Herrschaft

THEORIE FÜR ANARCHIE. EIN UPDATE

Wissensbasierte Radikalität


1. (Neue) AnarchistInnen braucht das Land!?
2. Herrschaftsanalyse modernisieren
3. Wissensbasierte Radikalität
4. Emanzipation: Der Mensch im Mittelpunkt
5. Das neue Subjekt: Alle, aber unterschiedlich
6. Strategie für die Anarchie
7. Seiten zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Materialismus für AnarchistInnen? Ein wissenschaftlicher Anarchismus? Oder was?
Der emanzipatorische, in seiner radikalsten Form dann anarchistische Blick ist einer, der auch das Diskursive in eigenen Begriffen und Denkschablonen selbst hinterfragt. Er ist daher grundlegend skeptisch allem und sich selbst gegenüber. Er erkennt keine feststehenden Wahrheiten, glaubt nicht an das Vermögen, objektiv sein zu können, sondern ist hinterfragend und vorwärtsdrängend. Anarchismus ist neugierig, will aufdecken, entlarven und Neues ermöglichen. Wissenschaft ist kein Gegensatz zu anarchistischem Denken, aber sie wird - wie alles andere auch - skeptisch auf ihren Gehalt an Macht, Normen, Diskursen und Kontrollgewalt hin betrachtet. Emanzipation seziert alles Vorhandene und Überlegungen für die Zukunft auf seinen Herrschaftsgehalt hin.
Die heute betriebene Wissenschaft und das an Schulen, in Medien und schlauen Büchern vermittelte Wissen ist überwiegend aufgeladen mit politischen Wertungen, Auslassungen und Falschdarstellungen, die Diskursen folgen. Das ließe sich an beliebigen wissenschaftlichen Positionen zeigen. Es ist den WissenschaftlerInnen und VerkünderInnen von Wissen auch gar nicht vorzuwerfen, dass sie gerichteter Wahrnehmung unterliegen und ihre notwendigerweise persönlich ausfallenden Bewertungen weitergeben. Fatal ist aber, dass sie Objektivität vortäuschen und in einem grausigen Wettstreit mit konkurrierenden Wissensmeinungen stehen, denen sie dann - wie sollte es anders sein - die sich selbst verliehene Wahrheit absprechen.
Ein Blick auf die Motive für dieses Vorgehen führt überwiegend zu noch erschreckenderen Beobachtungen: Fast alle Wissenschaft ist heute gekaufte Wissenschaft. ForscherInnen reden ihren GeldgeberInnen nach dem Mund und präsentieren Ergebnisse schon in vorauseilender Anbiederung an potentielle Finanzierungsquellen, die sie anzapfen müssen, um eigenes wirtschaftliches Überleben oder - häufiger - das ihrer Institute oder Firmen zu sichern.

Aus all dem folgt zwar eine ordentliche Portion Vorsicht gegenüber der real existierenden Wissenschaft, aber keine Ablehnung von Wissenschaftlichkeit. Ganz im Gegenteil: Es ist an der Zeit, dass sich AnarchistInnen mit modernen Herrschaftsanalysen, mit historischer Forschung über Herrschaftsfragen, Psychologie bis Biologie (z.B. des menschlichen Körpers) auseinandersetzen und die Fülle der Erkenntnisse nutzen, um eigene Vorschläge zu entwickeln und voranzutreiben. Herrschaftskritik und Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis sind kein Gegensatz, sondern bedingen einander - auch wenn die gekaufte Wissenschaft der heutigen Zeit eines besonders skeptischen Blickes auf die gefilterten Informationen bedarf, die aus ihr nach draußen sickern.
Das gleiche gilt für technischen Fortschritt, also Erfindungen und neue Entwicklungen. Sich umschauen, einmischen, an Debatten teilnehmen, Neues in die eigenen Überlegungen aufnehmen und schauen, ob es einen emanzipatorischen Gehalt hat oder haben kann - das würde der anarchistischen Debatte ebenso gut tun wie die Einbeziehung moderner Herrschaftsanalysen. Anarchie ist entweder innovativ, vorwärtsdrängend, dabei aber entschlossen abwägend und fordernd hinsichtlich der Herrschaftsförmigkeit aller Innovationen - oder sie bleibt eine Feierabend- oder Lagerfeuerideologie für frustrierte SystemkritikerInnen mit Hang zur Nostalgie.

Für ein rationales Welt- und Menschenbild
Mensch und Umwelt sind weder unergründliche Tiefen noch Schöpfungen externer Weisheiten. Es lässt sich viel über Entstehung und Aufbau des Weltalls, die Geschichte des Planeten "Erde" und des Lebens auf ihm herausfinden. Es gibt keine Notwendigkeit, die wirren Behauptungen, Menschen seien Herdentiere oder rein genetisch gesteuert stehen zu lassen. Sie lassen sich nicht nur philosophisch, sondern auch mit Hintergrundwissen aus der Biologie und der Selbstorganisierung von Leben abwehren.
Eine freie Gesellschaft widerspricht nicht Biologie, Chemie und Physik des Menschen, sondern ist aus vielerlei Perspektive genau die passende Lebensqualität, um Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Entfaltung und weiteren Evolution zu bringen. Es ist nicht nötig, stotternd den BiologistInnen dieser Welt, die erklären wollen, der Mensch sei biologisch vorherbestimmt, entgegenzuhalten, dass der Mensch doch ein soziales Wesen ist und die Biologie deshalb nicht so wichtig. Sondern der Mensch ist ein soziales Wesen. Genau das ist aber auch seine Biologie. Er ist so ausgestattet, dass er zum sozialen Wesen wurde. Platt formuliert: Anarchie passt zur Natur des Menschen - Rechtsstaat, Kapitalismus und vieles andere hingegen sind seine Unterjochung. Sie widersprechen Natur und Evolution.
In der Textsammlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" wurde versucht, aus dem Stand des Wissens über Materie, Entstehung der Erde und des Lebens sowie der speziellen Biologie des Menschen abzuleiten, warum und wie die Selbstentfaltung der Individuen, die freie Kooperation und Selbstorganisierung dem entspricht, was der Mensch als Potential in sich trägt. Durch Regeln, Kontrolle und identitäre Subjekte über die Köpfe der Menschen hinweg werden diese Möglichkeiten beschnitten, zumindest in der Entfaltung gebremst, oft aber auch mitsamt dem Willen, die Potentiale zur Wirkung zu bringen, gänzlich vernichtet.

Im Original: Die Rolle Wissenschaft
Aus Bakunin, Michail: Gott und der Staat (Nachdruck 1995 im Trotzdem Verlag, Internet)
Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte im Anhang als Eigenschaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, daß sie von den wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann, mit einem Wort das in ihren beständigen Verwandlungen Bleibende wie ihre materielle, individuelle Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch flüchtig und unfaßbar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige für sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft begründet ist.
Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und die große Aufgabe der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist folgende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehungen der vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Gesetze stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind. Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das heißt im Gehirn existierende Wiedergabe sie ist - im Gehirn, um uns zu erinnern, daß die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden, Freuden, Streben, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft freiwillig die Dinge und alle wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wissenschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust, geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft die ist, das Leben zu erhellen, nicht, es zu leiten. ... (S. 81)
In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine abgeschlossene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste hat. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten Opferpriester. ... (S. 84)
Die Wissenschaft ist einerseits zur vernünftigen Organisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft kümmern.
Dieser Widerspruch kann nur auf eine Art gelöst werden: durch die Auflösung der Wissenschaft als außerhalb des sozialen Lebens aller existierendes Wesen, das als solches von einer Körperschaft patentierter Gelehrter vertreten wird, und durch ihre Verbreitung in den Volksmassen. Die Wissenschaft, die berufen ist, hinfort das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft zu vertreten, muß wirklich Eigentum aller werden. (S. 88)


Es gibt kein "Off"
"Ich hab’ mein’ Sach’ auf nichts gestellt", formulierte Max Stirner als Grundnahme seiner Überlegungen für eine menschliche Gesellschaft freier Individuen. Leider wurden seine Texte als Plädoyer für eine Isolierung der Einzelnen voneinander und für den Verzicht auf einen gesellschaftlichen Überbau gewertet. Vielleicht hat Stirner diesen Schwerpunkt auch tatsächlich im Kopf gehabt, doch seine Grundannahme bliebe richtig: Es ist da nichts außer den Menschen selbst, die ihre Belange regeln - für sich und miteinander. Es gibt keine Begründung für irgendeine höhere Ebene, für eine externe Quelle von Regeln, Moral oder Wertungen. Es sind immer die Menschen. Taucht doch eine scheinbare höhere Gewalt auf, so ist auch diese immer eine menschliche Schöpfung:
  • Jedes Gottesbild, die über Jahrtausende prägende Quelle höherer Macht, geht auf menschliche Phantasie zurück. Bücher wie die Bibel sind von Menschen geschrieben, nach Herrschaftsinteressen zusammengestellt und benutzt: Sie dienen als Quelle der Legitimität höherer Gewalt. Die Privatmeinung Einzelner wird zu Gottes Wort aufgebauscht und soll deshalb mehr wert sein. Abweichungen wurden jahrhundertelang als Ketzerei bekämpft mit Methoden, deren Herrschaftsförmigkeit und Willen zur bedingungslosen Unterwerfung kaum steigerbar war - seien es Kreuzzüge oder Scheiterhaufen.
  • Dem Recht wurde lange eine höhere moralische Qualität zugesprochen. Wahlweise stammte es aus göttlichen Quellen oder war Ausdruck natürlicher Moral. Heute wird es in der Regel als vom Volk beschlossen verklärt. Diese Märchen sollten über die Herkunft den Gesetzen und Normen höhere Weihen verleihen, um sie diskursiv durchsetzungsfähiger zu machen und die tatsächlichen Interessen hinter ihnen zu verschleiern.
  • Menschenrechte sind kein Naturrecht, sondern Ausformungen sozialer Auseinandersetzungen. Sie müssen, sollen sie weiter wirken oder erhalten bleiben (als kleineres Übel gegenüber völligen Willkür-Rechtsstaaten), ständig erstritten werden. Gleiches gilt im übrigen auch für die in Mode gekommenen Tierrechte. Die Annahme, sie könnten aus irgendeiner externen Quelle stammen, konstruiert eine über dem Menschen stehende Sphäre - und ist daher anti-anarchistisch. Nein: Sie sind ebenso Ausdruck sozialen Ringens zwischen Menschen und können als solche gut begründet sein.
  • Das "Volk" als aktuell von allen möglichen politischen Richtungen und BürgerInnenprotesten bemühter Souverän ist ebenso nichts als ein gedankliches Konstrukt - und zwar ein sehr gefährliches. Denn die Idee des Volkes beinhaltet die Annahme, dass die Menschen in ihm wären. Das ist aber falsch. Tatsächlich ist das Volk als Gemeinwille aller von den Einzelnen völlig abstrahiert, d.h. es existiert selbständig, mit Leben gefüllt durch die Personen, die es schaffen, sich als Sprachrohre des Konstruktes zu inszenieren und damit das Volk zum Subjekt erwecken. Dafür ist nicht notwendig, dass auch nur irgendein Mensch aus dem "Volk" die Meinung tatsächlich hat, die "im Names des Volkes" als Gesamtwille verkündet wird. Es ist nicht einmal nötig, dass es die Menschen im Volk überhaupt noch gibt.
  • In esoterischen Kreisen, seit geraumer Zeit ja kräftig in Mode, werden kosmische Energien, Astralleibe, Karma und andere Kategorien geschaffen, die Menschen schicksalhaft bestimmen, aber selbst außerhalb der Gestaltungskompetenz der Menschen liegen. Auch dadurch wird gesellschaftliche Gestaltungsmacht entzogen.

Jede Verlagerung von Handlungsmacht in eine außerhalb der Menschen liegende Sphäre reduziert die Selbstbestimmung der Menschen und ihrer freien Zusammenschlüsse. Das bereits ist anti-emanzipatorisch, weil es nicht mehr den Menschen und seine soziale Interaktion im Mittelpunkt gesellschaftlicher Gestaltung sieht, sondern von ihm unabhängige, überlagernde bis bestimmende Ebenen legt. Es entsteht eine Art "Off", ein Bereich außerhalb von Gesellschaft, der über die Menschen und ihr Leben bestimmt. Es wird zum Schicksal, fremdbestimmt.
Hinzu kommt, dass dieses "Off", diese Sphäre außerhalb der menschlichen Beeinflussbarkeit, nur über Personen, die Vorgaben aus der vermeintlich externen Quelle in das gesellschaftliche Leben verschieben, wirksam wird. Der Pfarrer auf der Kanzel, die Richterin "im Namen des Volkes" oder die HeilerInnen mit Informationen aus dem Karma behandelter Personen sind immer einzelne Menschen, deren Meinung mehr zählt, weil sie sich auf die externen Sphären beziehen. So schafft jedes "Off" Privilegien und damit Hierarchien.

Anarchie ist die radikalste Form emanzipatorischen Denkens. Es geht nicht um den Ersatz des ewiggestrigen Gottesglaubens durch modernere Wertegebäude, wie es beispielsweise der Humanismus will, sondern um die konsequente Absage an alle externen Quellen höherer Werte und Vorgaben. Anarchie ist immer und vollständig im Hier und Jetzt. Es gibt kein "Off" - sowieso und weil es, mangels tatsächlicher Existenz, nur über seine Sprachrohre in die Gesellschaft tritt.

Alles ist Materie - aber dynamisch
Die Absage an metaphysische Sphären aber reicht nicht. Übrig bleiben darf ja kein auf plumpe und starre materielle Bedingungen reduziertes Bild von Mensch und Natur - etwas solche, in denen alles wie eine Maschine betrachtet und die Gesellschaft zu nichts anderem mehr wird als einer großen Verknüpfung reibungslos funktionierender Systeme. Das ist aber auch nicht nötig, denn solchen Annahmen liegt ein ziemlich veraltetes Verständnis von Materie zugrunde. Die ist nämlich viel weniger starr als manch alte Schrift oder neues Schulbuch uns glauben lassen wollen. Ganz im Gegenteil: Auf der molekularen Ebene, in der DNA-codierten Lebewelt und im kulturellen Gestaltungsbereich menschlicher Gesellschaft findet ständig Entwicklung statt, die sich auch materiell niederschlägt. Mit jeder Weiterentwicklung verändern sich zudem die Möglichkeiten, denn alles Folgende baut auf dem auf, was sich schon getan hat. So ist alles Geschehen in der belebten und unbelebten Natur, ebenso in der Kultur eine Evolution.

Folglich gilt zweierlei: Kreative Ideen, Überzeugungen, persönliche Wertungen und alles, was Menschen empfinden und denken, entstehen im materiellen Raum des eigenen Körpers und der ebenso materiellen Umwelt. Es gibt keine Parallelwelten. Alles ist Sache der Menschen selbst. Sie können die materiellen Vorgaben, z.B. als Naturgesetze beschriebene Abläufe, nicht aus den Angeln heben - aber immer selbst bestimmen, wie sie damit umgehen oder diese verändern, umlenken, in der Wirkung hemmen usw.
Andererseits folgt aus dieser Grundannahme kein Determinismus. Geschichte folgt, auch wenn es z.B. BiologistInnen, KreationistInnen oder etliche MarxistInnen anders annehmen, keiner feststehenden Abfolge (Teleologie). Materie ist stattdessen ungeheuer dynamisch und verändert sich zu neuen Stufen, aus denen neue, vorher unbekannte Möglichkeiten entstehen. Es passt daher zur Natur des Menschen, die Gesellschaft als hochkomplexes, dynamisches und vorwärtsdringendes Miteinander vieler Individuen zu sehen. Das folgt aus der Ausstattung des Menschen, der die stoffliche Entwicklung und die Evolution des Lebens in sich trägt, diese aber kraft der ungeheuren Dynamik unzähliger kleinster Bestandteile vor allem in Gehirn und Nervensystem um die neue Qualität kultureller Entwicklung erweitert.

Eine spannende Frage anarchistischer Theorieentwicklung dürfte es sein, die radikale Auffassung von Emanzipation, die Beobachtungen aus der Praxis und das sich ständig erweiternde Wissen aus Natur- und Gesellschaftswissenschaften zusammenzubringen. Anarchistische Theorie muss mindestens so dynamisch sein wie die Welt, das Leben und die Gesellschaft. Das könnte interessante Debatten mit humanistischen Kreisen, gesellschaftlich denkender Wissenschaft und der kreativen, nicht-dogmatischen Ecke des Marxismus ermöglichen. Denn in Anlehnung an viele Ideen von denen ließen sich Teile der hier und vor allem in der Textsammlung "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" entwickelten Theorien als eine Art Materialismus für AnarchistInnen bezeichnen.

Auch die Idee der Emanzipation lässt sich in dieses Gedankengebäude einpassen. Sie bedeutet, den Weg frei zu machen, diese Dynamik zur vollen Entfaltung zu bringen. Es geht nicht darum, die mit einer Tendenz zu Eigenartigkeit und ständiger Weiterentwicklung ausgestatteten Menschen zu zähmen, die Vielfalt und Potentiale in Form und Berechenbarkeit zu zwingen, sondern ihnen im Gegenteil die Chancen zur Entfaltung zu geben. Strukturell konservierende Mechanismen wie Gesetze, die eine - zum Teil lange zurückliegende - Vergangenheit krampfhaft und mittels absurder Apparate wie Polizei und Justiz festzuhalten versuchen, haben mit Anarchie als radikalster Form von Emanzipation ebenso wenig zu tun wie Vetorechte, die Veränderungen schwieriger machen als das Festhalten am Status Quo.


Der Mensch - Völlig losgelöst
Die natürliche Ausstattung des Menschen macht ihn zu einem Wesen, das im Laufe seines Heranwachsens eine hohe Eigenständigkeit erreicht. Die Bauteile des Gehirns sind viele Jahre hochflexibel und um den Geburtstermin herum noch wenig auf irgendeine Form festgelegt. Heranwachsen ist daher ein Prozess des Ausprobierens und eigenen Organisierens. Normen, Traditionen und Gesetze sind künstliche Schranken. Sie sollen das typisch Menschliche, nämlich seine Fähigkeit zur Eigenartigkeit und dynamischen Veränderung (Selbstentfaltung), brechen.
Wenn Anarchie die Abwesenheit von Herrschaft bedeutet, dann heißt das: Von jeder Form der Herrschaft. Es geht als nicht um den Wandel von persönlicher zu (mehr oder weniger) repräsentativer Macht, wie ihn die parlamentarische Demokratie verspricht. Es geht auch nicht um die Frage, wer die Entscheidungen für alle trifft, ob das Volk die Basis als Ganzes oder (wie auch immer) Auserwählte in einem gesellschaftlichen Überbau. Sondern es geht um den Verzicht jeglicher Form von Vorgabe, Gewißheit oder Steuerung außerhalb dessen, was Menschen miteinander vereinbaren - direkt oder in komplexen Kommunikations- und Kooperationsprozessen.

  • Die Seite zu "Was ist der Mensch?" in der Textsammlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen"

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