Ende Gelände

ZUR GEWALTFRAGE

Was ist eigentlich Gewalt?


1. Um was es geht
2. Was ist eigentlich Gewalt?
3. Verwirrung hoch zehn: 20. Juli 1944
4. Gewalt als zentraler Punkt - pro und contra
5. Perspektiven
6. Vermeintliche Ursachen von Gewalt
7. Links

Die Definition ist bereits eine schwierige Sache. Was Gewalt ist, wird von Seiten gewaltfreier Aktionsgruppen auch kaum geklärt. Schlimmer: Das ist kein Versehen, sondern hat Methode. Gewaltfreiheit ist (wie Militanz auch) nämlich kein Ideal, sondern eine Imagefrage und identitätsstiftend für das "Wir" der Zusammenhänge. Daher wird Gewaltfreiheit auch „verkauft“. Aktionsformen je nach öffentlicher Beliebtheit als gewaltfrei eingemeindet oder eben ausgegrenzt werden. Öffentliche Distanzierungen von militanten Aktionen sind häufig, meist bekanntgemacht über der bürgerlichen Presse oder sogar gegenüber dem Staat (Polizei, Gerichte usw.), denen damit ein erheblicher Vorteil in der öffentlichen Interpretation verschafft wird.
Dieser Zusammenhang zwischen Gewaltfrage und PR-Aspekten ist auffällig. So werden Aktionsformen gegen Atomkraft oder Gentechnik, die noch vor einigen Jahren von gewaltfreien Gruppen abgelehnt wurden, heute als gewaltfrei bezeichnet werden - und zwar deshalb, weil sie in der Öffentlichkeit positiv rüberkamen und sich so imagemäßig gut nutzen ließen. Das gilt z.B. für Gleissabotage oder Genfeldzerstörung. Solche seltsamen Uminterpretationen machen deutlich, dass eine besondere Rolle der Gewaltfrage schon aus Definitionsproblemen kaum umsetzbar wäre.
Selbst die Gewalt gegen Menschen unterliegt Veränderungen in der Wahrnehmung. Der Antrieb auch dieser Wandlungen ist propagandistischer Art: Wahlweise als militant oder gewaltfrei werden Ereignisse dargestellt, wenn mit ihnen geworben oder durch sie abgeschreckt werden soll. Der Aufstand der Zapatistas ab 1994 in Mexiko, die Blockade der WTO-Sitzung 1999 in Seattle oder die Vertreibungen nordafrikanischer Diktatoren durch ihre protestierende Bevölkerung - im Lichte dieser epochalen Ereignisse sonnt sich jede_r gern. Entsprechend werden die gleichen Ereignisse mal als gewaltfrei und mal als gewalttätig dargestellt. Tatsächlich waren sie Mischungen, und die Akteur_innen veränderten ihre Handlungsformen auch im Laufe der Auseinandersetzungen und je nach Notwendigkeit.

Die Debatte um Gewalt klärt den Begriff selten oder nie. Stattdessen erscheinen Gewaltfreiheit und Militanz als Modeworte und Label, wobei Aktionsformen je nach öffentlicher Reaktion eingemeindet oder ausgegrenzt werden. Die weitergehende Differenzierung zwischen verschiedenen Typen und Qualitäten von Gewalt ist dann gar nicht mehr vorgesehen. Wer darauf aber verzichtet, blendet einerseits Motive und Ziele aus dem Handeln aus. Auch geht dann der Unterschied zwischen struktureller Gewalt bzw. Gewalt "von oben" sowie der Gewalt, die befreiende Ziele hat und sich gegen strukturelle Gewalt richtet (soziale Notwehr), verloren. Das macht politische Akteur_innen zu ideologischen Hilfstruppen des Staates, der nicht um die Legitimation seiner Gewalt kämpfen muss - er hat das Gewaltmonopol. Wenn Gewalt in jeder Form gleich bewertet wird, gibt es auch keine Unterscheidung mehr zwischen Angriff und Verteidigung, Aggression und Notwehr, Übergriff und Selbstverteidigung.

Im Original: Definitionen
Aus der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung zu "Gewalt"
Allg.: G. bezeichnet den Einsatz von physischem oder psychischem Zwang gegenüber Menschen sowie die physische Einwirkung auf Tiere oder Sachen.
Soziolog.: G. bedeutet den Einsatz physischer oder psychischer Mittel, um einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten G. durch Gegen-G. zu begegnen.
Pol.: Mit dem Begriff Staats-G. werden die (legitim angewandten) Mittel zur Durchsetzung der herrschenden Rechtsordnung bezeichnet. Es wird zwischen Gebietshoheit (Herrschaftsmacht über ein Gebiet und dort lebende Menschen) und Personalhoheit (alle Angehörigen dieses Staates) unterschieden.


Gewalt bei Wikipedia
Unter den Begriff Gewalt (von althochdeutsch waltan – stark sein, beherrschen) fallen Handlungen, Vorgänge und Szenarien, in denen bzw. durch die auf Menschen, Tiere oder Gegenstände beeinflussend, verändernd und/oder schädigend eingewirkt wird. Gemeint ist das Vermögen zur Durchführung einer Handlung, die den inneren bzw. wesentlichen Kern einer Angelegenheit oder Struktur (be)trifft.
Der Begriff der Gewalt und die Bewertung von Gewalt ändert sich im historischen und sozialen Kontext. Auch wird er je nach Zusammenhang (etwa Soziologie, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft u.a.) in unterschiedlicher Weise definiert und differenziert. Im soziologischen Sinn ist Gewalt eine Quelle der Macht. Im engeren Sinn wird darunter häufig eine illegitime Ausübung von Zwang verstanden. Im Sinne der Rechtsphilosophie ist Gewalt gleichbedeutend mit Macht (englisch power, lateinisch potentia) oder Herrschaft (lateinisch potestas). Zivilrecht und Strafrecht basieren auf dem allgemeinen Gewaltverbot.
...
Die Definition des Begriffs variiert stark in Abhängigkeit von dem jeweiligen Erkenntnisinteresse.
Eine ursprünglich positive Begrifflichkeit ist bei „gewaltige Wirkung“ oder „gewaltige Leistung“ erkennbar, wenn eine über das übliche Maß hinausgehende Leistung anerkennend beschrieben werden soll.
In Begriffen wie Gewaltmonopol des Staates oder Gewaltenteilung wird der Terminus Gewalt neutral verwendet.
Die im heutigen Sprachgebrauch verbreitete negative Belegung ist in Begriffen wie Gewalttat, Gewaltverbrechen, Gewaltverherrlichung, Vergewaltigung wie auch im Distanz schaffenden Begriff Gewaltlosigkeit enthalten.
Ein engerer Gewaltbegriff, auch als „materielle Gewalt“ bezeichnet, beschränkt sich auf die zielgerichtete physische Schädigung einer Person. Der weiter gefasste Gewaltbegriff bezeichnet zusätzlich die psychische Gewalt (etwa in Form von Deprivation, emotionaler Vernachlässigung, „Weißer Folter“, verbaler Gewalt, Emotionaler Gewalt) und in seinem weitesten Sinne die „strukturelle Gewalt“. Zudem fällt Vandalismus unter diesen Gewaltbegriff, wenngleich sich die Einwirkung nicht direkt gegen Personen richtet.


Quelle des folgenden Absatzes einschl. der Links
Gewalt (eine Bildung des althochdeutschen Verbes walten, bzw. waltan – stark sein, beherrschen) bezeichnet von seiner etymologischen Wurzel her das 'Verfügenkönnen über innerweltliches Sein'. Der Begriff hebt ursprünglich also rein auf das Vermögen zur Durchführung einer Handlung ab und beinhaltet kein Urteil über deren Rechtmäßigkeit. Im heutigen Sprachgebrauch wird "Gewalt" dagegen stark wertend verwendet. Eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs gibt es nicht, da seine Verwendung in Abhängigkeit von dem spezifischen Erkenntnisinteresse stark variiert. Dieses Fehlen einer belastbaren Definition verursacht insbesondere Probleme bei der statistischen Erfassung von Gewaltdelikten. Assoziierte Termini sind heute vor allem Aggression, Machtmissbrauch, Körperkraft oder Zwang. Gewalt ist in diesem Sinne definiert als Einwirkung auf einen anderen, der dadurch geschädigt wird. Als Gewaltformen werden psychische oder physische, personale oder strukturelle, statische oder dynamische sowie direkte oder indirekte unterschieden. Ein enger, auch als "materialistisch" bezeichneter Gewaltbegriff beschränkt sich auf die zielgerichtete, direkte physische Schädigung einer Person, der weiter gefasste Gewaltbegriff bezeichnet zusätzlich die psychische bzw. verbale Gewalt, teilweise auch den Vandalismus und in seinem weitesten Sinn die "strukturelle Gewalt". Wesentliche Anwendung findet der Begriff "Gewalt" in der Staatsphilosophie, der Soziologie und der Rechtstheorie.

Aus den Definitionen ergeben sich bereits mehrere Schwierigkeiten für eine Praxis von Protest. Wenn alle Zwangsmomente, also auch jeder psychische Druck, als Gewalt gewertet würden, bliebe gar keine Handlungsoption mehr offen außer solcher verbalen oder schriftlichen Überzeugung von Menschen, bei der auch keinerlei Dominanzen auftreten dürfen. Das ist weitgehend unmöglich. Es würde zudem jedes bestehende soziale Machtgefälle akzeptieren, dürfte also in Richtung der Privilegierten und Machtinhaber_innen nur als Bittstellung auftreten. Ein politischer Erfolg von Protest wäre dann kaum noch möglich. Denn wenn kein weitergehender Handlungsdruck aufgebaut werden könnte und das der Person, die für eigene Ideen gewonnen werden soll, auch bekannt ist, gibt es für Politiker_innen, die vor allem Opportunist_innen der auf sie einwirkenden Kräfte sind, keinen Grund zum Handeln. Fraglich wäre schon, ob unter solchen Prämissen der direkte Kontakt überhaupt hergestellt werden könnte. Politischer Protest vermittelt sich meist über öffentliche Wirkung, mediale Berichterstattung und mitunter auch direkte Einwirkung, selten aber als Überzeugungsarbeit im netten Gesprächsrahmen. Ob gewollt oder nicht, vollziehen Politiker_innen, Firmenleitungen und Verbandsführungen öffentlichen Druck in ihrem Verhalten nach, wenn sie das für opportun halten. Dafür bedarf es keines direkten Kontaktes. Öffentlicher Druck aber wäre nach der erweiterten Definition schon Gewalt, psychische Gewalt eben.
Ein zweiter Problempunkt ist die Frage von Gewalt gegen Sachen. Es ist noch nicht lange her, da war diese in vielen gewaltfreien Kreisen auch verpönt. Heute ist sie weitgehend akzeptiert - obwohl jeder Angriff auf Sachen einen psychischen Druck auf die dahinterstehenden Menschen, z.B. deren Eigentümer_innen, ausübt. Das ist in der Regel auch gewollt. Somit lässt sich sagen: Im erweiterten Sinne des Gewaltbegriffs ist jede politische Aktion Gewalt. Das gilt auch umgekehrt: Ob eine Polizeieinheit nun prügelt, in der verschleiernden Frage "Gehen Sie freiwillig?" die Androhung von Gewalt unübersehbar enthalten ist oder das Wissen um die Existenz und das mögliche Eingreifen der Ordnungstruppen besteht, spielt beim erweiterten Gewaltbegriff keine Rolle. Alles ist eine Beeinflussung, die das Gegenüber zu einem Handeln bringen will, das er nicht freiwillig zeigt.

Insofern bleibt zumindest in der politischen Debatte meist recht unklar, was denn eigentlich Gewalt bedeutet. Dann aber ist auch nicht durchschaubar, welche Protestform gewaltfrei ist und welche nicht mehr.

  • Vergleich Gewaltfreie Aktion und Direct Action

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