Herrschaft

PERSPEKTIVEN ZUR GEWALTFRAGE JENSEITS VON HEGEMONIALKÄMPFEN

Fazit: Mehr Hirn!


1. Vorschläge und Positionen
2. Für eine Protestkultur emanzipatorischer Vielfalt und deren Aneignung
3. Fazit: Mehr Hirn!
4. Die wichtigen Fragen stellen
5. Diskussionsbeiträge
6. Links

Gewalt muss angemessen, kommunikativ und zielgenau sein
Welche Gewalt ist wann angemessen? Wie jede politische Position oder Aktionsform muss auch jede militante Protestform diskutiert und strategisch vorbereitet werden. Ebenso kann jede gute oder Erfahrung im Nachhinein der kritischen Analyse dienen, um Strategien weiterzuentwickeln. Dazu gehört, dass verschiedene Vorschläge abgewogen werden - gewaltfreie, militante, einfach alle! Sowohl die Kritik an gewaltfreien Positionen, Strategien oder Dominanzen kann voranbringen als auch die an militanten Konzepten und Verhaltensweisen. In allen Fällen kann auch gefordert werden, dass bestimmte Strategien, Positionen oder politische Zielaussagen insgesamt oder innerhalb eines Bündnisses für alle gelten sollen. Aber das wird für den Einzelfall zu begründen sein und ist auch nicht, weil einmal beschlossen, dann der Ausgangspunkt der nächsten Debatte. Denn das Tradierte hat immer Vorteile bei der Durchsetzung. Wenn die Trickkiste der Konsensfetischist_innen greift, wäre eine Veränderung sogar nur möglich, wenn niemand ein Veto einlegt - welch Privileg derer, die das Bestehende erhalten wollen, weil es ihnen nützt.

Das gilt auch für die Gewaltfreiheit - aber auch für Militanz. Wer einfordert, eine Aktion müsse insgesamt militant ablaufen, muss das aus Lage, Strategien, Möglichkeiten und Zielen heraus begründen. So gilt es für alle. Immer wird erst die Frage nach der Angemessenheit zu stellen sein: Welche Form ist wann richtig? Ist es überhaupt nötig, dass Entscheidungen für alle gelten?
Der grundsätzliche Verzicht auf Gewalt engt die Aktionsmöglichkeiten stark ein. Widerstand wäre einiger Optionen beraubt und besser kalkulierbar für die Staatsmacht, deren Anwesenheit jede Aktion potentiell gewalttätig macht, weil sich der Staat nicht auf den Gewaltverzicht einlässt. Für einige Fragestellungen und Situationen könnten gar keine Aktionsformen mehr übrigbleiben, wenn auf Gewalt gänzlich verzichtet wird. Das muss in jeder Situation neu geprüft werden. Es sind bereits genügend Beispiele für Gewalt gegen Menschen beschrieben worden, die überlegt und passend zur Situation wirkten. Wer nicht sagt: "Georg Elser, Beate Klarsfeld - das war falsch", kann auch keinen dogmatischen Gewaltfreiheitsansatz vertreten.

Zur Erinnerung:
  • Georg Elser, lange vergessener Attentäter: Er höhlte einen Pfeiler im Münchener Hofbräuhaus aus, um Hitler per Bombe zu töten. Das Attentat ging schief. Elser wurde im KZ hingerichtet. Er handelte vor Beginn des zweiten Weltkrieges - und geriet in Vergessenheit. Abgefeiert wurden hingegen die Deutschlandretter um den Faschisten Stauffenberg, die erst handelten, als der Krieg verloren war. Bis dahin unterstützten die meisten von ihnen Hitler, Angriffskriege, Vernichtungsfeldzüge und Deportationen. Das gefällt in Deutschland und wird jeden 20. Juli abgefeiert. Elser dagegen war lange vergessen. Aber seine Tat: Wer wollte die kritisieren?
  • Beate Klarsfeld: Lange Zeit versuchte sie, mit klassischen Mitteln die Nazi-Vergangenheit des deutschen Bundeskanzlers Kiesinger zu thematisieren. Briefe an alle Bundestagsabgeordneten, Pressetexte - keine Chance. Dann schlug sie zu: Am 3.11.1968 verpasste sie Kurt Georg Kiesinger eine Ohrfeige - und erreichte ihr Ziel, dass die Nazigeschichte endlich thematisiert wurde. Wer will diese Handlung in Frage stellen? Mehr im Text "Eine Frau der Tat" in: Junge Welt, 13.2.2009 (S. 15) ++ Interview mit Beate Klarsfeld viele Jahre später ... in: Netzeitung am 2.9.2005 ++ 40 Jahre danach: Dokumentation im Spiegel

Und als weiteres Beispiel:
  • Als Marathonläuferin Kathrine Switzer im Jahr 1967 mit abgekürztem Vornamen an einem Marathon in Boston teilnahm, fiel das zunächst nicht auf. Die peinlich-patriarchale Männergesellschaft zeigte bis dato, dass Diskurs und Dummheit nicht nur mit gleichem Buchstaben anfangen. Sie postulierte eine Gefahr, dass die Gebärmutter beim Laufen herausfallen könnte und verbot Frauen den Langlauf. Als Switzer entdeckt und von Medien sensationsgeil fotografiert wurde, stürzten sich die Veranstalter auf sie und versuchten sie, aus dem Rennen zu zerren. Mitlaufende Männer gaben ihnen auf die Nuss. Switzer stieg zwar als Reaktion trotzdem aus, aber der Vorgang machte das Ganze berühmt und trug zum Ende der krassen Diskriminierung in diesem Bereich bei.

Vergleichen wir die Handlung von Beate Klarsfeld einmal mit der von Rosa Parks. Letztere ist (auch das wissen viele, die sich auf Gewaltfreiheit beziehen, gar nicht), eine der wichtigsten Aushängeschilder gewaltfreier Aktion. Sie hatte sich geweigert, in Zeiten der Apartheid in den USA einen der für Schwarze vorgesehenen Plätze im Bus einzunehmen. Ihre Weigerung und die Reaktionen lösten die überregional wirkungsvollen Proteste der schwarzen Bürgerrechtsbewegung (mit) aus. Die Courage von Rosa Parks gilt heute als Sternstunde gewaltfreier Aktion. Ob sie das allerdings wirklich war, lässt sich im Nachhinein nicht beurteilen. Denn dem Dogmatismus der Gewaltfreien würde sie nur entsprechen, wenn sie aus gleicher Ideologie, also einer Bekenntnis-Gewaltfreiheit erfolgt wäre. Hätte Rosa Parks (vielleicht auch zusammen mit anderen) aber ihre Aktionsform überlegt und als ausreichend provokativ bewertet, so wäre das konkrete Handeln einfach die angemessene Entscheidung gewesen, die von einer Person in der konkreten Situation als sinnvoll eingestuft worden wäre - so wie Beate Klarsfeld ihre Ohrfeige als angemessen bewertet und Kiesinger eine runtergehauen hatte (was ihr erstinstanzlich ein Jahr Haft einbrachte - soviel ist deutschen Richter_innen eine symbolische Geste gegen Nazi-Täter wert!). Wenn beide Handlungen, die von Rosa Parks und die von Beate Klarsfeld, die in der jeweiligen Situation und für die ausgewählten Ziele angemessenen Formen waren, dann sind sie sich in ihrer Qualität sehr ähnlich. Die dogmatische Gewaltfreiheit würde sie zwei scheinbar diametral gegenüberstehenden Kategorien zuordnen. Das ist, weil es das menschliche Denken in feste Schubladen eines situations- und menschenunabhängigen "Richtig" und "Falsch" presst, anti-emanzipatorisch.
Die Alternative wäre die Aneignung von Knowhow, Entscheidungskompetenz, das Analysieren von Situationen und - nach einer Handlung - die kritische Reflexion, um uns in jedem Einzelfall für die angemessene, d.h. vom Grad der Intervention, von Außenwirkung und Vermittlung her passende Aktion zu entscheiden. Wenn wir es dann noch hinbekommen, repressive Folgen mit kreativen Mitteln zu vermeiden, ohne unsere Ansprüche an die Aktion aufzugeben - umso besser. Aus emanzipatorischem Blickwinkel ist immer der Mensch selbst Akteur_in und Entscheider_in - aber mit analytischem Interesse, d.h. abwägend, hinterfragend und kreativ.

Aus dem Kommentar "Autonomer Krawall", in: Junge Welt, 3.7.2007 (S. 3)
Es gab in der Vergangenheit immer wieder politisch und strategisch kluge Aktionen von autonomen Aktivistinnen und Aktivisten. Selbstbestimmt, daher der Begriff. Rostock zählt wohl nicht dazu. Eine Bundestagsabgeordnete stellte bei einer nachbereitenden Anhörung die Frage, was denn gewesen wäre, wenn Autonome die Spähpanzer der Bundeswehr angegriffen hätten. Gute Frage!

Leider, aber auch erwartungsgemäß, griffen die Autonomen und andere Beteiligte solche Ziele nicht an. Ihre Militanz war und ist einfach fast immer nur eines: Schlecht.

Gewaltfreiheit auch
Überlegt und reflektiert vorzugehen, gilt aber nicht nur für militante Aktionen, wenn es auch dort eine besondere Wichtigkeit hat angesichts möglicher Folgen. Gewaltfreie Aktionen wirken ebenso oft schematisch, auf bloße Massenmobilisierung und nette Sonntagsausflüge ausgerichtet. Event und Happening stehen im Mittelpunkt. Angesprochen davon fühlen sich vor allem bürgerliche Kreise, deren Leben auch ansonsten zu einer weitgehenden Routine mit überdurchschnittlichem Verdienst, Eigenheim, Erst- und Zweitauto sowie regelmäßigem Einkauf im Bioladen verkommen ist. Es wäre wichtig, wenn in diesen Kreisen wieder eigene Handlungsfähigkeit entwickelt wird. Denn emanzipatorische Veränderung ist keine Sache von Events mit bunten Einladungskarten oder Massenmails, sondern Handarbeit jederzeit und überall. Je größer der Fundus angeeigneter Fähigkeiten ist, desto besser lassen sich in den konkreten Situationen Anwendungschancen nutzen. Was jeweils passt, muss nach konkreter Lage ausgewählt werden. Wer aber regelmäßig an große NGOs spendet, 1-2x im Jahr an vorgekauten Events teilnimmt und schließlich noch eine vorgedachte Protest-Email an die Bundeskanzlerin schickt, lebt alles andere als widerständig. Solch ein Protest ist perfekt eingepasst in die Normalität der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Emanzipatorische Protestkultur lebt im Alltag und von selbstorganisierten Gruppen der Menschen, ihren Ideen und Kooperationen. Sie zehren aus dem Wissen um Handlungsmöglichkeiten, um möglichst selten ohnmächtig oder ideenlos weggucken zu müssen.

In Bezug auf den Anteil der Gewalt an solcher Handlungsfähigkeit empfiehlt es sich dann, Mahatma Gandhi endlich einmal zu lesen. Dann würde klarer, welche Rolle diese Legende der Gewaltfreien gewaltförmigen Handlungen tatsächlich zugebilligt hat. Er war erkennbar ein Gegner der Gewalt und suchte - bekannterweise recht erfolgreich - Aktionsformen, die ohne Gewalt funktionierten. Aber er war nicht so ideologisch verblendet wie die meisten der heutigen Prophet_innen oder Anhänger_innen dogmatischer Gewaltfreiheit, dass sein Wunsch immer in Erfüllung gehen würde. Daher räumte er in seinen Überlegungen der Gewalt einen Platz ein: Wenn es gewaltsame Lösungen gäbe und keine anderen, dann sollte die Gewalt dem Nichtstun vorgezogen werden. Gandhi kam nie an diesen Punkt. Jedenfalls ist nichts Anderes überliefert oder die Geschichte passend gemacht worden. Gandhi wusste, dass es keine Garantie geben konnte. Er hat die Gewalt nicht verteufelt, sondern ihr als Handlungsoption einen Platz auf der Skala der angemessenen Aktionsformen eingeräumt.
Das wäre das Mindeste, was als Update einer emanzipatorischen Gewaltfreiheit nötig wäre: Das Dogma zu verlassen und das eigene Abwägen zuzulassen. Wenn am Ende herauskommt, dass Gewaltfreien immer etwas einfällt, wie in einer konkreten Aktion Widerstand ohne Gewalt möglich ist - umso besser. Sie wären damit Teil einer Nachdenkkultur um Aktionsmöglichkeiten, der die Handlungskompetenz immer weiter vorantreibt. Das wäre ein wichtiger Beitrag zu Emanzipation.

Im Original: Vorschläge für Gewalt als Notlösung
Mahatma Gandhi, zitiert in Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 121)
"Ist Gewalt in unserem Herzen, ist es besser, Gewalt auszuüben, als sich den Mantel der Gewaltlosigkeit umzuhängen, um unsere Impotenz zu verhüllen. Gewalt ist immer der Impotenz vorzuziehen. Ein gewalttätiger Mensch kann noch gewaltlos werden, für den Impotenten besteht solche Hoffnung nicht."

Gewalt nur als Notwehr
Aus Stehn, Jan: "Anarchismus und Recht" in der sich als anarchistisch bezeichnenden GWR, Nr. 216, Februar 1997
Gewalt gegen Menschen, selbst als Reaktion auf Gewalt, steht immer im Widerspruch zur anarchistischen Freiheitsidee, für die die Selbstbestimmung über den eigenen Körper elementar ist. Der Tod ist das Ende jeder Selbstbestimmung. Für AnarchistInnen ist Gewalt nur für extreme Notwehrsituationen zu rechtfertigen.

Clara Wichmann (1889-1922), Feministin (zitiert von Seite der GWR, dort als "gewaltfrei" genannt, was aber sichtbar nicht stimmt)
Es hat seine tiefe Bedeutung, daß die Gewaltlosigkeit heute für uns alle ein Problem ist, denn dies ist ein Zeichen, daß wenigstens unter vielen Revolutionären das soziale Gewissen in diesem Punkt feinfühliger geworden ist. ... Sie alle würden ohne Gewalt kämpfen wollen - während für die früheren Menschen - und jetzt noch für die Mehrheit - die Gewalt eine Selbstverständlichkeit war und ist. ... Aber zweierlei (ist ihnen), meine ich, nicht deutlich:
  1. Daß es wohl besser sein kann - obgleich nicht immer ist -, Gewalt gegen Unrecht anzuwenden, als gar nichts dagegen zu tun; aber daß es jedenfalls noch viel besser ist, das Unrecht auf eine andere Weise zu überwinden.
  2. Daß Gewalt selbst wieder gewalttätige Kräfte weckt.

Deshalb: Aktionsknowhow entwickeln und aneignen
Im Zentrum emanzipatorischer Aktionskultur steht also die Aneignung von Handlungsfähigkeit. Das hilft in alle Richtungen. Es vermeidet Gewalt, weil viele der Angriffe auf Material oder Menschen eine Folge gefühlter Ohnmacht und fehlender Handlungsoptionen sind. Diese folgen aus mangelnder Vorbereitung und/oder fehlendem Knowhow. Viele militante Attacken strahlen eine bemerkenswerte Hilf- und Orientierungslosigkeit aus. Insofern sind die gewaltfreien Zusammenhänge schlecht beraten, mit ihren Einheitskonzepten und Instantaktionen selbst dazu beizutragen, Menschen unselbständig zu machen. Vor dem Hintergrund ihrer Jagd nach Spender_innen und willigen Mitläufer_innen ist das zwar erklärbar, aber weder ein emanzipatorischer Ansatz noch stärkt es die Idee gewaltfreier Aktion.
Den Militanten könnte die Aneignung von mehr Aktions-Knowhow aber genauso helfen. Denn bessere Wirkung und Effizienz würden deren Aktivität mehr Sinn und auch mehr Befriedigung verleihen. Für alle Protestformen nützlich wäre zudem das Wissen um Vermittlungsmöglichkeiten, von Medienarbeit über Kommunikationsguerilla, und verstecktem Theater bis zu Gegenöffentlichkeit z.B. in Form eigener Medien.

Gewaltfreiheit ist legitim - wenn sie eine gleichberechtigte Option unter vielen ist
Der Dominanzanspruch von Gewaltfreiheit ist nicht akzeptabel. Das ändert aber nichts daran, dass gewaltfreie Positionen legitim sind. Gerade im Sinne einer gewollten Vielfalt, d.h. die Autonomie der Gruppen stärkenden Aktionsstrategie müssen gewaltfreie Aktionen nicht nur geduldet, sondern ihnen aktiv Raum geschaffen werden, damit sie in ihrer besonderen Form auch zur Geltung kommen. Aktionen sind also so zu planen, dass Gewaltfreiheit nicht durch militante Aktionen zur gleichen Zeit am gleichen Ort oder in unmittelbarer Nachbarschaft unkenntlich wird. Die Debatte über Sinn und Zweck von Gewaltfreiheit hat nämlich weder einen Anspruch auf Dominanz noch darf sie ignoriert werden. Sie hat den gleichen Anspruch auf Verwirklichung wie alle anderen Aktionsformen. Sie muss sich - wie andere auch - bei der Entscheidungsfindung über konkrete Abläufe und Orte auf die Absprachediskussion mit allen anderen einlassen. Jede Form von Dominanz ist falsch: Sowohl die der Gewaltfreien gegenüber den anderen, die gewaltbereit sind oder die Anwendung von Gewalt akzeptieren, als auch umgekehrt die gegenüber den Gewaltfreien und ihren Aktionsformen. Denn schon von der Mobilisierbarkeit her schafft eine Aktionsstrategie, die verschiedene Aktionsformen zulässt, deutliche Vorteile. Denn kann können sich alle Menschen mit ihren bestimmten Neigungen und Einstellungen bewusst „ihre“ Aktion aussuchen oder selbst eine entwickeln. Das Streckenkonzept im Castor-Widerstand bietet dafür ein positives Beispiel (was nicht heißen soll, dass dessen politisch-inhaltliche Qualität bereits ausreichend ist).

Im Original: Inhaltliche Leerstellen
Ein Loblied den Grünen und ihrem sogenannten Ausstieg
Aus Wolfgang Sternstein (2013): „Atomkraft – nein danke!“ (S. 230)
Nach Wackersdorf geriet die Bewegung in den Jahren 1989 bis 1994 erneut in eine schwere Krise. Sie schien nun endgültig am Ende zu sein. Umso erstaunlicher, dass aufgrund der Initiative einiger gewaltfreier Aktivisten mit der Kampagne X tausendmal quer eine Art Neustart gelang, der sie noch einmal zu einer bundesweiten Bewegung aufblühen ließ. Dank der parlamentarischen Unterstützung durch die Grünen gelang es, den Ausstieg aus der Atomkraft in der rot grünen Koalition im Jahr 2000 im Konsens mit der Atomindustrie zu vereinbaren.

Asse und Schacht Konrad sind „ganz kleine Fische“
Aus Wolfgang Sternstein (2013): „Atomkraft – nein danke!“ (S. 145)
So dramatisch sich das einsturzgefährdete Salzbergwerk Asse II und die Erzgrube Schacht Konrad für die Betroffenen auch sein mag, im Hinblick auf die weltweit ungelöste Entsorgungsfrage für hochradioaktiven Müll sind es nur ganz kleine Fische.

Gewaltfrei oder militant - wichtig ist die Qualität: Wir brauchen eine Charmeoffensive für kreative, reflektierte, inhaltsreiche und direkte, also einfach "gute" Aktion!
Mit der Aneignung und Anwendung kreativer, durchdachter und gut vermittelter Aktionen kann und sollte eine Werbung für solche Aktion einhergehen - sowohl für die Teilnahme an Protest wie auch für die Entwicklung eigener, selbstorganisierter Handlungen. Freude, nicht nur klammheimliche, über gelungene Aktivitäten - gewaltfreie wie militante -, Trainings (ruhig auch öffentlich und plakativ) und viel mehr Vermittlung von Wissen und Beispielen können eine Charmeoffensive für das Einmischen ins öffentliche Leben bilden. Es wird Zeit, das Sich-Wehren sowohl aus der Ecke der verbissen-einfältigen Militanz wie auch aus den zur Begleitfolklore für das Unvermeidliche verkommenen Instant- und Schafherdenmobilisierungen heraus zu bringen. Auf dass Protest zu einem attraktiven, wirksamen Alltagswiderstand unbeugsamer, kreativer und abwägender Menschen wird!

Im Original: Überlegungen zur Militanz
Aus dem Papier des AK Vermittlung: "Militante Praxis" (Quelle, als PDF)
Militante Praxis ist anschlußfähig. Bei Plünderungen machen Dritte begeistert mit. Abschiebungen von geliebten, bekannten Menschen animieren NachbarInnen und KlassenkameradInnen zum Blockieren. Wer es wagt, Grenzen zu übertreten, Regeln zu brechen, entdeckt eine Erweiterung der eigenen Kraft. Der Horizont endet nicht mehr beim Fahrkartenkontrolleur. Militante Praxis vermittelt die Erfahrung dass wir Viele sind und Kontrolle verweigern können. Dadurch wird erfahrbar, dass Grenzen nicht da enden wo ein Gesetzgeber sie festlegt. Grenzen können erweitert und selbst bestimmt werden. ...
Militante Praxis ist mehr als Sachschaden anrichten oder Steine werfen! Deswegen noch einmal ausdrücklich: Es geht auch, aber nicht per se um Steine werfen, sondern darum, gesellschaftlich vorgegebene Spielregeln für politische Opposition bewußt zu brechen. Es geht darum eine unvereinbare Haltung gegenüber dem herrschenden System einzunehmen, sowie durch das eigene Handeln den Auswirkungen dieses Systems direkt entgegenzuwirken.
1. Militante Praxis bedarf hoher Verantwortung. Menschen unterlaufen Fehler und Irrtümer. Militante Praxis muß mit Achtsamkeit geplant und ausgeübt werden.
2. Militante Praxis ist nur horizontal denkbar. Vertikale Organisierung lehnen wir ab. Unser Bezugsrahmen hierfür ist, wie gesagt, der europäische Raum. Unter anderen Rahmenbedingungen muß sich Widerstand unter Umständen militärisch organisieren.
3. Den Aktionen und Planungen anderer linker politischer AkteurInnen begegnen wir mit Respekt. Mit Respekt ist ein nicht-instrumentelles Verhältnis zu Anderen gemeint. Aktionen Anderer sollen nicht für Militante Praxis vereinnahmt werden Z.B. muss in einer Bündnisdemonstration vorsichtig abgewogen werden, welche Auswirkungen eine Aktion auf des Gesamtgeschehen hat. Dies bedeutet nicht, dass daraus der Umkehrschluss aufgemacht wird, Militante Praxis sei abzulehnen und zu vermeiden, wo Planungen anderer berührt würden.
4. Auch wenn zum Geheimrezept von Massenmilitanz Spontaneität und Impulsivität gehören, läßt sie sich planen und führt so zu größerem Erfolg. Dies wird sich leider immer seltener zu Eigen gemacht. ...
5. Die körperliche Unversehrtheit aller Beteiligten ist eine Grundvoraussetzung für Militante Praxis. Dazu gehört, MitaktivistInnen nicht zu verletzen; sei es durch Steinwürfe aus der 10. Reihe oder das Erzeugen hektischer und unübersichtlicher Situationen, bei denen z.B. Kinder oder langsame Menschen umgerannt werden. Genauso wichtig ist uns die körperliche Unversehrtheit Dritter. Das bedeutet etwa, keine Gebäude anzuzünden in denen sich Menschen aufhalten oder deren Brand sich auf andere Gebäude ausbreiten könnte. ...
7. Ziele von Militanz sind solche, die die Herrschenden (wer auch immer das sein mag) treffen, Herrschaftsstrukturen, Zwangsräume (wie z.B. Lager, Knäste oder Schulen) demontieren, sowie Kriegs- oder Zwangsmaterialien (Fahrzeuge, Zäune, Kameras) zerstören. Ziel kann auch das Entern einer Bühne der eigenen Bündnispartnerin sein, um einen ausgebooteten Redebeitrag durchzusetzen.
8. Der Besitz von Privatpersonen (Kleinwagen, Vorgärten, Gartenzäune) oder öffentliche Infrastruktur (Bushaltestellen, Briefkästen) sollte kein Ziel Militanter Praxis sein. Kontextbezogen sind andere Einschätzungen möglich, wie z.B. Schienen beim Castor-Transport, Innenstädte beim G8 oder das Anzünden eines Kleinwagens für eine wichtige Barrikade. In all diesen Fällen kommt es auf die Abwägung und politische Begründung an!
9. Die Motivation für Militante Praxis muß stets reflektiert werden. Unhinterfragte Massenmilitanz reproduziert hegemoniale Männlichkeit. Militante Praxis darf kein identitäres Ritual sein. ...
11. Militanz schafft Erregungskorridore. Deutungsversuche Militanter Praxis, insbesondere der Massenmilitanz, werden zu oft kommerziellen Medien, staatlichen Autoritäten und Nichtregierungsorganisationen überlassen. Wir müssen uns diese Deutung wieder aneignen und unsere Argumente verstärkt in den Diskurs einbringen. Mehr Aufmerksamkeit für linksradikale Politik!

Aus Ilija Trojanow, "Freiheit, Skepsis, Totenkopf", in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus, S. 12f.)
Überwindung ja ja, durchaus, aber wie hältst du es mit der Gewalt?, werden Anarchisten mit frappierender Beharrlichkeit gefragt, als seien sie für alle Gewalt auf Erden verantwortlich. Die Frage der Gewalt ist für den Anarchismus weder typisch noch prägend, sondern genauso relevant oder nebensächlich wie für jede andere politische, soziale und moralische Position. Auch demokratisch gewählte Regierungen zetteln Kriege an, die an jedem Tag mehr Menschenleben kosten als alle anarchistischen Attentate durch die Jahrhunderte zusammengenommen. Zumal anarchistische Attentäter soweit wir mit ihren Motiven vertraut sind erheblich schwerer um eine moralische Rechtfertigung für ihre Tat gerungen haben als etwa die NATO in Afghanistan und Irak. Oft brachen sie Anschläge auf Vertreter der Tyrannei ab, weil die Gefahr bestand, dass ein Unbeteiligter oder Familienangehörige verletzt oder getötet werden könnten Kollateralschäden achselzuckend hinzunehmen, ist der moralischen Dürftigkeit der internationalen Kriegsführung überlassen (Albert Camus' Stück Die Gerechten thematisiert dies eindrücklich, wie auch die innere Zerrissenheit der Attentäter). Viele Anarchisten waren der Ansicht, dass sie nur dann das Recht haben, ein anderes Menschenleben zu nehmen, wenn sie ihr eigenes dabei opferten, und die allermeisten richteten ihren Angriff gegen Könige, Minister, Großkapitalisten und Banken, nicht aber gegen Hochzeitsgesellschaften, Schulen oder Passanten. Die Forderung, der Gewalt abzuschwören, ist absurd, denn kaum einer wird die Gewaltfrage grundsätzlich beantworten können, fast jeder würde das Recht auf Selbstverteidigung oder auf Unterbindung von brutalem Unrecht für sich in Anspruch nehmen. Es gibt keine klare Dichotomie zwischen Pazifismus und Gewalt, die Gewaltfrage lässt sich stets nur im Einzelfall beantworten. Moralisch widersinnig ist es aber, wenn die Gewalt des Staates unter einem geringeren Rechtfertigungsdruck steht als die Gewalt des sich widersetzenden Individuums.

Aus Jakob Augstein, "Nicht ohne meinen Körper", Vorabdruck aus "Sabotage", in: Freitag, 8.8.2013 (S. 6f.)
Zu eingeschmissenen Fensterscheiben beim Autokonzern Ford durch demonstrierende Arbeiter_innen: ... was hatten die Arbeiter getan? Sie hatten die objektiv nicht bestehenden Waffengleichheit zwischen ihnen und dem Konzern auf die einzige Art ausgeglichen, die ihnen zur Verfügung stand: durch den Einsatz ihres Körpers und den Einsatz körperlicher Gewalt. ...
Die Gewalt in der Politik ist zum Tabu geworden. Und die Abschottung der Gesellschaft gegen die Gewalt wird immer dichter. Das Körperliche ist ungebildet und roh und etwas für einfache Leute. ...
Wer die Gewalt aus der politischen Auseinandersetzung vollständig entfernen wollte, müsste Demonstrationen verbieten und dürfte nur noch die elektronische Akklamation zulassen. ... Denn die Entkörperlichung der Politik nutzt nur denen, die es nicht nötig haben, demonstrieren zu gehen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die zumindest in Westeuropa langsam, aber stetig voranschreitende Befriedung der politischen Auseinandersetzung wird als zivilisatorischer Fortschritt empfunden.
Seit dem Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) stellte sich die Gewaltfrage für die deutsche Öffentlichkeit unter anderen Vorzeichen. Und spätestens seit dem Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe im Jahr 1980 galt sie als beantwortet: Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei, lautete das Motto der politischen Kräfte, die den Weg von der Außerparlamentarischen Opposition ins Herz des Systems genommen hatten. Innenpolitisch hält man seitdem von politischer Gewalt nichts mehr. Außenpolitisch sieht das bekanntlich anders aus.
Die deutsche Öffentlichkeit glaubt nicht mehr an legitime Gewalt im innenpolitischen Streit und nicht an die Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Personen und gegen Sachen. Sie glaubt an das unbedingte und heilige Gewaltmonopol des Staates. Aber auch der Staat muss sich heute mehr als früher rechtfertigen, wenn er von seinem Gewaltrecht Gebrauch macht. Der Blinde von Stuttgart und die Prügelpolizisten - auch sie haben den baden-württembergischen Regierungschef Mappus sein Amt gekostet. ...
Sabotage ist eine aktive Form des zivilen Ungehorsams. ...
Wenn der Protest sich an die Regeln hält, bleibt seine Wirkung schwach. Aber je mehr er die Regeln bricht, desto mehr schwindet seine Akzeptanz. Das ist eine Herausforderung für die politischen Bewegungen. Sie sollten sich darum bemühen, eine Debatte darüber zu führen, wo die Gewalt anfängt, von wem sie ausgeht und was sie bewirkt. ...
Was tun wir, wenn die Anwendung von politischer Gewalt in die Irre führt, aber der Verzicht darauf auch?


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