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Verfasst im November - für Contraste im Januar 2026
Patientenverfügung: Missachtung durch Bundesgerichtshof getadelt
Der Bundesgerichtshof hat wieder einen deutlichen Beschluss zur Wirksamkeit der Patient*innenverfügung gefasst. Erschreckend in dem konkreten Fall war aber zunächst, dass die psychiatrischen Institutionen den Willen der Patientin ebenso missachteten wie Amts- und Landgericht. Es stellt sich die Frage, wie oft hier noch Recht gebrochen und Gewalt gegen Menschen angewendet wird, ohne dass diese den Rechtsweg bis zu den höchsten Gerichtsinstanzen beschreiten müssen. Die meisten Übergriffe laufen im Stillen ab.
Aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7.5.2025 (Az. XII ZB 24/25): „Eine Patientenverfügung iSv § 1827 Abs. 1 Satz 1 BGB steht deshalb der Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme entgegen, wenn die Patientenverfügung wirksam errichtet wurde, eine Regelung zu Zwangsbehandlungen enthält und auch in der konkreten Behandlungssituation Geltung beanspruchen soll (vgl. Senatsbeschluss vom 15. März 2023 - XII ZB 232/21 - FamRZ 2023, 1059 Rn. 15 zu Art. 6 BayMRVG). …
Auf den Antrag der Betroffenen ist entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG durch den Senat auszusprechen, dass die Entscheidungen von Amtsgericht und Landgericht die Betroffene in ihrer durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Integrität und dem vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mitumfassten Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer körperlichen Integrität verletzt haben (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 18 mwN).“

Freispruch für schießwütigen Cop, obwohl (oder eher: weil?) er alles falsch gemacht hatte
„Ein Polizist in Düsseldorf, der einem Mann in den Rücken geschossen hatte, wurde freigesprochen, da das Gericht die Schüsse als nicht verhältnismäßig und nicht gerechtfertigt ansah.“ Dieser Satz zu erneuten Todesschüssen durch die Polizei stammt von der Google-Such-KI und zeigt, dass Handlung und juristische Konsequenz derart widersprüchlich waren, dass die KI das in solchen Fällen übliche Dilemma nicht auflösen konnte. Der Text „Freispruch für Polizisten“ auf RND am 5.6.2025 klärte dann auf: „Das Düsseldorfer Landgericht hatte den Polizisten am Montag freigesprochen. ‚Er hätte die Schüsse nicht abgeben dürfen‘, hatte der Vorsitzende Richter gesagt. Sie seien nicht verhältnismäßig gewesen, weil keine akute Gefahr für Leib und Leben von Menschen bestanden habe. Dennoch sei die Tat nicht strafbar. Der Beamte habe unter dem Eindruck einer hochdynamischen Situation eine Fehleinschätzung getroffen.“

Erneut wird ein Gefängnisdirektor zum Knastgegner
Vor ein paar Jahren veröffentlichte Thomas Galli eine grundlegende Kritik an Gefängnisse. Seine Berichte aus Gefängnissen in Sachsen, das dann folgende Buch und seine Auftritte in den Medien schlugen Wellen, brachten aber keine Veränderungen in die triste Welt des Strafens. Nun liegt ein ähnliches Buch vor, diesmal aus Gefängnissen in Baden-Württemberg. Autor ist Joachim Walter. Unter dem Titel „Die Freiheit nehm‘ ich dir“ sind Berichte aneinandergereiht, verbunden mit kleinen Infotexten zu den rechtlichen Grundlagen des Strafvollzugs. Die konkreten Erfahrungen hätten ihn im Laufe seiner Berufszeit immer mehr überzeugt, dass Gefängnisse grundsätzlich falsch seien – so der Autor. Dabei ist er offensichtlich kein typischer „Linker“, wie seine unangenehm aufs Äußere fixierten Frauenbeschreibungen zeigen. Vielmehr hat die Praxis seine Ablehnung von Strafe und Zwang geprägt. Der Untertitel „Sinn und Unsinn des Strafvollzugs“ des Buches (Westend-Verlag in Neu-Isenburg, 240 S., 22 €) ist neutraler als das Buch selbst.

Abseilen über Autobahnen: Kaum noch Verurteilungen
Als die Aktionsmethode des Abseilens über Autobahnen während der Räumungswochen des besetzten „Danni“ (Bau der A49) häufiger wurde, setzten Polizei und Gerichte auf harte Gegenmaßnahmen: Untersuchungshaft und hohe Verurteilungen. Inzwischen, nachdem Klimabewegung weitgehend und Klimapolitik fast ganz verschwunden sind, legen sich Aufregung und Einschüchterungsauftrag, so dass auch die Gerichte mal genauer auf die Rechtsfragen schauen, zum Beispiel auf die Tatsache, dass die Autobahn formal in 4,70m Höhe endet und die Aktivistis diesen Raum nie berühren. Einen großartiger Artikel über das Aus des Versuchs, die Abseilaktionen zur Landesverkehrsministerkonferenz 2021 zu kriminalisieren, veröffentlichte die taz unter taz.de/Verfahren-gegen-Klimaaktivistinnen/!6107954. Und auch der Kommentar hat es in sich: taz.de/Staatsanwaltschaft-gegen-Klimaaktivismus/!6107955. Infoseite mit Hinweisen auf die Rechtsfragen: autobahn.siehe.website.

Und noch ein Lesetipp: Das Interview „Die Ödnis der Trennungen bei Gefangenen“ über die verfehlte Trennung in politische und soziale Gefangene auf UntergrundBlättle am 22.7.2025.

Verfasst im Oktober - für Contraste im Dezember 2025
Langsam setzt es sich durch: Abseilen über Autobahnen keine Straftat
Es war ein großer Aufschrei, als während der Räumung des besetzten Dannenröder Waldes immer wieder, mitunter sogar in koordinierten, zeitgleichen Aktionen Menschen an Kletterseilen über Autobahnen hingen. In fast allen Fällen stoppte die Polizei den Verkehr und organisierte zusammen mit Politik und Medien die Empörung über die dreisten Versuche, das vierrädrige Heiligtum zu behindern. Doch mit der Zeit dämmerte es immer mehr Jurist*innen, die sich nicht als verlängerter Arm von Konzerninteressen sehen, dass an den Vorwürfen nicht viel dran ist. Nach einer Richtlinie (RAA) endet die Autobahn nämlich in 4,70m Höhe – und die Kletternden hingen immer drüber. Der Staatsanwaltschaft Gießen schwante das schon sehr früh und sie verneinte nach einer Aktion am 6.10.2020 die Strafbarkeit. Andernorts lief der Versuch der Bestrafung noch länger und zunehmend verkrampfter, wie die Taz über das Aus des Versuchs, die Abseil-Aktionen 2021 um Bremen zu kriminalisieren (Bericht und Kommentar). Inzwischen sind in Gießen, Freising, Bremen und anderen Orten die meisten Verfahren eingestellt. Infoseite allgemein: autobahn.siehe.website.

Protestaktionen in forensischer Psychiatrie
Im Mai 2025 kam es zu Auseinandersetzungen in der Forensik in Bedburg-Hau. Laut offiziellen Stellen handelte es sich um eine „Störergruppe“. Verbände der Psychiatrie-Erfahrenen werteten die Vorgänge hingegen als Aufstand von 15 Gefangenen. Es sei das letzte demonstrative Mittel gegen die Unerträglichkeit der psychiatrischen Willkür und Unterdrückung im Maßregelvollzug gewesen: „Die Einsperrung und psychiatrischen Foltermaßnahmen mit Zwangsbehandlung, die Endwürdigung durch Sonder-Strafgesetze, insbesondere § 63, die durch die Gesetz gewordene Behindertenrechtskonvention illegal geworden sind, so dass nicht nur wir, sondern auch die DGSP, WHO und UN die gewaltfrei Psychiatrie fordern, haben zu diesem Aufstand geführt.“ Dass dabei auch ein Brand gelegt wurde, um die Außenwelt darauf aufmerksam zu machen, sei verständlich, und hätte durch die herbeigerufene Feuerwehr zu einem Fernsehbericht geführt.

Wieder mal: Gefängnisdirektor wird zum Knastgegner
Vor ein paar Jahren veröffentlichte Thomas Galli eine grundlegende Kritik an Gefängnisse. Seine Berichte aus Sachsen, sein Buch und Auftritte in den Medien schlugen Wellen, brachten aber kaum Veränderungen in die triste Welt des Strafens. Nun liegt ein ähnliches Buch vor, diesmal aus Gefängnissen in Baden-Württemberg. Autor ist Joachim Walter. Sein „Die Freiheit nehm‘ ich dir“ reiht Berichte aneinander, verbunden mit kleinen Infotexten zum Strafvollzugsrecht. Eigene Erfahrungen hätten den ehemaligen Gefängnisleiter im Laufe seiner Berufszeit immer mehr überzeugt, dass Haftstrafen grundsätzlich falsch seien. Sein Blickwinkel ist dabei offensichtlich nicht typisch „links“, wie seine unangenehm aufs Äußere fixierten Frauenbeschreibungen zeigen. Das Alltägliche hat seine Ablehnung von Strafe und Zwang geprägt. Der Untertitel „Sinn und Unsinn des Strafvollzugs“ des Buches (Westend-Verlag in Neu-Isenburg, 240 S., 22 €) ist neutraler als das Buch selbst.
An die generelle Knastkritik schließt ein Interview an, in dem unter dem Titel „Die Ödnis der Trennungen bei Gefangenen“ die Trennung in politische und soziale Gefangene kritisiert wird (zu finden auf: UntergrundBlättle am 22.7.2025).

Freispruch für schießwütigen Cop, obwohl er alles falsch gemacht hatte
„Ein Polizist in Düsseldorf, der einem Mann in den Rücken geschossen hatte, wurde freigesprochen, da das Gericht die Schüsse als nicht verhältnismäßig und nicht gerechtfertigt ansah.“ Sie fasste die Google-Such-KI einen Text des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) vom 5.6.2025 zusammen. Sie offenbarte damit den offensichtlichen Widerspruch („da“ statt „obwohl“) und das sich wiederholende Dilemma, dass Polizeigewalt von der Justiz gedeckt wird. Was nicht-uniformierten Menschen niemals zugebilligt wird, ist bei Einsatzkräften Alltag: Freispruch, weil sie „unter dem Eindruck einer hochdynamischen Situation eine Fehleinschätzung getroffen“ hätten (RND-Artikel).

Tipp: Elektronische Akteneinsicht
Angeklagte haben das Recht auf Einsicht in ihre Akten, die einem Gerichtsverfahren zugrunde liegen. Sie können diese beim zuständigen Gericht direkt vornehmen oder sich die Akte an das Amtsgericht nahe ihrem Wohnort zuschicken lassen. Ersteres ist garantiertes Recht nach § 147 Absatz 4 der Strafprozessordnung, letzteres aber oftmals auch möglich. Ein weiterer Weg ist die elektronische Akteneinsicht in Gerichtsakten per Internet. Dazu bedarf es eines Antrags an das Gericht oder die Staatsanwaltschaft, zum Beispiel per Post oder MeinJustizpostfach. Dann werden einmalige Zugangsdaten oder eine SAFE-ID zugeschickt, mit der ein Zugriff auf die Akte online möglich ist. Genauer beschrieben ist das Verfahren auf der offiziellen Regierungsseite www.akteneinsichtsportal.de.

Verfasst im August - für Contraste im Oktober 2025
Kriegsdienstverweigerungsrecht vom Bundesgerichtshof in Frage gestellt
Der naive Glaube, das Grundgesetz würde unabänderlich die zentralen Menschenrechte sichern, ist nicht nur durch skandalöse Praxen auf Polizeiwachen, in Psychiatrien und Gefängnissen oder an den europäischen Außengrenzen vielmals widerlegt. Auch Gerichte und Politik pfeifen auf die Verfassung. Dass Artikel 1 und 20 unabänderlich gelten, hat die Würde der Menschen nicht vor der Änderung des Asylrechts geschützt. Artikel 20 wurde sogar direkt geändert. Nun hat der Bundesgerichtshof die Axt an das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 GG) gelegt. Es würde nicht gelten, wenn sich ein Land verteidigen müsse. Zitat: „Soweit der Verteidigungsfall mit einer Gefährdungslage nicht nur für die Landesverteidigung, sondern für die Grundrechtsverwirklichung eines jeden einhergeht, gilt dies indes ebenso für Schutzgehalte, die Art. 4 GG für zur Landesverteidigung berufene Wehrpflichtige gewährleistet. Daher erscheint es auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht von vornherein undenkbar, dass Wehrpflichtige in außerordentlicher Lage zusätzlichen Einschränkungen unterliegen und in letzter Konsequenz sogar gehindert sein könnten, den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern.“ (Az. 4 ARs 11/24 von 16.1.2025)

Musteranträge für Strafverfahren
Seit Jahren sammeln Selbst- und Laienverteidiger*innen aus dem aktivistischen Spektrum ihre vor Strafgerichten einsetzbaren Anträge im Internet. Die Seiten sind jetzt um viele Texte erweitert und neu sortiert worden. Zu finden unter musterantraege.siehe.website. Ergänzungen sind gern gesehen.

Neuerung bei Strafanträgen kann die Zahl der Verurteilungen erhöhen
Seit dem 17.7.2024 gilt eine Änderung des § 158 StPO, die für absolute Antragsdelikte wie Hausfriedensbruch relevant werden könnte, bei dem es in der Vergangenheit gelegentlich an wirksamen Strafanträgen gefehlt hat. Früher hieß es in § 158 Abs. 2 StPO: "Bei Straftaten, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, muß der Antrag bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll, bei einer anderen Behörde schriftlich angebracht werden." Schriftlich bedeutet unterschrieben. Daran mangelte es oft. Eine Unterschrift ist nun nicht mehr erforderlich, eine eMail reicht. Neue Fassung: „Bei Straftaten, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, müssen die Identität und der Verfolgungswille der antragstellenden Person sichergestellt sein.“

Klage gegen RWE
Das Oberlandesgericht Hamm hat die sogenannte „Klimaklage“ des peruanischen Bergführers Saúl Luciano Lliuya gegen RWE abgewiesen. Die Reaktionen auf das Urteil fielen allerdings ausgesprochen widersprüchlich aus. Das liegt daran, dass das Gerichts einerseits feststellte, der Kläger könne durchaus einen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch gegenüber Konzernen haben, die den Klimawandeln befeuern. Andererseits sah es aber eine konkrete Gefahr für Lliuyas Grundstück nicht als erwiesen an. Erst zukünftige Verfahren werden zeigen, ob sich die grundsätzliche Anerkennung von Abwehrrechten einzelner Betroffener gegen Umweltgefährder zivilrechtlich konkretisieren lassen. Bewertungen als „Meilenstein“ (Anwältin Roda Verheyen) oder „Präzedenzfall mit Signalwirkung“ (Solar-Förderverein) dürften daher verfrüht und eher aus der verbreiteten, naiven Sichtweise auf die Rolle der Justiz in Machtgefüge von Staat und Kapitalismus gespeist sein (mehr auf de.wikipedia.org/wiki/Lliuya_gegen_RWE).
Für einen präzisen Einblick in die Rechtsfragen sei der 2025 im Nomos-Verlag (Baden-Baden) erschienene Kommentar „Klimaschutzrecht“ (899 S., 149 €) von Charlotte Kreuter-Kirchhof und Sabine Schlacke empfohlen. Behandelt werden das Klimaschutzgesetz (KSG) sowie die EU- und nationalen Normen zum Zertifikatehandel. Die Kommentierungen und Quellensammlungen sind sehr umfangreich, so dass sie trotz des eher kurzen Umfangs der Gesetze ein dickes Buch füllen. Es entstand unter Mitwirkung etlicher weiter Jurawissenschaftler*innen.

Kein Grundrecht aufs Autofahren!?
Endlich hat auch mal ein Gericht festgestellt, was immer klar war: Es gibt kein Grundrecht aufs Autofahren. In unzähligen Urteilen und Beschlüssen führten Verfahren bislang zu einem anderen Ergebnis. Versammlungsverbote oder –verlegungen auf Fuß- und Radwege, Strafverfahren nach Straßenblockaden und Verbote für verkehrsberuhigende Maßnahmen wurden immer wieder mit dem Artikel 2 des Grundgesetzes, der allgemeinen Handlungsfreiheit, begründet. Für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen, kleine Kinder oder Menschen im Rollstuhl galt dieser Paragraph seltsamerweise nie. Mit der Bevorzugung der durchsetzungsstärksten Vehikel könnte jetzt Schluss sein, denn das Berliner Verfassungsgericht stellte im Zusammenhang mit dem Volksbegehren zur autofreien Innenstadt fest, dass es weder ein Grundrecht aufs Autofahren gibt noch das Recht, jeden Punkt in der Stadt mit dem eigenen Pkw zu erreichen (Bericht in der taz am 26.6.2025 unter archive.ph/9VmNI, mehr Infos auf autovorrang.siehe.website).

Verfasst im Mai - für Contraste im Juli 2025
EGMR: Plastikfolie im Gesicht bei Versammlung keine Straftat
Ein Demonstrant trug ein Plastikvisier vor dem Gesicht und wurde deshalb wegen Verstößen gegen das Schutzwaffenverbot verurteilt. Das verletze seine Versammlungsfreiheit, urteilte jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Darüber berichtete Legal Tribune online: „Bei der Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Demonstranten müssten die Gerichte die Versammlungsfreiheit berücksichtigen und entscheiden, ob eine strafrechtliche Verurteilung verhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, so der EGMR. Das sei hier nicht der Fall gewesen. Die nationalen Gerichte hätten zwar die Meinungsfreiheit berücksichtigt, aber die Versammlungsfreiheit nicht mit dem verfolgten Ziel, nämlich der Verhinderung von Unruhen und Gewalt, abgewogen. Zudem hätten sie nicht dargelegt, warum das Tragen eines behelfsmäßigen Visiers eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit gewesen sein soll.“ Der Anwalt des Betroffenen resümierte: „Mit diesem Urteil wird klargestellt: Schutz gegen Polizeiwillkür ist ein Menschenrecht.“ ++ Quelle und genauer Bericht

Reportage zeigt Gewalt in Psychiatrien
Eine RTL-Undercover-Reportage aus dem Buttlarhof bei Kassel deckt gravierende Missstände in der psychiatrischen Pflege auf: Ein junger Mann mit Autismus wird stundenlang fixiert und sogar geohrfeigt. Überforderte, ungeschulte Pflegekräfte und fehlende Unterbringungsplätze verschärfen die Lage weiter (youtu.be/hLiBCC70IeA). Das gezeigte Einzelbeispiel steht laut Auskunft von Psychiatrie-Erfahrenen exemplarisch für weit verbreitete Defizite. Eine Sammlung von Fällen findet sich unter anti-zwangspsychiatrie.siehe.website.

Zweimal keine Strafe für Autobahn- und Straßenblockaden
Offensive Verteidigungsstrategien machten es möglich: Weder die klassische Anklebeaktion der Letzten Generation auf der Konrad-Adenauer-Brücke in Gießen noch die spektakuläre Autobahnabseilaktion über der A9 zum IAA-Auftakt 2021 mit Überkleben der großen Verkehrsschilder wird zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. In beiden Verfahren haben Angeklagte, Laienverteidiger*innen sowie im ersten Fall auch Anwälte die Anklagepunkte haarklein zerlegt, was am Ende zu Einstellungen ohne weitere Auflagen führte. Merkmal beider Aktionen war, dass sie deutliche, auf den konkreten Ort bezogene Forderungen benannten, die hohe Außenwirkung entfalteten. Der Meinungsbildungscharakter überwog die Blockade. Das war in Gießen auch Folge der Beteiligung örtlicher Verkehrswendeaktiver. Beispiel für einen Bericht des ersten Prozesstages in Freising (A9-Aktion)

Tipp: Selbstladeverfahren in Strafprozessen
Zweimal haben Menschen in Gerichtsverfahren gegen sie erfolgreich das sogenannte Selbstladeverfahren angewendet. Danach ist es möglich, für einen Gerichtstermin Menschen (z.B. Prominente) zu laden, die vermutlich nicht kommen wollen und die auch das Gericht schonen würde. Einmal betraf es den VW-Monarchen Wolfgang Porsche, ein anderes Mal verschiedene Politiker in Heidelberg und Heidelberg Materials CEO Dominik von Achten. Um die Ladung zu vermeiden, zogen Gericht bzw. die Konzern-Anwält*innen die Notbremse – und die Prozesse wurden abgesagt. Hier aus der Feder eines Beteiligten eine kleine Anleitung (leicht überarbeitet): ihr solltet mindestens 2 Wochen Vorlauf haben, besser 4 oder mehr, weil den Gerichten und Hinterlegungsstellen dieser Vorgang wenig geläufig ist. Ihr füllt das Hinterlegungsformular am Amtsgericht eurer Wahl aus (dort erfahren oder auf deren Internetseiten zu finden). Dann müsst Ihr die möglichen Kosten hinterlegen (also Aufwandsentschädigung für die von euch geladenen Zeug*innen), 100-300 Euro bei Menschen mit hohem Stundenlohn ist ein Vorschlag. Zur Sicherheit müsst Ihr noch euch oder eine zweite Person mit angeben, damit das Geld auch bei euch wieder ankommt, falls es nicht zum Prozess kommt oder die Zeug*innen die Ladung ablehnen. Schreibt dem Gericht (eurer Richterperson und Hinterlegungsstelle) noch, wofür das Geld ist und warum die Person geladen werden soll. Holt euch eine Bestätigung mit Zahlungsaufforderung, überweist dann oder zahlt es in bar ein. Dann kriegt ihr die Bestätigung („Hinterlegung_zahlungsbeleg_geschwärzt“). Schreibt nun eine Ladung für die Person, die ihr laden wollt – einfach so, wie gerichtliche Ladungen auch aussehen. Aber nicht an die Person schicken, sondern die Ladung mit physischer Unterschrift, originaler Zahlungsbeleg und, wenn ihr wollt noch ein Anschreiben, an den/die Gerichtsvollzieher*in, welche*r für die Adresse von des/r Zeug*in zuständig ist. ++ Rechtliche Tipps zum Selbstladeverfahren

Verfasst im März - für Contraste im Mai 2025
A Better Place – lohnenswert, auch wegen der Fehler
Der WDR hat eine Serie produziert, die das Schauen lohnt. In der fiktiven Rheinstadt startet das Experiment „Trust“, bei dem alle Gefangenen eine Haftanstalt entlassen, aber so unterstützt werden, dass ihnen Wohnung, Arbeit bzw. Ausbildung und therapeutische Hilfe sicher sind. Das Experiment geht schief (im Film), aber es zeigt vieles realistisch: Die Hürden, auf denen Haftentlassene stoßen, nur heute meist allein, einsam und verloren. Die Stigmatisierung in der Gesellschaft. Die Politik, die ihre Fahne in den Wind hängt. Und der anschwellende Rachemob, den es oft schon auf den Zuschauer*innenbänken in Gerichtssälen sowie ständig in den Medien gibt. Einige Male hat er sich schon so drastisch entwickelt wie im Film, zum Beispiel im kleinen Dorf Insel bei Stendal – nur dass dort der CDU-Bürgermeister am Mob mitwirkte. Nicht falsch, aber deutlich übertrieben und damit nicht mehr überzeugend werden die Bevölkerung und das Spektrum der Haftentlassenen dargestellt. Das seien ja keine Schwarzfahrer, schimpft ein aufgebrachter Bürger. Tatsächlich stellen aber Nicht-Gewaltdelikte die große Mehrzahl der Inhaftierten. Im Film gibt es sie gar nicht, so dass die Serie eher ein Beitrag zur Angstmache ist, dass Gefangene ganz böse Menschen sind oder zumindest waren. Was ebenfalls fehlt: Die Kriminalität all derer, die für Strafe und Ordnung eintreten, aber nicht im Knast landen – vom Gehwegparken bis zu Übergriffen im Familienkreis. Komplett falsch ist das seltsame Ergebnis, dass fast alle Entlassenen in ihrem sozialen Umfeld wieder klarkommen. Das ist in der Realität ganz anders und eines der größten Problem von Haftstrafen. Die Eingesperrten werden aus ihren Kontexten gerissen und verlieren ihre Motivation, sich auf das Leben draußen vorzubereiten.
Trotzdem: Gucken lohnt – und streiten über solche Ideen, die utopisch wirken, aber doch die einzig reale Option sind, aus dem Desaster des Status Quo herauszukommen.

Justiz schützt Staatsmacht: Polizei beschlagnahmt Handy, wenn sie gefilmt wird
Das OLG Zweibrücken hat am 30.06.2022 (Az. 2 Ss 62/21) entschieden: Wird mit einem Mobiltelefon eine Audioaufnahme von einer Polizeikontrolle angefertigt, so begründet dies den Anfangsverdacht für eine Strafbarkeit wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gemäß § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Die Polizei ist in einem solchen Fall berechtigt, das Mobiltelefon zu beschlagnahmen (urteile.news/Beschluss34805).

Vorwurf der kriminellen Vereinigung macht Einzelanklagen unmöglich
Der Bundesgerichtshof hat eine frühere Rechtsprechung verändert und nun festgelegt: „Der Tatbestand der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung verbindet grundsätzlich alle von dem Mitglied in deren Interesse ausgeführten Handlungen zu einer einzigen Tat im sachlich-rechtlichen Sinne. Weitere hierdurch verwirklichte Tatbestände werden zu Tateinheit verklammert.“ (Beschluss 3 StR 189/24 vom 14.11.2024) Damit dürften Einzelanklagen gegen Aktive der Letzten Generation eigentlich nicht mehr zugelassen werden, da diese aktuell als kriminelle Vereinigung verfolgt wird. Allerdings hat sich zum Beispiel das Amtsgericht Bad Cannstatt daran nicht gehalten.

Buchvorstellung: „JGG Jugendgerichtsgesetz“
Der NomosHandkommentar, so der Reihentitel des Werkes von Bernd-Dieter Meier u.a, ist fast 1000 Seiten stark und 2024 erschienen (Nomos in Baden-Baden, 119 €). Er beinhaltet eine sehr ausführliche Darstellung der einzelnen Paragraphen und ihrer bisherigen Auslegung in Urteilen, Beschlüssen und juristischen Fachaufsätzen. Abgehandelt werden die verschiedenen Verfahrensabläufe von Ermittlungs- und Hauptverfahren sowie Jugendstrafvollzug unter Beachtung der relevanten Rechtsgebiete wie StPO, GVG, SGB VIII und Jugendstrafvollzugsrecht. Die zum 100jährigen Jubiläum des JGG erschienene 3. Auflage gehört zu den leuchtend roten Kommentaren des Nomos-Verlages, die in etwas einfacherer Sprache daherkommen als „Kollegen“ anderer Verlage. Sie werden vor Gerichten so gut wie nie genutzt, können aber für alle, die nicht auf das jeweilige Rechtsgebiet spezialisiert sind, gerade deshalb sehr wertvoll sein. Das umfangreiche Stichwortverzeichnis erleichtert das Auffinden der relevanten Stellen.

Versammlungsrecht
Das Verwaltungsgericht Dresden hat in einem Beschluss vom 12.3.2025 nochmals klargestellt, was immer schon galt, aber oft von Polizei oder Versammlungsbehörden missachtet, auch von politisch Aktiven selbst mitunter falsch eingeschätzt wird: „Für das Vorliegen einer Versammlung kommt es nicht maßgeblich darauf an, ob auch als solche angezeigt wurde. Vielmehr bemisst sich dies nach den tatsächlichen Umständen und dem entsprechenden Charakter einer Zusammenkunft. Dabei ist es auch unerheblich, dass der Kläger auf die Frage der handelnden Polizeibeamten vor Ort, ob es sich bei der Aktion um eine Versammlung handele, nicht reagiert hat.“ (6 K 2291/22)

Verfasst im Januar - für Contraste im März 2025
Mehrere Entwicklungen im Strafrechtsbereich lassen Schlimmes befürchten. So werden politisch Aktive mit immer höheren Strafen bedroht, in dem Strafnormen ausgeweitet oder bislang für schwere Verbrechen gedachte Paragraphen angewendet werden. Gleichzeitig werden Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt, begleitet davon, dass Richter*innen in Urteilen oder auf andere Weise Protest öffentlich delegitimieren oder diffamieren.

Waldbesetzung als kriminelle Vereinigung?
Im Dezember 2024 wurde in Freiburg die juristische Keule der kriminellen Vereinigung gegen Baumbesetzer*innen angewendet. Zunächst erfolgte das zwar „nur“ auf Ebene der Ermittlungen, verschafft diesen aber umfangreiche Überwachungs- und Durchsuchungsmöglichkeiten. Vor allem besteht die Gefahr massiver Einschüchterung, denn bei diesem Vorwurf können auch Unterstützer*innen, die nicht selbst Aktionen durchführen, in den Fokus von Repression gelangen. Mehr hier ...

Kampf gegen die Laienverteidigung geht weiter
Das Oberlandesgericht Frankfurt hat die Entscheidung des Landgerichts Frankfurt in einem Verfahren gegen Verkehrswende-Aktivist*innen bestätigt, gleichzeitig allen sieben Verteidiger*innen ihre Zulassung nach § 138 Abs. 2 der Strafprozessordnung (sog. „Laienverteidigung“) zu entziehen. Die sieben Verteidiger*innen waren in der ersten Instanz dabei und hatten keinen Anlass zu Kritik geboten. Das Landgericht, welches bislang nicht beteiligt war, warf trotzdem alle sieben in einem gemeinsamen Beschluss und ohne konkrete Begründung aus dem Verfahren. Weder die Verteidiger*innen noch die Angeklagten waren dazu vorher angehört worden (Grundrechtsverstoß). Das OLG hat diese Willkür nun als rechtmäßig bezeichnet und dabei offen zugegeben, damit der bisher gelten Rechtsprechung zu widersprechen und durch den abweichenden Beschluss diese verändern zu wollen (3 Ws 473/24). Ein klarer Fall von Kompetenzüberschreitung und Amtsanmaßung.

Klassenjustiz bei Verleumdungsdelikten
Das ist mal ungewöhnlich eindeutig: Der (damals) für Versammlungs- und Verkehrsplanungssachen zuständige höchste Richter Hessens (Vorsitzender Richter im zuständigen Senat des Verwaltungsgerichtshofs), Harald Wack, zugleich aktiver FDP-Politiker, hatte 2023 zuerst Fahrradstraßen in Gießen per Gerichtsbeschluss verboten, danach auch eine Demo gegen sein Verbot der Verkehrswende. In einem Vortrag begründet er nun die Beschränkung der Versammlungsfreiheit damit, dass es sich bei den Demonstrierenden (vor allem Aktive von Fridays for Future) um „Politchaoten“ handele, denen es nicht um Klimaschutz gehe, sondern um die Zerstörung der herrschenden Ordnung. Die Aussage erfolgte in einer öffentlichen Versammlung vor der Presse, hochrangigen Politiker*innen und dem Landesjustizminister, was eine Strafverschärfung der Verleumdung bedeuten würde. Nach Strafanzeigen durch Betroffene bezeichnete der Richter seine Aussage als „neutral“, während die Staatsanwaltschaft Gießen ein Ermittlungsverfahren verweigert. Sie könne in den Formulierungen keine Schmähkritik oder falsche Tatsachenbehauptung erkennen. Die Worte wurden unter anderem in eine Sorge des Richters umgedeutet, dass wie die damals verbotene Mahnwache dem Klimaschutz schaden könnte. Bemerkenswert anders behandelt die Justiz Fälle, bei denen Angehörige gesellschaftlicher Oberschichten kritisiert werden. So führte die Bezeichnung „Protofaschist“ für den Bautzener Bürgermeister, von dessen ausländerfeindlichen Sprüchen sich selbst seine eigene Parteispitze distanzierte, zur Anklage. Der Vorwurf des Millionenbetrug gegen die VW-Führung steht aktuell in Dortmund vor Gericht.

Am Ende entscheidet das Bundesverfassungsgericht
In den beschriebenen Fällen sind Grundrechte betroffen, vor allem die Versammlungs- (Art. 8) und die Meinungsfreiheit (Art. 5). Ob die Beteiligten Verfassungsbeschwerden einreichen werden, ist offen. Damit diese erfolgreich sein können, ist die Einhaltung einiger Formvorschriften und Fristen wichtig. Zudem nützt das Verständnis, nach welchen Kriterien dieses höchste deutsche Gericht seine Entscheidungen trifft. Der Anwalt Christofer Lenz und der Richter Ronald Hansel haben einen 936 Seiten starken Kommentar zum „Bundesverfassungsgerichtsgesetz“ (2024, Nomos in Baden-Baden) verfasst, der in der vierten Auflage haargenau erklärt, wie das Bundesverfassungsgericht arbeitet, für was es zuständig ist, wie Verfassungsbeschwerden aussehen und dann abgearbeitet werden müssen. Wer eine Beschwerde einlegen will, findet konkrete Hilfestellungen, um die Erfolgsaussichten zu prüfen. Der Kommentar vermittelt zudem einen guten Überblick über bisherige Entscheidungen. Das wird kaum verhindern können, dass auch zukünftig die Mehrzahl der Verfassungsbeschwerden nicht angenommen wird und die Kriterien dafür meist unklar bleiben. Wenn es um die Macht von Richter*innen geht, ist das Verfassungsgericht meist auf deren Seite, während es bei Versammlungsfragen die Grundrechte gegenüber Einschränkungen durch Behörden oft stärkt.

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