Im Namen des Volkers

GRUNDRECHTEREPORT 2005: AUSZUG AB SEITE 127

Auch Nervensägen haben Grundrechte: Gießener Polizeistrategien

Man kann sie schon nervig finden, Aktivisten in Mittelhessen, die sich gegen Gefahrenabwehrverordnungen, freiwilligen Polizeidienst und Polizeirepression wenden. Nicht nur ihre Themen und ihre Präsenz stören Politik und auch Polizei, es ist die Respektlosigkeit, die diese auf die Palme bringt. Was anderswo jedoch als Provinzposse belächelt würde, führt in Gießen zu größeren Konflikten zwischen der Staatsmacht auf der einen und ihren Gegnern auf der anderen Seite. Vor allem sorgt Aktivismus seitens der Behörden dafür, dass in Gießen um bürgerliche Freiheiten gefürchtet werden muss.

Der erste Akt
Am Anfang stand eine Versammlung. Die Koalition aus CDU, FWG und FDP hatte beschlossen, auch in Gießen eine so genannte Gefahrenabwehrverordnung einzuführen. Schon der Entwurf enthielt Regelungen, die klarmachten, dass eine Handhabe geschaffen werden sollte, um unerwünschte Menschen aus der Innenstadt zu entfernen. Hiergegen erhob sich Protest. Schon kurz nach der Anmeldung während der entscheidenden Sitzung am 12. Dezember 2002 wurde klar, dass der Protest den Offiziellen von Stadt und Polizei ein Dorn im Auge war. Zunächst wurde mit gewaltbereiten "Autonomen" von außerhalb argumentiert, um ein großes Polizeiaufgebot zu rechtfertigen und den Protest öffentlich zu denunzieren. An scheinend um die Wirkung zu verstärken, erfand der damalige Bürgermeister und jetzige Oberbürgermeister Haumann (CDU) eine Bombendrohung, die es nie gab. Zuletzt kam es noch zu zwei Verhaftungen gegen Personen, die von der Stadtregierung anscheinend als besonders gefährlich angesehen wurden. Sie seien auf frischer Tat beim Ansprühen von Wänden erwischt worden, wurde in der Presse mitgeteilt. Allerdings wurde dieser Vorwurf nie bewiesen, ein Verfahren fand nicht statt.

Nachspiel
Angriffe auf die Versammlungsfreiheit sollten kein einmaliges Ereignis bleiben. Im Januar 2003 wurde nicht nur die Stimmung des hessischen Wahlkampfes hitziger. Man kann die Formen der Proteste unterschiedlich beurteilen. Die einen fanden sie „kreativ“, die anderen nervig. Positionen wie in vielen Städten. Augenscheinlich war jedoch, dass Versammlungen von einem wachsenden Polizeiaufgebot begleitet wurden, das zum Teil die Zahl der anwesenden Demonstranten deutlich überstieg. Auch wurde der Zugriff härter. In einem Fall wurde auf direkte Anweisung des hessischen Innenministers Bouffier - bezeichnenderweise ebenfalls aus Gießen - eine Meinungskundgebung einer Einzelperson gewaltsam beendet und die entsprechende Person ohne Androhung verhaftet. Das Ordnungsamt seiner seits tat sich nun als Ideengeber schärferer Auflagen für Ver sammlungen hervor. Im Rahmen der Demonstrationen gegen den Irakkrieg geriet diese Kreativität zur förmlichen Auflagenwut. Verboten wurde nicht nur - angesichts der aufrufenden Gruppen mit fragwürdigem Hintergrund - das Verbrennen von Fahnen und das Loben von Terror. Es wurde auch auferlegt, Weisungen der Polizei "unverzüglich Folge zu leisten" und den entstandenen Müll zu beseitigen. Die Frage, ob rechtswidrigen Aufforderungen ebenfalls nachzukommen sei, blieb unbeant wortet. Die Rechtswidrigkeit der Auflage, Müll zu beseitigen, war dem Ordnungsamt nach Hinweisen im Vorfeld einer Demonstration bekannt. Zwar wurde die Auflage in diesem Fall zurückgenommen, um eine andere mit demselben Inhalt bei der nächsten Versammlung erneut anzuordnen. Außerdem wurden Gebühren im Rahmen des Anmeldungsverfahrens verhängt (vgl. hierzu den Beitrag von Achelpöhler und Sauer). Die um strittenen Demogebühren waren Gegenstand kontroverser Debatten in Gießen. Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Möller, erklärte hierzu lapidar, dass Gebühren ja nur erhoben würden, wenn ein Verwaltungsaufwand entstünde, der „ordentliche Bürger“ habe diese Gebühren nicht zu fürchten. Andere, die der Gießener Stadtregierung nicht so gut in den Kram passen, anscheinend schon. Die VVN/BDA musste für die Anmeldung eines Mahngangs zum 9. November 2004 dann eben auch eine Gebühr von 80 € berappen. Fraglich ist, ob die junge Union Ähnliches hätte tun müssen.

Der zweite Akt
Zu Wahlterminen kommt es von anarchistischen Gruppen in Gießen zu Aktionen gegen Wahlen und Herrschaft. Ebenso kommt es zu Veränderungen an Wahlplakaten, die in der Re gel eine einfache Sachbeschädigung darstellen. Solche Positionen muss man definitiv nicht teilen. Auch Sachbeschädigungen braucht niemand zu dulden. jedoch wird in Gießen seitens der Polizei, der Stadt und vor allem der CDU eine beinahe terroristische Bedrohungskulisse herbeiphantasiert und damit sowohl Meinungs- als auch Versammlungsfreiheit eingeschränkt, da von offizieller Seite Meinungen tabuisiert werden. In diesem Klima kam es dazu, dass eine solche Gruppe anlässlich der Oberbürgermeister-Wahlen durch die Fußgängerzone zog. Sie blieb vor dem Stand der Grünen stehen, einer von ihnen mit einer grünen Gießkanne "bewaffnet". Argwöhnisch beobachtet wurde dies von der Polizei, die sich damit beschäftigte, Wahlstände der Parteien zu bewachen und sie vor vermeintlichen Angriffen einer Gruppe zu schützen, die schon äußerlich eher an die Hippie?Zeit als an Straßenkämpfe erinnert. Wie sich das Folgende entwickelte, ist schwer zu ermitteln. Ergebnis des Stopps vor dem Wahlstand war ein nasser Rocksaum einer Kandidatin sowie eine zerbrochene Brille, die offensichtlich durch einen Schlag das Fliegen gelernt hatte. Die vorher stummen Polizisten griffen nun zu. Nicht jedoch, um die Personalien beider - in Gießen stadtbekannter - Kontrahenten festzustellen, sondern um den Träger der nun zerbrochenen Brille festzunehmen und zu viert in einen Polizeibus zu verladen. Im weiteren Verlauf des Wahlkampfs wurde nun der ver meintliche gewaltsame Angriff mittels einer Gießkanne dazu genutzt, eine stärkere Polizeipräsenz zu rechtfertigen und vor allem, um intensive Vorkontrollen bei Versammlungen durch zuführen.

Der dritte Akt
Gegen zwei der unbequemen oder nach anderer Meinung nervigen Menschen aus Gießen wurde etwas später Anklage wegen allerlei Delikten erhoben. Sicher war eine Verbindung zwischen den Wahlgegnern und den Veränderungen der Wahlplakate von vielen Politikern und der Öffentlichkeit vermutet worden. Bewiesen war jedoch zum damaligen Zeitpunkt - anders als die Presse dies berichtete - nichts. Andere Anklagepunkte waren zumindest fragwürdiger. Wenn die Anklage wegen Körperverletzung alleine auf der Aussage von Polizisten basiert, Polizisten aber sowohl vermeintliche Opfer der Körperverletzung wie auch Kritikpunkt der Kundgebung waren, ist diese Form der Beweisführung bei der aufgeheizten Stimmung Gießens zumindest kritikwürdig. Das Verfahren endete mit einer Verurteilung zu 9 Monaten Haft ohne Bewährung sowie einer Geldstrafe gegen den zweiten Angeklagten.

Kritik
Ginge es nicht um Grundrechte, man könnte aus dem geschilderten Stoff eine hervorragende Komödie schreiben. Doch die Auseinandersetzung zwischen Staat und Bürger zwingt auch in der mittelhessischen Provinz dazu, Rechte ernst zu nehmen. Man muss seine politischen Gegner nicht mögen. Niemand möchte irgendwen dazu zwingen, bei Protesten in Freudentaumel auszubrechen. Wenn die genannten Akteure jedoch die Bühne betreten, müssen sie zumindest damit rechnen, dass auf der Bühne andere anzutreffen sind. Wer dann jedoch mit Bombendrohungen agiert, Proteste kriminalisiert und Versammlungen über Auflagen und Gebührenfestsetzungen zu erschweren versucht, der verlässt seine ihm durch das Grundgesetz vorgegebene Rolle. Wenn ein Konflikt, der wegen mangelnder Souveränität staatlicher Institutionen von einer Provinzposse zu einer Bedrohung von durch die Verfassung garantierten Rechten mutiert, ist es für das Publikum an der Zeit einzugreifen. Wer Politik betreibt und sich in die Öffentlichkeit begibt, der muss sich mit Nervensägen auseinander setzen, denn auch Nervensägen haben Grundrechte. 'Wer sich für eine Karriere bei der Polizei entscheidet, muss damit rechnen, nicht von jedem gemocht zu werden. Dafür wird man letztlich auch bezahlt, und in Zeiten allgemeiner Arbeitslosigkeit ist dies das Schlechteste nicht.

Quelle: Grundrechte-Report 2005, Fischer-Verlag Frankfurt, 2005 (S. 127-131)

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