Kopfentlastung

ZWANGSREGIME DER PSYCHIATRIE
EINSPERREN, FIXIEREN, ZWANGS"THERAPIE"

Was ist Krankheit?


1. Einleitung und allgemeine Kritik
2. Unsere Sofortforderungen und weitere Aufrufe gegen Zwang und Willkür
3. Wahlrechtsentzug
4. Einblicke
5. Was ist Krankheit?
6. Freiheit ist besser
7. Geschichte
8. Kritik
9. Links
10. Buchvorstellungen zum Themenbereich

Beispiel Burnout ... gesellschaftliche Probleme in Diagnosen gegossen
Aus Martina Leibovici-Mühlberger (2013, edition a in Wien); "Die Burnout-Lüge" (Klappentext)
Burnout macht uns deutlich, dass wir als Gesellschaft in Wirklichkeit keine Wahl mehr haben. Wir haben die Kontrolle und Reglementierung der Lebendigkeit auf Basis eines mechanistischen, reduktionistischen Weltbilds, das wir über die angebliche grundsätzliche Gefährlichkeit des Menschen rechtfertigen, auf die Spitze getrieben und knallen damit gerade gegen die Wand. Wir sind zu 100 Prozent kontrollierbar, verwaltet, verbeamtet, verreguliert, aber wir sind nicht mehr lebendig. Das, was Leben ausmacht, das Dynamische, Unvorhergesehene, Herausfordernde, das Bewährung und Anpassung und kreative Lösung fordert, ist wegrationalisiert. Doch genau das ist das Grundgesetz der Evolution. Wenn wir uns dem widersetzen, so rationalisiert die Evolution UNS weg. Der Burnout Protagonist ist die Speerspitze dieser Warnung.
Burnout-Patienten dürfen nicht weiter Bauernopfer sein, hinter denen sich eine fehlgeleitete Gesellschaft versteckt. Zuerst verleugnen wir sie, dann schenken wir ihnen unser Bedauern, schicken sie auf Rehabilitation oder in gesellschaftliche Hinterhöfe. Aber noch verschließen wir unsere Ohren mit Wachspfropfen vor der Warnung, die uns immer mehr Menschen mit ihrem persönlichen Untergang entgegenbrüllen: Ihr seid die Burnout-Gesellschaft.


Beispiel Querulanz
Von Prof. Joachim HELLMER (ehemaliger Professor für Strafrecht und Direktor des Kriminologischen Instituts an der Uni Kiel) stammt folgender Aufsatz:
Es gibt eine ausgedehnte Praxis, „Querulanten“ und andere unliebsame Personen mit Hilfe der ärztlichen Sachverständigen mundtot zu machen. Berühmt-berüchtigt sind zum Beispiel die Zwangspensionierungen von Beamten, die dem Staat – aus berechtigten oder unberechtigten Gründen – unbequem, vielleicht sogar (wegen des behördeninternen Wissens) gefährlich geworden sind. Gehen diese gegen ihre Entlassung gerichtlich vor, was ihr gutes Recht ist, rettet sich der Staat vor einer Nachprüfung seiner Entscheidung nicht selten durch Einschaltung eines ärztlichen Gutachters, der entweder Dienstunfähigkeit attestiert oder gar Querulantenwahn diagnostiziert wobei schon Aberkennung der Prozessfähigkeit genügt um den Beamten unschädlich zu machen. Es muss ihm dann ein Pfleger (nach heutigem Recht ein Betreuer) bestellt werden der von sich aus entscheidet ob die Klage erhoben oder nicht weiter verfolgt wird.
Vielleicht widerspricht schon das leicht zerbrechliche Institut der Prozessfähigkeit dem Grundsatz von der Würde des Menschen und der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Das eigentliche Übel liegt aber in der Unkontrollierbarkeit und jedem Missbrauch zugänglichen Aussage des Sachverständigen. Hier werden unter dem Anschein objektiver Tatsachen oft reine Meinungen geäußert, die zudem noch in der Regel höchst umstritten und beliebig manipulierbar sind. Am gefährlichsten ist die immer wieder auftauchende Bezeichnung „Querulant“ (oft in Verbindung mit „progressivem Wahn“ oder „Psychopathie“, um dem Meinungsurteil einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen).
Querulanz ist weder eine Geisteskrankheit noch ein die Geschäfts-, Prozess- oder Zurechnungsfähigkeit berührender Zustand, sondern die hartnäckige Kritik und furchtloser Widerspruch gegen irgendwelche Zu- oder Missstände, meistens besonders intelligenter und sensibler Menschen, gewiss oft überzogen und eskalierend bis zum Exzess. „Querulant“ war z.B. Michael KOHLHAAS, „Querulanten“ waren aber auch LUTHER, VOLTAIRE, GALILEI und Giordano BRUNO, Fritz REUTER, Heinrich MANN. „Querulanten“ sind Martin NIEMÖLLER, SACHAROW und SOLCHENIZYN. Wenn es keine Querulanten gäbe, wäre die Welt ärmer. Das weiß auch unser Staat, der Querulantentum allgemein gewähren lässt, vor allem aber die vielen kleinen, Behörden und Justiz arg belästigenden Querulanten. Nur wenn gegen den Staat selber geklagt wird, wenn seine eigenen Entscheidungen, seine eigene Praxis überprüft werden sollen, dann ist seine Liberalität, sein Rechtsstaatsverständnis zu Ende, dann entpuppt er sich plötzlich als legitimer Nachfolger jenes preußischen Staates, in dem Querulantentum unter Strafe stand (Preußische Gerichtsordnung von 1795).
Der Begriff „Querulanz“ sollte aus dem Vokabular der Sachverständigen ein für alle Male gestrichen werden. Wo dieser Begriff in einem Gutachten vorkommt, sollte man gleich wissen, dass gegen den Beurteilten nichts Fundiertes vorzubringen ist, dass kein wirklich krankhafter Befund vorliegt, geschweige denn eine Geisteskrankheit, sondern eine gesunde, aber unbequeme Person zum Schweigen gebracht, statt Freiheits- oder Geldstrafe eine „Äußerungsstrafe“ verhängt werden soll.


Beispiel "Schizophrenie"
Aus einem Interview mit Thomas Szasz“ in: The New Physician, 1969
Schizophrenie ist ein strategisches Etikett, wie es „Jude“ in Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung.
Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für „Müll“; sie bedeuten „nimm ihn weg“, „schaff ihn mir aus den Augen“, etc. Dies bedeutete das Wort „Jude“ in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete „Ungeziefer“, „vergas es“. Ich fürchte, dass „schizophren“ und „sozial kranke Persönlichkeit“ und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten „menschlicher Abfall“, „nimm ihn weg“, „schaff ihn mir aus den Augen“.

Das berühmte Zitat wurde in Großbritannien von Professor Richard Bentall von der University of Manchester bei einer Pressekonferenz am 9.10.2006 wissenschaftlich bestätigt: „Schizophrenie sollte als Konzept abgeschafft werden, weil es unwissenschaftlich und nur stigmatisierend ist. Wenn einmal die Diagnose Schizophrenie gegeben wurde, ist die Person als ein unheilbarer sozialer Störer gebrandmarkt“, kurz gesagt ein „Parasit“.
  • Weg mit dem Etikett »Schizophrenie« - dafür plädiert auch Jim van Os, einer der bekanntesten Psychiater in den Niederlanden, berichtet das Wissenschaftsmagazin "Spektrum"

Über den schmales Grat zwischen Genie* und Wahnsinn* am Beispiel van Gogh, in: Deutsches Ärzteblatt 16/2009
*beides sind gesellschaftliche Definition aus der Blickwinkel des "Normalen"
Zahlreiche Spekulationen ranken sich um seine Krankheitsgeschichte, die im dritten Lebensjahrzehnt einsetzte: Von Epilepsie über Schizophrenie bis zur Menière-Erkrankung, von der bipolaren Störung über eine Angst-Glücks-Psychose bis hin zur Syphilis stellten Ärzte und Psychologen zu Lebzeiten und posthum verschiedenste Diagnosen.

  • Kate Millett: Psychische Krankheit – ein Phantom (aus: Peter Lehmann / Peter Stastny (Hg.): “Statt Psychiatrie 2“, Berlin / Eugene / Shrewsbury: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2007, S. 26-36)

Im Original: Umweltkrankheiten als Schwachsinn umwerten
Aus Rudolf Stratmann, "Umweltkrankheiten sind keine psychiatrischen Erkrankungen"
30 Jahre Gutachten in Sachen Umwelt führen zu der Erkenntnis, dass wir wissenschaftlich nachvollziehen können, warum es so viel Umweltkranke gibt. Die notwendigen Grundkenntnisse existieren seit den 80er Jahren. Das weiß aber keiner, denn es wird alles getan, dass dieser Stand der Wissenschaft rechtlich unwirksam bleibt. D. h. die Opfer werden nicht als Vergifte anerkannt, sondern als Psycho diskriminiert. Es ist schon vorgekommen, dass schwer Vergiftete in die Geschlossene zwangseingewiesen wurden.

Krankheit wird gemacht - Zwang nicht nur unnötig, sondern schädlich
Aus "Wie Vieh behandelt": Rede gegen die Wiederlegalisierung von Zwangsbehandlungen am 3.4.3014 beim Verein Brücke Lübeck (Von Matthias Schuldt)
Als 1855 Bernhard von Gudden, der spätere Leibarzt des bayerischen König Ludwig II, neuer Direktor der Irrenanstalt Werneck wurde, sorgte er sofort für fortschriftliche Veränderungen. Er verzichtete auf alle psychiatrischen Zwangsmaßnahmen. Fixierungen und Isolierungen wurden abgeschafft.
Aber viele seiner Patienten litten unter einem scheinbar unerklärlichen Ohrenblutgeschwulst. Doch auch das beendete von Gudden. Er verbot dem Pflegepersonal das Ohrenziehen.


taz-Interview am 18.7.2015 mit dem Freiburger Hirnforscher Joachim Bauer.
Unter dem Titel "Wie Placebos das Hirn von Patienten verändern" hat der Turiner Neurologe Fabrizio Benedetti eine spektakuläre Studie mit Parkinson-Patienten veröffentlicht. Sie waren zuvor an einen Apparat angeschlossen worden, der durch Nervenreizung die Ausschüttung von Dopamin anregte, um ihre Symptome zu lindern. Wenn man ihnen sagte, dass der Apparat abgestellt sei, obwohl er weiterlief, dann verstärkten sich ihre Symptome wieder. Wenn man umgekehrt sagte, er laufe weiter, obwohl er abgestellt war, verbesserte sich ihr Zustand.

Was heißt das für das Gesundheitssystem?
Der Mensch ist die stärkste Droge für andere Menschen – durch Wörter, Blicke, Körpersprache. Mediziner sollten immer den inneren Arzt des Patienten ansprechen, seine Selbstheilungskräfte. Paramedizinische Heiler machen auch nichts anderes. Schamanen versprechen Kranken: Ich kann einen Prozess organisieren, der dir hilft. Vertraue mir als mächtige Figur. Wir hier machen das nicht mit Straußenfedern, sondern mit weißem Kittel und goldenem Füller. Es gibt also keinen Grund, Schamanen zu verurteilen. Kranke sind bedürftig, sie sollten die beste psychologische Betreuung in Kombination mit guten Apparaten bekommen.


  • Marc Rufer: Traumatisierung in der Psychiatrie (Überarbeitete Fassung des Vortrags "Ordnungsmacht Psychiatrie", den Marc Rufer am 10. September 2005 an der Tagung des BPE in Kassel hielt)

Im Original: Was definiert die Psychiatrie als Krankheit?
Aus Volker Dittmann, "'Psychische Störung' im Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) und im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 - Versuch einer Klärung", in: in Nedopil, N. (Hrsg.), "Die Psychiatrie und das Recht - Abgrenzung und Brückenschlag", Pabst Science Publishers, Lengerich 2011
In der Psychiatrie war und ist die Definition der Begriffe "Krankheit" und "psychische Störung" Gegenstand kontroverser Diskussionen. Trotz zahlreicher Definitionsversuche existieren auch heute noch ganz unterschiedliche, z.T. widersprüchliche Konzepte, was eine einfache Zuordnung eines Menschen zu einer bestimmten juristischen Kategorie erschwert. ...
Krank und damit auch für Straftaten nicht zur Verantwortung zu ziehen oder (nur) kriminell und damit schuldfähig dieser klassische Gegensatz von "mad" und"bad" charakterisiert die Pole, zwischen denen sich die forensische Psychiatrie und ihre Vertreter in dem Grenzland von Psychiatrie und Recht bewegen. Wäre es so einfach, dass zwischen gesund und normal auf der einen und abnorm oder krank auf der anderen Seite stets leicht und eindeutig entschieden werden könnte, so bedürfte es der forensischen Psychiatrie als eigenständiger Disziplin wohl kaum. Gerade in der Psychiatrie sind wir jedoch mit kontinuierlichen Obergängen und fließenden Grenzen konfrontiert und die Zuordnung zu klar voneinander abgrenzbaren Kategorien gelingt oft nur scheinbar leicht. Auf der anderen Seite ist die Jurisprudenz als Normwissenschaft auf Gesetze und eindeutige Grenzziehungen angewiesen. ...
einen im forensisch psychiatrischen Zusammenhang besonders beachtenswert:

  • Krankheit als Leiden: Hierbei steht das subjektive Element des Erlebens des Patienten im Vordergrund, der Beschwerden vorbringt. Abgrenzungsprobleme entstehen dadurch, dass einerseits schwerste körperliche Erkrankungen nur zu geringgradigen oder gar keinen subjektiven Beschwerden führen können, während andererseits insbesondere in der Psychiatrie bei eindeutig normabw-eichenden Störungen, wie z. B. bei der Manie, sich die Patienten ungewöhnlich wohl fühlen. Schließlich gibt es, vorwiegend im Bereich der sog. somatoformen Störungen, schwere subjektive Leidenszustände, für die keine somatische medizinische Erklärung gefunden werden kann.
  • Krankheit ist, was Ärzte behandeln: Diese Definition geht auf Kräupl Taylor (1971) zurück, der als zutreffendes Kriterium für Kranksein die dadurch hervorgerufene therapeutische Zuwendung betrachtet. Würden aber Krankheit und subjektive Beschwerden auf diese Art und Weise gleichgesetzt, so könnte schließlich jeder Einzelne selbst darüber entscheiden, ob er krank ist oder nicht. Eine in der forensischen Psychiatrie sicher völlig unbrauchbare Definition.
  • Krankheit als Schädigung: Dieses Modell entstand in der somatischen Medizin mit der zunehmenden Entwicklung der pathologischen Anatomie und der Histologie und wurde von der strukturellen Schädigung dann auch auf Störungen, der Biochemie und Physiologie ausgedehnt. Bestünde man aber auf dem Nachweis einer körperlichen Schädigung auch für psychische Erkrankungen, so ergäben sich hier erhebliche Probleme, da für die Mehrzahl der wichtigsten Störungen noch keine körperlichen oder eindeutigen biochemischen Grundlagen gefunden werden konnten.
  • Krankheit als individuelle Anpassung an Stress: Krankheit wird als Reaktion des ganzen Organismus auf seine gesamte Umgebung angesehen, wobei die Einzigartigkeit des Individuums und seiner Umwelt herausgestellt wird. Diese Definition betont mehr die Unterschiede zwischen den einzelnen kranken Menschen als ihre Gemeinsamkeiten und kann keine Kriterien für eine allgemeine Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit bzw. Nichtkrankheit bieten.
  • Krankheit als Unvollkommenheit: Krankheit und Gesundheit können als bipolare Begriffe angesehen werden, wobei durch Bestimmung des Schweregrades einer Krankheit automatisch auch der Grad der Gesundheit eines Menschen definiert wird. in diesem Sinne implizieren Krankheitsdefinitionen immer auch Gesundheitsdefinitionen. Die weitestgehende Definition findet sich in der Charta der WHO, wonach Gesundheit "ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens" ist. Hierbei handelt es sich eher um eine politische Absichtserklärung als um eine praktikable Abgrenzung, insbesondere im forensisch psychiatrischen Bereich. Dieser Zustand der Vollkommenheit ist für die meisten Menschen zu beinahe keinem Zeitpunkt ihres Lebens erreichbar. Da es einen idealen Zustand vollständiger Normalität nicht gibt, gehört ein gewisser Grad an so definierter "Krankheit" zum Schicksal jedes Menschen. Ähnlich wie die WHO Definition würde dieser Ansatz zu einer weder im medizinisch sozialen Versorgungssystem noch für Zwecke der Rechtspflege sinnvollen und praktikablen Ausweitung des Krankheitsbegriffes führen.
  • Die statistische Krankheitsauffassung: Beruhend auf Erfahrungen der somatischen Medizin können zumindest Symptome einer Krankheit kontinuierlich in die "Normalität" übergehen, wie z.B. Blutdruck oder Körpertemperatur. Mit statistischen Methoden ist es möglich, bei messbaren Größen die Abweichung vom Normalen zu definieren. Aber auch hierbei ergibt sich das Problem der Grenzziehung bzw. der Definition einer Standardabweichung, innerhalb deren Grenzen noch von "Normalität" auszugehen ist.
  • Die komplexe Definition von Scadding (1967, 1972): Er fasst Krankheit auf als "die Summe der abnormen Phänomene, die sich bei einer Gruppe lebender Organismen in Verbindung mit einem spezifischen gemeinsamen Merkmal oder Merkmalssatz zeigen, wodurch diese Organismen von der Norm ihrer Spezies so abweichen, dass sie biologisch benachteiligt sind".
    Dabei findet sich wieder der Bezug auf einen Normbegriff. Sodann wird Krankheit durch ein einzelnes Merkmal (monothetisch) oder durch einen Satz von Merkmalen, von denen aber kein einzelnes unbedingt vorhanden sein muss (polythetisch) definiert. Gerade dieser polythetische Ansatz wird in den moderneren Klassifikationssystemen seit DSM III und ICD 10 berücksichtigt. Zu-sätzlich wird Krankheit als biologische Benachteiligung angesehen, dieser Begriff selbst ist jedoch nur sehr schwer zu fassen. Zu kurz greift sicherlich der bloße Bezug auf die biologische Reproduktionsfähigkeit des Individuums bzw. seiner Gene oder auf die Verkürzung der Lebenserwartung. Auch die Auswirkungen auf die gesamte Gruppe sind zu berücksichtigen. Kendell (1978) führt in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Berücksichtigung sozialer Aspekte psychischer Störungen an und wählt als Beispiel einen draufgängerischen, aggressiven Mann, der in einer Situation als "Psychopath" betrachtet und in einer anderen als Held bewundert werden kann. Der sicher notwendige Gesellschaftsbezug birgt allerdings auch die Gefahr in sich, sozial unerwünschte Verhaltensweisen zu pathologisieren. Dieses Problem besteht besonders bei denjenigen Normabweichungen, die mit dissozialem Verhalten einhergehen, wie z. B. manchen Persönlichkeitsstörungen. Andererseits kann auch, gerade in der forensischen Psychiatrie, nicht auf die Berücksichtigung sozialer Kriterien zur Abgrenzung von Störungseinheiten verzichtet werden.
  • Die komplexe Definition von Häfner (1992): Er definiert Krankheit als "Zustand unwillkürlich gestörter Lebensfunktion eines Individuums, der eine Zeitdimension aufweist Beginn und Verlauf und in der Regel eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit bzw. der Fähigkeit zur Daseinsbewältigung zur Folge hat".
    Hier wird nun deutlich auf die "Störung" als Unterscheidungsmerkmal abgestellt, die nach Häfner in vielen biologischen und psychologischen Dimensionen durch Funktionsausfälle, Grenz oder Schwellenwerte definierbar ist. Außerdem stellt auch er einen Bezug zu sozialen Faktoren wie Leistungsfähigkeit und Fähigkeit zur Daseinsbewältigung her.
  • Krankheit als Handlungsplan: Nach Kendell (1978) besteht diese Art der Definition darin, zu untersuchen, wie der Begriff Krankheit in der Praxis verwendet wird und welche Folgen sich daraus ergeben. Im forensischen Kontext ist besonders wichtig, dass beispielsweise durch die Zuerkennung einer erheblichen psychischen Störung gewisse Verhaltensweisen entschuldigt werden, die sonst Zurechtweisung oder Bestrafung nach sich ziehen würden, und zwar nicht nur unter rein formal strafrechtlichen Gesichtspunkten, sondern auch im Alltagsleben aufgrund der Einstellungen der jeweiligen Gesellschaft. Für juristische Zwecke bedeutete es aber wieder einen nicht akzeptablen Zirkelschluss, wenn Krankheit durch das erwünschte Resultat wie z.B. Schuldunfähigkeit oder Einweisung in den Maßregelvollzug definiert würde. Im Bereich des medizinischen Versorgungssystems kann jedoch eine Abgrenzung von Krankheiten nach Behandlungsbedürftigkeit allenfalls sogar nach Behandlungsfähigkeit durchaus sinnvoll sein.
In seinem Buch „Geisteskrankheit - Ein moderner Mythos?“ fasst Thomas Szasz seine Thesen in einem nachträglich hinzugefügten Nachtrag vom 1.1.1972 wie folgt zusammen (S. 294 f):

Zusammenfassung
Die wichtigsten hier vorgetragenen Argumente und ihre Konsequenzen lassen sich kurz wie folgt summieren:

  1. Genau genommen können Krankheiten nur den Körper affizieren; daher kann es keine Geisteskrankheit geben.
  2. "Geisteskrankheit" ist eine Metapher. Ein Geist kann nur in dem Sinne "krank" sein wie schwarzer Humor "krank" ist oder die Wirtschaft "krank" ist.
  3. Psychiatrische Diagnosen sind stigmatisierende Etiketten; sie sollen an die medizinische Diagnosepraxis erinnern und werden Menschen angehängt, deren Verhalten andere ärgert oder verletzt.
  4. Gewöhnlich werden Menschen, die unter ihrem eigenen Verhalten leiden und darüber klagen, als "neurotisch" und jene, unter deren Verhalten andere leiden und über die sich andere beklagen, als "psychotisch" bezeichnet.
  5. "Geisteskrankheit" ist nicht etwas, was eine Person hat, sondern etwas, was sie tut oder ist.
  6. Wenn es keine "Geisteskrankheit" gibt, kann es keine "Hospitalisierung", "Behandlung" oder "Heilung" von "Geisteskrankheiten" geben. Natürlich können Menschen mit oder ohne Eingreifen des Psychiaters ihr Verhalten oder ihre Persönlichkeit ändern. Solche Eingriffe nennt man heute "Behandlung", und die Veränderung, wenn sie in einer von der Gesellschaft gebilligten Richtung verläuft, heißt "Genesung" oder "Heilung".
  7. In die Strafrechtspraxis eingedrungene psychiatrische Vorstellungen - zum Beispiel Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit und entsprechendes Urteil, Gutachten über das seelisch-geistige Unvermögen des Beklagten, einen Prozeß durchzustehen, usw. - korrumpieren das Recht und machen die Bürger, derentwegen sie vorgeblich herangezogen werden, zu Opfern.
  8. Persönliches Verhalten folgt stets Regeln, ist strategisch und sinnvoll. Interpersonale und soziale Beziehungen können als Spiele betrachtet und analysiert werden, wobei das Verhalten der Spieler von ausdrücklich formulierten oder stillschweigend wirksamen Spielregeln gelenkt wird.
  9. Bei den meisten Arten von freiwilliger Psychotherapie versucht der Therapeut dem Behandelten die unausgesprochenen Spielregeln, nach denen er sich richtet, zu erläutern und ihm bei der Überprüfung der Ziele und Werte der von ihm praktizierten Lebensspiele zu helfen.
  10. Es gibt keine medizinische, moralische oder juristische Rechtfertigung für unerbetene psychiatrische Eingriffe wie "Diagnose", "Hospitalisierung" oder "Behandlung". Sie sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die digitale Zukunft
Aus Stefan Aust/Thomas Ammann, „Digitale Diktatur“ (2014, Econ bei Ullstein, S. 335f)
Was "unnormal" oder "verdächtig" ist, setzt ein von irgendwelchen Programmierern entwickelter Algorithmus fest. Abweichungen werden den Sicherheitsbehörden gemeldet wenn die sie nicht schon in Echtzeit selbst entdeckt haben.

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