Herrschaft

KOORDINIERUNG UND KOOPERATION
AUF DER METAEBENE DER GESELLSCHAFT

Die übersehenen Problem aller Modelle: Eliten, Ressourcen, diskursive Macht ...


1. Einleitung
2. Zentrale Steuerung
3. Demokratische Legitimation
4. Räte
5. Die übersehenen Problem aller Modelle: Eliten, Ressourcen, diskursive Macht ...
6. Perspektiven
7. Links

Dass eine zentrale Person oder Institution als Inhaberin der Führung emanzipatorischen Ideen widerspricht, dürfte selbsterklärend sein (auch wenn die Faszination, die eine Stärkung der UNO ständig auszustrahlen scheint, selbst das gar nicht so eindeutig wirken lasst). Die Fragwürdigkeit demokratischer Legitimierung und Entscheidung ist an anderer Stelle intensiv dargestellt.


Unter den verschiedenen Vorschlägen für Rätesysteme fallen ebenfalls diejenigen, welche - Parlamenten oder Regierungen gleich - ohne fortbestehenden Bezug zu ihrer Basis Entscheidungen treffen und durchsetzen können, heraus. Sie stellen formale Machtstrukturen dar, die mit Ideen von Befreiung und horizonaler Gesellschaft wenig gemein haben.

Eines genaueren Blickes bedürfen daher nur die Rätesysteme, die mit den Basisversammlungen verbunden bleiben. In ihnen sind einige Impulse für die Entstehung und Selbstverstärkung von Herrschaft gemildert oder sogar ganz ausgeschaltet. Andere aber verbleiben. Es sind vor allem solche, die erst in neueren Herrschaftsanalysen erkannt wurden. Das legt den Verdacht nahe, dass das Beharren vieler sich herrschaftskritisch gebender Strömungen auf solche Rätesysteme auch mir ihrer bis ins Nostalgische gehenden Verehrung alter Schriften und ihrer AutorInnen einhergeht - eine Debatte um Theorie und Praxis der Emanzipation auf Niveau der heutigen Zeit hat Seltenheitswert.
Daher sollen die Blindflecke der Räte hier kurz benannt werden. Sie gelten immer auch für die noch herrschaftsförmigeren Modelle zentraler Führung oder demokratischer Wahl, die hier wegen ihres auffällig hohen Gehalts an Hierarchie und formaler Macht nicht weiter diskutiert werden.

Elitebildung und Steuerung gesellschaftlicher Abläufe
Gesellschaftliche Eliten, heute vor allem als Funktionseliten in den zentralen Schaltstellen der Beeinflussung formaler und informeller Macht, bilden sich immer - auch unabhängig von den offiziellen Hierarchien. Angesichts erheblicher personeller Überschneidungen beeinflussen sich Eliten und formale Gremien ständig, meist bilden sie eine Handlungs- oder Interesseneinheit. Das gibt ihnen erheblichen Einfluss auf die Geschehnisse in der Gesellschaft.
Räte können dieses Problem nicht lösen. Wer in privilegierter Stellung ist, hat bessere Chancen, als Delegierter bestimmt zu werden. Er/sie kann sich mit mehr Ressourcen um diese Amt bewerben, hat im Amt dann mehr Handlungsoptionen und kann die Machtpotentiale von Amt und Elite miteinander verknüpfen.
Zudem beeinflussen Eliten die Diskurse mehr als andere. Diese wirken wiederum auf die Räte. Schließlich ist ja deren Aufgabe, die Meinung der Vielen einzufangen, die aber in einer diskursiv vermachteten Gesellschaft nicht die Vielfalt der Meinungen Einzelner, sondern die diskursiv geprägte Meinung der scheinbaren Gesamtheit ist. Jedes Gremium, ob nun Rat oder Parlament, wird von den dominenten Deutungen und Wertungen beeinflusst - mitunter sogar besonders stark, wenn es auf eine Basiskoppelung achten muss statt in einer abgeschirmten eigenen Welt zu agieren.

Privilegien und Hierarchien schaffen den Typus des Machtmenschen
Es wäre geradezu geschichtslos, davon auszugehen, dass guter Wille allein reicht, um Menschen an ihre Ideale zu binden. Vor allem übersieht eine solche rosarote Brille die Eigendynamik der Selbstvergewisserung, die auf den Ebenen von Elite und entscheidungskompetenten Gremien vorherrscht. Es bedarf keines spürbaren Schrittes vom guten Willen zum Missbrauch der Macht, sondern die Übergänge sind fließend und eingebettet in das beruhigende Gemeinschaftsgefühl, einer unter vielen zu sein, die in den Sphären der Macht so ticken und sich in gleiche Richtungen verändern. So ist die Veränderung kaum noch spürbar.

Janet Biehl (1998): Der Libertäre Kommunalismus (S. 11 und 118)
Einmal im Besitz staatlicher Amtsgewalt, verloren überzeugte Sozialisten, Kommunisten, ja selbst Anarchisten ihre moralische und politische Integrität. Diese "Rück-Bildung" ist wirklich die Regel; sie ist vorhersehbar und anscheinend unvermeidlich.

Definitionsmacht über die Interpretation des Geschehens
Imperatives Mandat und Basiskopplung sind stumpfe Schwerter, denn die Basis kann die Einhaltung nicht selbst kontrollieren. Bei öffentlichen Sitzungen der Räte oder Live-Übertragungen mit neuesten Techniken ist das vielleicht noch Einigen möglich, die ausreichende Zeit haben (also je nach gesellschaftlichen Verhältnissen vielleicht wieder nur die Privilegierten). Ansonsten sind die, die eineN DelegierteN entsandt haben, vor allem auf deren eigene Schilderung angewiesen. Protokolle oder Berichte anderer Beteiligter können ebenso von Interessen gesteuert sein wie von der gemeinsamen Anstrengung aller Delegierte, im Amt zu bleiben. So werden sie - bei aller Konkurrenz im Entscheidungskampf - ein Interesse haben, die Legitimation des Rates aufrechtzuerhalten.

Privilegien zumindest auf Zeit
Selbst wenn der Mechanismus des imperativen Mandates und der jederzeitigen Abwählbarkeit funktionieren würde, weil die diskursive Steuerung der Wahrnehmung von Ratsdebatten nicht so stark prägt, wäre die Mitarbeit im Rat dennoch ein Privileg auf Zeit. Denn allein die Kontakte zu anderen Personen und Räten, die dort geknüpft werden können, meist aber auch der bessere Zugang zu Wissen und Ressourcen schafft mehr Unterschied zu der "Basis" als das bloße Dasein als DelegierteR.

Praktisch haben die beiden vorgenannten Punkte erhebliche Auswirkungen. Wenn heute in politischen Bewegungen, wo Basisdemokratie hoch im Kurs steht (z.B. bei bürgerlichen und - das Wort wird da etwas seltsam benutzt - anarchistischen Gewaltfreien), Bezugsgruppen und SprecherInnenräte gebildet werden, so dient das praktisch der optimierten Weitergabe von zentralen Entscheidungen an die Basis, und nicht umgekehrt. Denn neben dieser Rätestruktur existieren die informellen Eliten, die ihre Vorschläge in den SprecherInnenrat einbringen. Ihre steuernde Macht reicht fast immer, um sich auch durchzusetzen, so dass dann der als basisdemokratisch verschleierte Rückfluss der Informationen in die Bezugsgruppen eine perfekt funktionierende Befehlskette von oben nach unten bedeutet. Selten fällt das auf, weil ja scheinbar alle die gleichen Möglichkeiten besitzen.

Innen und Außen müssen definiert sein
Wenn Räte auf Basisversammlungen fußen, wie es in der Basisdemokratie ja der Fall ist, dann tragen sie die gesamte Problematik der Demokratie mit sich. Denn deren Entscheidungskultur ist mitnichten frei von Herrschaftsförmigkeit. In jedem Fall aber bedarf sie der Definition einer Basiseinheit, dem "demos". . Aber wie kommt die Abstimmungsgrundeinheit zusammen? Ein Verfahren dazu kann nicht basisdemokratisch gemeinsam entwickelt und beschlossen werden, denn zum Prozedere der Basisdemokratie gehört die Existenz des "demos", also der Abstimmungsgemeinschaft, bereits dazu. Wer abstimmen darf und wer nicht, muss vorher feststehen - erst recht, wenn auch noch Konsensverfahren angewendet werden, d.h. jede einzelne Person über Vetorechte verfügt.

Die offene Frage der Macht: Was tun mit Abweichung?
Ebenfalls gar nicht erklärt das Modell der Räte die Frage der Durchsetzung von Macht. Zwar lässt sich verklärend behaupten, die Prozesse liefen ja einvernehmlich, also bedürfte es keiner Durchsetzung. Aber das ist nicht nur weltfremd hinsichtlich immer existierenden Desinteresses an Detailfragen, der Verhinderung zur Teilnahme an Debatten oder der späteren Geburt bzw. dem späteren Hinzukommen zu einer Debatte. Es blendet auch aus, dass gleiche Beschlüsse durchaus von den Beteiligten unterschiedlich aufgefasst worden sein können - was sich erst im Zuge der Umsetzung zeigt.
In den Vorschlägen für Konsensverfahren zeigen sich die Probleme: Wenn jemand ein Veto einlegt und - wir nehmen mal gutmütig an, dass so etwas passiert - auch nach mehreren Einigungsversuchen dabei bleibt, ist eines der Modelle, dass die Person dann die Gruppe verlässt. Bei einer Theater-AG oder Politgruppe ist das ja denkbar, aber nicht bei der Basiseinheit der Gesellschaft. Denn austreten aus der Gesellschaft ist nicht möglich. Es bliebe also bei der Diskrepanz. Was nun tun? Braucht jeder Rat eine Polizeitruppe? Und vielleicht auch noch ein Verwaltungsgericht, um nicht hinter die Standards der doch ziemlich herrschaftsförmigen bürgerlichen Demokratie zurückzufallen?

Im Original: Panzer und Knäste für die Räte?
Aus einer Debatte auf der Hoppetosse-Mailingliste
Einleitung: Im Herbst/Winter 2001 tobte auf der Hoppetosse-Mailingliste ein Streit um die Frage, ob Menschen ohne jegliche Herrschaftsstruktur in "Freien Vereinbarungen/Kooperationen" zusammenleben und -agieren können oder ob es einer maximal kontrollierten Struktur kollektiver Entscheidungsfindung und -durchsetzung bedarf. Hier folgt die Dokumentation um das zweite - auszugsweise:
mehrfach kam hier nun die frage, wie unter den bedingungen sozialistischer raetedemokratie entscheidungen durchgesetzt werden sollen.
die frage ist nun etwas diffizil, weil wohl alle in dieser liste hier bereits erfahrungen mit der gewaltsamen durchsetzung von staatlichen entscheidungen gemacht haben. deshalb ist es auch leicht, mit dem finger auf jene zu weisen, die ein staatliches gewaltmonopol und die legitimitaet von entscheidungen nicht generell, sondern nur unter vermachteten bedingungen, ablehnen. ebendeshalb verlangt die frage natuerlich auch in einer sozialistischen raetedemokratie nach einer antwort.
in der tat muessen da auch entscheidungen durchgesetzt werden: durch dafuer beauftragte menschen, nenne man sie auch behoerden, gerichtsvollzieherIn, polizistIn etc...
und? dagegen kann bereits generell nur jemand was haben, der die strukturelle gewalt dieses staates nicht sieht und bloss meint, der bulle uebe (obwohl in wirklichkeit bloss scherge des kapitals) bereits dadurch "in seiner person" macht und herrschaft aus. das ist ein personalisierender trugschluss.
auch in einer zukuenftigen gesellschaft muss hingegen zwischen interessen entschieden werden. weiterhin muss es in bestimmten bereichen gesellschaftliche einheiten geben, die sich mit der regelung bestimmter fragen (=behoerden) befassen muessen. „der staat stirbt“ zwar „ab“ (engels), aber eben nur in dem masse, wie die bedingungen wegfallen, die eine regelung gesellschaftlich notwendig machen. und deshalb ist es einerseits notwendig, ein bestimmtes mass organisierter durchsetzungsmacht von entscheidungen zur verfuegung zu haben; andererseits werden diese entscheidungen nicht mehr mit derart brachialen methoden (knast, pruegelorgien, zwangspfaendungen etc...) zur durchsetzung gelangen, weil die oekonomische in-konkurrenz-setzung der individuen weggefallen ist.
dass hingegen ueberhaupt gesellschaftlich getroffene entscheidungen auch durchgesetzt werden koennen, ist bedingung von freiheit. weil naemlich eine materiell verstandene freiheit nicht nur die „freiheit von...“ (als abwesenheit von zwang), sondern insbesondere auch die „freiheit zu...“ (umsetzung von entscheidungen in die realitaet) ist.

Gegenfrage:
Noch was: wie soll denn nun deiner Meinung nach mit Menschen in einer Radikaldiktatur der Mehrheit über die Minderheit (sorry, Radikaldemokratie natürlich ;-) ) umgegangen werden, die sich doch glatt nicht der gesamtgesellschaftlichen Entscheidung beugen wollen - das sich ihr immer alle fügen halte ich doch für eher unwahrscheinlich? „Notfalls“ dann vielleicht doch Panzer, Knäste etc.?

Antwort:
tja, gute frage. notfalls vielleicht schon?


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