Ende Gelände

GEWALTMONOPOL DES STAATES

Widerstandsrecht?


1. Die moderne Gesellschaft: Demokratie plus Rechtsstaat
2. Herrschaft und Gewalt
3. Propaganda "Gewaltenteilung"
4. Widerstandsrecht?
5. Links

Aus Kurt Sontheimer (1983), Zeitenwende. Hoffmann und Campe, Hamburg (S. 254 ff., zitiert nach Informationen zur politischen Bildung 200, S. 28)
Die Mißachtung der politsichen Entsheidungen einer durch demonkratische Wahlen legitimierten Mehrheit in der Demokratie bedroht die Funktionsfähigkeit und die Stabilität jeder demokratischen Ordnung. Wenn die Mehrheitsregel nicht mehr gilt, wenn nciht anerkannt wird, was eine parlamentarische Mehrheit und die von ihr getragene Regierung beschließt, wenn es gar ein Recht auf Widerstand geben soll gegen Entscheidungen, die einer aktiven Minderheit von Bürgern aus irgendwelchen Gründen, und mögen sie sich dabei auch auf das Prinzip Leben berufen, mißfällt, dann ist der Verfall der rechtsstaatlichern Demokratie programmiert, weil es keine allgemein verbindlichen und anerkannten Kriterien für politische Entscheidungen mehr gibt.

Aus: Peter Graf Kielmansegg, Die Bändigung der Gewalt, in: Gegenwartskunde 2179, Verlag Leske und Budrich, Leverkusen, S. 153 ff., zitiert nach: Informationen zur politischen Bildung 200 (S. 21)
Wie immer man die Bedingungen, die die Aufkündigung des staatlichen Gewaltmonopols, den gewaltsamen Angriff auf den Staat rechtfertigen können, im einzelnen bestimmt, es ist evident, daß in der Bundesrepublik nicht eine einzige auch nur im Ansatz gegeben ist.

Grundgesetz, Art. 20, Abs. 4:
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Hessische Verfassung, Artikel 146
Es ist Pflicht eines jeden, für den Bestand der Verfassung mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften einzutreten.
Artikel 147
Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht. Wer von einem Verfassungsbruch oder einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, hat die Pflicht, die Strafverfolgung des Schuldigen durch Anrufung des Staatsgerichtshofes zu erzwingen. Näheres bestimmt das Gesetz.


Im Original: Gegengewalt ... von unten
Aus Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): „Multitude“, Campus Verlag in Frankfurt (S. 376 f., mehr Auszüge ...)
Die aufkommenden Chancen für Demokratie haben die Souveränität dazu gezwungen, immer klarere Formen der Unterdrückung und Gewalt anzuwenden.
Die Kräfte der Demokratie müssen dieser Gewalt der Souveränität entgegenwirken, jedoch nicht in symmetrischer Weise als deren Gegenpol. Wenn man in rein binären Oppositionen denkt, wäre es logisch, die Demokratie - im Gegensatz zum permanenten Krieg der Souveränität - als eine absolut friedliche Macht zu postulieren, aber solche begrifflichen Gegensätze entsprechen eher selten der wirklichen Situation. Die entstehenden Kräfte der Demokratie finden sich heute in einem Kontext der Gewalt wieder, den sie nicht einfach ignorieren oder aus der Welt wünschen können. Demokratie nimmt heute die Form eines Rückzugs, einer Flucht, eines Exodus an, weg von der Souveränität, aber wie wir aus der biblischen Erzählung nur zu gut wissen, lässt der Pharao die Juden nicht in Frieden fliehen. Erst müssen die zehn Plagen über Ägypten kommen, ehe er sie gehen lässt; Aaron muss gegen die sie verfolgende Streitmacht des Pharao ein Rückzugsgefecht austragen; und schließlich muss Moses das Rote Meer mit seinem Stab teilen und über den Soldaten des Pharao zusammenschlagen lassen, ehe der Exodus erfolgreich geschafft ist. Diese biblische Erzählung zeigt, dass es keine dialektische Regel gibt (wie sie in den pazifistischen Theorien so häufig zu finden sind), wonach das Verhalten der Multitude während des Exodus das genaue Gegenteil zur Attacke der souveränen Macht sein muss, sie also der repressiven Gewalt mit völliger Gewaltlosigkeit begegnen müsste. Der Exodus war niemals und wird niemals irenisch sein, das heißt absolut friedlich und versöhnlich. Moses und Aaron waren es nicht und erst recht nicht die zehn Plagen, die über Ägypten kamen. Jeder Exodus erfordert aktiven Widerstand, ein Rückzugsgefecht gegen die Verfolger der Souveränität. "Flieh", sagt Gilles Deleuze, "aber derweil du fliehst, greif nach einer Waffe." (Deleuze/Parnet 2002, 136)
Der Exodus und die Entstehung der Demokratie sind also ein Krieg gegen den Krieg. Damit scheinen wir jedoch in eine Begriffsverwirrung zu geraten. Wenn Demokratie schon nicht die der Souveränität genau entgegengesetzte Strategie anwenden und deren permanentem Krieg den reinen Pazifismus gegenüberstellen kann, ist es dann zwangsläufig so, dass es gar keinen Unterschied mehr gibt? Ist Krieg gegen den Krieg nicht schlichter Unsinn? Zu solchen Verwirrungen kommt es, wenn wir nur in Gegensätzen denken. Eine demokratische Anwendung von Zwang und Gewalt ist weder das Gleiche noch das Gegenteil zum Krieg der Souveränität; es ist etwas anderes.

S. 377
Das zweite Prinzip der demokratischen Anwendung von Gewalt ist weitaus substanzieller, aber auch vielschichtiger: Gewalt wird nur zu Verteidigungszwecken angewandt. Auch dieser Punkt lässt sich mit dem Bild des fliehenden jüdischen Volkes illustrieren, das sich gegen die verfolgenden Streitkräfte des Pharao zur Wehr setzt. Das moderne Extrembeispiel für die Notwendigkeit defensiver Gewalt ist der Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die nationalsozialistischen Besatzer.

S. 380
Das dritte Prinzip demokratischer Gewaltanwendung hat mit der demokratischen Organisationsform als solcher zu tun. Wenn die Anwendung von Gewalt gemäß dem ersten Prinzip stets dem politischen Prozess und der politischen Entscheidung untergeordnet ist und wenn dieser politische Prozess demokratisch ist, also entsprechend der horizontalen, gemeinsamen Organisationsform der Multitude, dann muss auch die Anwendung von Gewalt demokratisch organisiert sein. Kriege, die von souveränen Mächten geführt wurden, machten stets die Aussetzung von Freiheiten und Demokratie erforderlich. Die organisierte militärische Gewalt bedarf strikter, nicht in Frage gestellter Autorität. Die demokratische Gewaltanwendung jedoch muss vollkommen anders sein. Bei ihr kann es keine Trennung zwischen Mittel und Zweck geben.
Zu diesen drei Prinzipien jeglicher demokratischer Gewaltanwendung muss noch eine Kritik der Waffen hinzukommen, das heißt ein Nachdenken darüber, welche Waffen heute wirkungsvoll und angemessen sind. Noch immer sind die alten Waffen und Methoden vorhanden, vom passiven Widerstand bis hin zur Sabotage, und in bestimmten Kontexten können sie noch immer Wirkung zeigen, aber sie reichen bei weitem nicht mehr aus.

S. 382
Es geht heute darum, neue Waffen für die Demokratie zu erfinden. Und es gibt bereits zahllose kreative Versuche dazu.4 Einer davon sind beispielsweise die von Queer Nation durchgeführten "kiss-ins", bei denen Männer Männer und Frauen Frauen an öffentlichen Orten küssen, um homophobe Menschen zu schockieren, wie das etwa bei einem großen Mormonentreffen in Utah geschehen ist. Eine andere Möglichkeit wären die verschiedenen Formen von Karneval und Mimikry, wie sie heute bei Anti-Globalisierungsprotesten häufig zu finden sind. Millionen von Menschen einfach zu einer Demonstration auf die Straße zu bringen ist ebenso eine Art Waffe wie, auf ganz andere Weise, der Druck illegaler Einwanderung. All diese Anstrengungen sind nützlich, reichen aber zweifellos nicht aus. Wir müssen Waffen schaffen, die nicht nur destruktiv, sondern selbst eine Form konstituierender Macht sind, Waffen, die fähig sind, Demokratie aufzubauen und die Streitkräfte des Empire zu besiegen. Diese biopolitischen Waffen werden vermutlich eher denen ähneln, die Lysistrata anwandte, um die Kriegsentscheidung der athenischen Männer zu unterlaufen, als denjenigen, die heute von Ideologen und Politikern in Umlauf gebracht werden. Man darf nicht ganz zu Unrecht darauf hoffen, dass Krieg in einer biopolitischen Zukunft (nach dem Sieg über die Biomacht) nicht mehr möglich sein und die intensive Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Singularitäten (Arbeitern und/oder Bürgern) ihn endgültig aus der Welt schaffen wird. Ein einwöchiger globaler biopolitischer Streik würde jeden Krieg verhindern. Wir können uns jedenfalls durchaus den Tag vorstellen, an dem die Multitude eine Waffe erfindet, mit der sie sich nicht nur selbst verteidigen kann, sondern die sich auch als konstruktiv, expansiv und konstitutiv erweist. Es geht nicht darum, die Macht zu übernehmen und Armeen zu befehligen, sondern darum, deren bloße Möglichkeit zu zerstören.


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