Ende Gelände

WAS GING AB BEIM ATOMFORUM IN STUTTGART?

Reclaim the streets


1. Planung, Aktionsideen, Info-Übersicht
2. Bericht von den Aktionen
3. Proteste zur Eröffnung des Atomforums
4. Reclaim the streets
5. Versuch einer ersten Einschätzung
6. Auswertung der Aktionstagen vom 14. bis 16. Mai 02
7. Weiterer Auswertungstext: 1. Inhaltliche Vermittlung, Medien und Öffentlichkeit
8. Widerstand, Direkte Aktionen
9. Situation im UWZ, Direct-Action-Vorbereitung
10. Strafprozess gegen Aktivist*innen auf dem Hochhausdach

Nach einem Plenum im Park versammelten sich etwa 60 - 80 Leute gegen 20 Uhr vor der Liederhalle, auf der anderen Straßenseite ... unangemeldet (entgegen Informationen, die vorher umher geisterten). Darunter sehr viele junge Menschen ... ein Gemisch aus Punks, Autonomen und den üblichen Verdächtigen (Antiatombewegte usw.), die schon am Morgen zur Eröffnung des Atomforums zugegen waren. Die Beschallung besorgte das freie Radio Stuttgart, das uns bis tief in die Nacht mit Hip Hop, Drum&Bass, Techno usw. versorgte, über den Hintergrund von RTS berichtete & Verlauf immer wieder Infos & Meldungen über die sich bewegende Party verbreitete. Leider gab es nur wenige Ghettoblaster, dazu ein selbstgebasteltes Soundsystem in einem Einkaufswagen (Dank an die engagierten Aktivistas!), dass von einigen PolizistInnen schnell registriert wurde. Wir waren mit einem Handkarren angereist, mit dem wir Ghettoblaster, Pink-Silver-Klamotten, Flugis usw. transportierten.

Von Anfang an waren wir mit einem massiven Polizeiaufgebot in der Nähe der Liederhalle ... Posten auf dem Gelände des Tagungsortes & viele Wannen. Schnell formierten sich vor der Strasse zwischen Liederhalle und uns Cops in voller Montur. Nach einem ersten Versuch, das Soundsystem anzugreifen, setzten die PolizistInnen Sturmhauben auf. Alles sah für mich sehr deutlich danach aus, als wollte die Polizei die Party sofort unsanft beenden. Es war eigentlich klar, dass jetzt der erste Ortswechsel angesagt war. Während viele noch Witze rissen, handelten ein paar Menschen sehr schnell & durchaus dominant, verbreiten die Info, sich in kleinen Grüppchen zu einem neuen Treffpunkt (Wilhelmsplatz) zu bewegen. Auf einen Zuruf hin drehten wir uns um und die ersten fingen an in zu rennen. Sehr träge (aus meiner Sicht) setze sich der Rest in Bewegung ... . Als ich um die Ecke bog, konnten wir nur noch sehen, wie die Polizei uns verfolgte ... wir über Strasse & Bahnschienen in eine Seitenstrasse ... keine Polizei mehr zu sehen. Während wir durch die Innenstadt laufen, ertönt "Sound of da Police" aus dem Radio.
In diesem Zeitraum wurden nach Berichten anderer TeilnehmerInnen ein Transparent und das Soundsystem im Park bei der Liederhalle konfisziert. Dort wurden einige Menschen von der Polizei verprügelt und zu Boden geworfen.

Nach einiger Zeit trudeln am Wilhemsplatz tatsächlich ein paar Kleingruppen ein, zusammen etwa 30 Leute. Wir gehen auf die Kreuzung, halten einige Autos an und verteilen die Indymedia Printausgabe ... leider fehlt uns ein Transpi, um den Verkehr richtig abzusperren & inhaltlich zu vermitteln. In einer kleineren Strasse treffen wir auf ein weiteres Grüppchen. Dabei kommt es zu Pöbeleien und Tritten gegen ein Auto, dessen Fahrer aggressiv reagierte ... nicht besonders cool. Peinlich: Als eine Bullenwanne um die Ecke biegt, schreien Wichtigmacker "Weg!" und viele rennen los, ich lasse mich mitreißen, obwohl ich im Nachhinein keine wirkliche Bedrohung erkennen konnte. Als wir eine Unterführung passieren, meint ein Macker, dass er Stress mit den Bullen wolle und rät uns "sich nicht ficken zu lassen" ... würg. (Warum hab ich nicht gemeckert?)
Der nächste Treffpunkt war der Palast der Republik, eine alternative & an diesem Abend gut besuchte Kneipe mit Sitzmöglichkeiten außerhalb. An dieser Stelle gab es eine kurze Straßenblockade mit Transparent. Nach dem Verteilen von Flugblätter und dem Auftauchen der Polizei bewegen wir uns in Richtung Liederhalle, wo sich nach Radioberichten eine zweite Gruppe mit etwa 50 Leuten eingefunden hatte ... dort fußballspielend, tanzend & jonglierend.

Wir nähern uns vom Park her. Als die Gruppe gerade in Sichtweite ist, werden PolizistInnen auf uns aufmerksam und bilden ein Spalier, durch welches der recht enge Weg nicht mehr passierbar. Nach einer kurzen, von mir sehr poserhaft erlebten Debatte, die Kette zu durchbrechen (ohne Transparente, ohne Körperschutz!) kam es auch hier wieder zu panischem Flüchten, bewirkt durch die Rufe einiger Wichtigmacker ("Die Bullen kommen"). Ich gehe mit, da ich selbst nichts sehen konnte und eine Überprüfung im Ernstfall nicht sinnvoll gewesen wäre - im nachhinein bin ich aber skeptisch. Ein paar Menschen lassen sich mehr Zeit, rufen "locker bleiben". An dieser und anderen Stellen zeigte sich ganz deutlich, dass es einen dominanten, tendenziell männerbündischen Klüngel gab, der angab, wohin sich die Party bewegte, im Befehlston mit anderen sprach (jedenfalls wurde es so wahrgenommen).

Nach einem weiteren gescheiterten Versuch, von anderer Seite an die Liederhalle zu gelangen, bewegen wir uns wieder zum Palast. Eine Gruppe blieb dort und versuchte, Kommunikation zu den im Freien sitzenden Gästen aufzubauen. Immer mal wieder kommt es zu kleineren Car Walkings (Besteigen von Autos) und Blockaden auf Zebrastreifen, die auch mit wenigen Leuten zu bewerkstelligen waren.
Ein paar Menschen versuchten erneut, in Zweiergruppen zur Liederhalle zu gelangen - diesmal mit Erfolg: Dort trafen wir auf die Reste der zweiten Gruppe, mit denen zusammen wir zurück zum Palast wandern. Dort haben (mit Abstand) zwei Reihen Cops in Kampfmontur Stellung bezogen. Zuvor waren die PolizistInnen bereits auf das Gelände der Örtlichkeit vorgedrungen, wo neben den Party auch unbeteiligte BürgerInnen saßen; einige Menschen mussten Prügel einstecken.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite können wir gerade beobachten, wie es noch zu kleineren Rempeleien kommt & ein par Menschen in die Polizei rein tanzen. Die Situation stabilisiert sich, die PolizistInnen stehen nur da. Hintergrund für die veränderte Taktik war wohl der Umstand, dass hier feiernde Bürger und ChaotInnen nicht zu trennen waren. PassantInnen überqueren sie Strasse - wir folgen ihnen nach einigem Abwarten.

Ich fange neben ein paar anderen Menschen (viel zu wenig ... immer die üblichen Verdächtigen!) an zu tanzen, zum ersten mal in meinem Leben öffentlich ... wow, das war eine Befreiung für mich! Es kribbelt jetzt noch, wenn ich mich daran zurück erinnere. Wahnsinnig schön, neben anderen Menschen zur Musik zu tanzen, vor den kampfbereiten PolizistInnen zu wirbeln, ohne Angst zu haben. Ab diesem Zeitpunkt machte es mir richtig Spaß, widerständig zu sein. Wie schon am Vormittag dann viel Humor und Situationskomik; inzwischen sind wir aufeinander eingespielt. Spontan ausgedachte Slogans wie "Helme runter und die Welt wir bunter" bringen einige BürgerInnen zum Lachen. Während Pink-Silvers den PolizistInnen Lippenstift anbieten, stelle ich laut redend Polzei und Party gegenüber: "Hier eine Herrschaftsstruktur - dort freie Menschen: Was würden Sie wählen?"
Nach längerer Zeit wandern wir zum Schlossplatz, gefolgt von der Polizei. Anfangs postieren sich dort einige Wannen in Sichtweite. Eine einzelne Gruppe PolizistInnen (drei oder vier Cops), die sich an der Seite der Party aufstellt, werden sofort von Pink-Silver "attackiert" & mit Puscheln begrüßt. Schnell verschwinden sie sichtlich genervt. Nach und nach ziehen die Cops ihre Einheiten ab (bis auf ZivilpolizistInnen), um sie - für uns nicht einsehbar - in einer Seitenstrasse zu sammeln. Dahinter steckte vermutlich eine gewandelte Taktik: So lange wir "brav" sind & keine Strassen besetzen, lässt mensch uns machen. Innerhalb kurzer Zeit ist der Platz mit Kreide bemalt ... überall Sprüche ("Enteignet Banken", "Keine Macht für niemand" usw.). Menschen tanzen, spielen Fußball & verteilen Flugblätter an vorbeigehende BürgerInnen. Richtig schön.

Leute aus der mackerigen Clique drängen darauf, in Richtung Liederhalle vorzudringen. Auf dem Weg durch die Innenstadt kommt es zu sehr unreflektierten Aktionen: Blumenkübel werden umgeschmissen, Telefonzellen und Mülleimer angegriffen, Stühle von Eisdielen heraus gerissen. Willkürlich gewählte Ziele, ohne jede inhaltliche Vermittlung (mal abgesehen von Pizza Hut!). Vermummte StraßenkämpferInnen ziehen, monotone Einheitsslogans ("Atomkraft stopp") brüllend, an wenigen BürgerInnen vorbei ... eine gespenstische Atmosphäre, mit der ich mich nicht identifizieren kann. Ich merke, wie mich das runter zieht und ich nichts daran ändern kann, auch nicht durch Zurufe, locker zu bleiben. Plötzlich das Gefühl, irgendwo ganz weit entfernt zu sein. Mein Eindruck war, dass es hier vor allem um Selbstbehauptung, um die Inszenierung von Männlichkeit und Strassenkämpfermythen ging, gefördert durch den erhöhten Alkoholpegel. Als ich einen der MitläuferInnen nach den Gründen frage meint dieser, dass es ein besonderer Kick wäre. Kopfschütteln. Die Führungsclique ist schon wieder weiter gezogen; irgendwann zerschmettert ein Steinwurf die Seitenscheibe einer Wanne, nach Augenzeugenberichten knapp vorbei am Kopf eines Menschen. Nach einer Diskussion mit Leuten, die vorher nicht interveniert haben, jetzt aber darüber laabern, sich vor den PolizistInnen von den Aktionen zu distanzieren ("Wir waren das nicht") ziehe ich davon. Weg ist meine Ausgelassenheit, Entspannung und Freude von vorher. Niedergeschlagen ... und persönlich eingenommen von dem Geschehen. Auf dem Weg zurück treffe ich auf Freunde, falle einem von ihnen in den Arm ... kurz davor, zu weinen.

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