksichtigung finden können. Das Gerichtsurteil ist hier zu finden. Es war, zumindest zunächst, noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft könnte eine weitere Instanz des Verfahrens in Gang setzen.

Versammlungsfreiheit nur für Deutsche?
Die wegen ihrer Beteiligung an der Waldbesetzung im Dannenröder Wald („Danni“) über 15 Monate inhaftierte, namentlich unbekannte Person „Ella“ klagte vor dem Verwaltungsgericht Gießen gegen den damaligen Polizeieinsatz. Ihre Klage wurde abgewiesen, unter anderem mit der Begründung, dass die Versammlungsfreiheit nur für Deutsche gelte. Das steht zwar in der Tat so im Grundgesetz, ist aber durch europäisches Gesetz ausgehebelt. Aus einer Schrift des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (WD 3 - 3000 - 302/18): „Ausländer aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union können sich indes auf das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) berufen, wonach den Mitgliedstaaten „jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“ ist. Hiernach dürfen EU-Ausländer (auch) im Hinblick auf ihr Versammlungsrecht nicht schlechter gestellt werden als Deutsche." Es ist davon auszugehen, dass dem Gießener Gericht das bekannt ist. Ihr Bekenntnis zu "Deutsche zuerst" ist ideologisch begründet.“
Noch deutlicher ist die EU-Charta im Artikel 12 zu Versammlungsfreiheit. Dort ist klar von "jeder Person" die Rede: „Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln“. Das Europarecht bricht die Einschränkung des Grundgesetzes, womit die Sache klar ist: Alle haben das Recht auf Versammlungen. Das werden auch die Verwaltungsrichter*innen in Gießen gewusst haben, doch treibt dort der bundesweit bekannte Nazi-Sympathisant Andreas Höfer (taz.de/!5642773) sein Unwesen – akzeptiert von den Kolleg*innen. Das war schon während der Besetzungsphase im Danni zu sehen, als das VG Gießen fast alle Klagen abwies, diese Beschlüsse von der nächsten Instanz aber regelmäßig aufgehoben wurden.

Rechtstipp zu § 147 StPO: Akteneinsichtsrecht
Rechtsanwält*innen können in der Regel problemlos alle Unterlagen eines Gerichtsverfahrens einsehen. Doch viele Angeklagte können sich eine solche Vertretung nicht leisten und stehen allein. Viele wissen nicht, dass sie dann das gleiche Akteneinsichtsrecht haben wie die/der Anwältin – mit der Ausnahme, dass sie die Akten nicht zugeschickt bekommen können. Das regelt Absatz 4 des § 147 in der Strafprozessordnung: „Der Beschuldigte, der keinen Verteidiger hat, ist in entsprechender Anwendung der Absätze 1 bis 3 befugt, die Akten einzusehen und unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen, soweit der Untersuchungszweck auch in einem anderen Strafverfahren nicht gefährdet werden kann und überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. Werden die Akten nicht elektronisch geführt, können ihm an Stelle der Einsichtnahme in die Akten Kopien aus den Akten bereitgestellt werden.“ Das war nicht immer so, weshalb die zuständigen Richter*innen oft keine Akteneinsicht gewähren. Dann müssen sie auf den aktuellen Wortlaut hingewiesen werden. Der macht klar: Wer kein*e Verteidiger*in hat, kann sich selbst die Akte anschauen und auf Wunsch Kopien bekommen. Auch Abfotografieren sollte in der Regel drin sein. Der Paragraph wird zudem durch ein Urteil des EGMR präzisiert, demzufolge eine sich selbst verteidigende Person nicht benachteiligt werden darf. Diese und mehr Infos zur Verteidigung vor Gericht unter prozesstipps.siehe.website.

Weitere Abseilaktionen über Autobahn als Versammlung durchgeführt
Die Zahl angemeldeter Transpi-Aktionen an Brücken über Autobahnen ist weiter gewachsen. Inzwischen werden die meisten auch genehmigt. Das verschiebt die Rechtslage in eine Richtung, dass Autobahnen als Versammlungsflächen zugänglich sind. Mehr auf autobahn.siehe.website.

Januar
Verkehrswende-Inis schreiben erneut Rechtsgeschichte
Nicht nur mit spektakulären Aktionen von Baumbesetzungen über große Fahrraddemos bis zu Abseilaktionen über Autobahnen haben unabhängige Aktionsgruppen der Verkehrswendedebatte eine spannende Dynamik verliehen, sondern mehrfach auch bemerkenswerte Gerichtsurteile erreicht. So führte eine Verfassungsbeschwerde von Gießener Verkehrswende-Aktiven am 16.4.2020 zur Aufhebung des generellen Versammlungsverbotes, mit dem die Regierenden die Angst vor Corona machtpolitisch ausnutzen wollten. Ein halbes Jahr später klärten über fünfzig Klagen gegen Verbote und Einschränkungen rund um die Besetzung des Dannenröder Waldes viele rechtliche Grundsatzfragen wie das Übernachten oder Küchenstrukturen auf Versammlungsflächen. Der neue Rechtserfolg ist ein Beschluss des Frankfurter Verwaltungsgerichts am 21.1.2022 (Az. 5 L 148/22. F), mit dem die Aktivistis ein Verbot für eine Abseilaktion über der Autobahn A648 kippten. Das Gericht stellte fest, dass solche Aktionen unter den Schutz des Art. 8 Grundgesetz (Versammlungsfreiheit) fallen. Die Überschrift bei Juris: „Abseilen auf Autobahnbrücke im Rahmen einer Demonstration für 30 Minuten zulässig“. In der Folge dieser Entscheidung fanden mehrere solche Aktionen ganz legal statt: 21.1. eben in Frankfurt, am 23.1. in Künzell über der A7, am 30.1. nahe Tribsees über der A20 und am 4.2. über der A103 in Berlin. Als Folge mobilisierte die Autobahn GmbH (Firma im Besitz des Bundes, die Autobahnen baut und betreut) auf Anregung von Hessen mobil (das Pendant in Hessen unter Führung eines grünen Verkehrsministers) gegen die Demos. Ihr Trick: Das Geländer würde ihnen gehören und dürfe nicht angerührt werden. Bei der A14 bei Colbitz verweigerte die Autobahn GmbH sogar der zuständigen und weisungsbefugten Behörde jegliche Zuarbeit. Infoseite zu Aktionen auf, über und gegen Autobahnen: autobahn.siehe.website

Abseilaktionen im Verfassungsschutzbericht
Der aktuelle VS-Bericht von Mecklenburg-Vorpommern erwähnt die bundesweiten Aktionen über Autobahnen: „Dass die linksextremistische Szene auch in Corona-Zeiten nicht handlungsunfähig ist, zeigt eine Aktion vom 27. November 2020. An diesem Tag kam es zu einer Abseilaktion von sechs Personen auf der Autobahn A 20, in der Nähe von Tribsees, die zu einer mehrstündigen Sperrung der Autobahn führte. […] Die Personen […] forderten eine sofortige Verkehrswende und den Schienenausbau in Mecklenburg-Vorpommern sowie ein Ende der Rodungen im Dannenröder Wald in Hessen für den Autobahnbau. Die Aktion steht, ohne sich eindeutig dazu zu bekennen, auffallend in einer Reihe mit mehreren bundesweit durchgeführten Abseilaktionen von Aktionsgruppen am selben Tag.“

Studie zur Videoüberwachung
Florian Kowalik hat seine Promotionsarbeit „Die hoheitliche Videoüberwachung des öffentlichen Raumes zur Kriminalprävention“ als Buch veröffentlicht (2021, Lit-Verlag in Münster, 384 S.). Darin untersucht er sehr umfassend verschiedene kritische Aspekte, angefangen von verfassungsrechtlichen Bedenken der gesetzlichen Grundlagen im Polizeirecht und der Anwendungspraxis bis zu zahlreichen Studien über die Wirkung der Überwachung auf Straftatsprävention und andere Lebensbereiche. Am Ende münden die Darstellungen in kriminalpolitische Empfehlungen. Eine eindeutige Position bezieht der Autor nicht.

Zum Einsatz von Staatstrojanern
Mittlerweile haben in Deutschland alle Geheimdienste (BND, MAD, Verfassungsschutz), die Länderpolizeien und auch das Bundeskriminalamt die Befugnis, Staatstrojaner im Sinne einer sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung oder der Onlinedurchsuchung einzusetzen. Damit wurde die herkömmliche TKÜ, also das Erfassen von Kommunikationsdaten und Inhalten bei Handys erweitert. Der Ermittlungsausschuss Dresden hat versucht, möglichst viel zum Thema Staatstrojaner aus öffentlichen Quellen zusammen zu tragen. Die Ergebnisse sind auf de.indymedia.org/node/170723 zusammengestellt.

Rechtstipp für Aktionen: § 25 StVO als Grundlage für Gehzeuge und mehr
Eine schöne Idee für kleine Aktionen, aber auch als Teil größerer Blockaden: Ein Mensch geht mit einem an Schultergurten befestigten Holzrahmen in Autogröße auf der Straße oder an anderen Orten und zeigt damit, wie viel Platz autofahrende Menschen einnehmen. Machen das mehrere auf verschiedenen Straßen, entsteht ein deutlicher Effekt. Auch in vielen anderen Varianten möglich, zum Beispiel als Nachbau einer Straßenbahn, um für solche zu werben, oder als Motivwagen für andere politische Themen. Der Paragraph 25 StVO „Fußgänger“ im Wortlaut: „Wer zu Fuß geht und Fahrzeuge oder sperrige Gegenstände mitführt, muss die Fahrbahn benutzen, wenn auf dem Gehweg oder auf dem Seitenstreifen andere zu Fuß Gehende erheblich behindert würden. Benutzen zu Fuß Gehende, die Fahrzeuge mitführen, die Fahrbahn, müssen sie am rechten Fahrbahnrand gehen; vor dem Abbiegen nach links dürfen sie sich nicht links einordnen.“ Mehr auf gehzeug.siehe.website.

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