Im Namen des Volkers

ZWANGSREGIME DER PSYCHIATRIE
EINSPERREN, FIXIEREN, ZWANGS"THERAPIE"

Buchvorstellungen zum Themenbereich


1. Einleitung und allgemeine Kritik
2. Unsere Sofortforderungen und weitere Aufrufe gegen Zwang und Willkür
3. Wahlrechtsentzug
4. Einblicke
5. Was ist Krankheit?
6. Freiheit ist besser
7. Geschichte
8. Kritik
9. Links
10. Buchvorstellungen zum Themenbereich

Lehrbücher und Grundlagenwerke zur forensischen Psychiatrie: Kaum versteckte Willkür
Wenn Gerichte feststellen (im Namen des Volkes …), dass eine Person straffällig wurde, aber zum Zeitpunkt der Strafe unzurechnungsfähig war, so kann sie ein Urteil fällen, mit dem eine Einlieferung in die geschlossene Psychiatrie verfügt wird. Das ist nicht so selten, sondern wird ständig häufiger. Zusammen mit den dort vorläufig Untergebrachten und aus anderen Gründen eingesperrten Menschen bilden die Verurteilten nach § 63 und 64 StGB in den forensischen Psychiatrien, wie die Anstalten des Maßregelvollzugs nach Strafrecht heißen, und sonstigen geschlossenen Einrichtungen eine Art Parallelgesellschaft. Hier schaut kaum noch jemand hin. Die Bediensteten der Zwangspsychiatrien, vor allem deren Leitung, sind uneingeschränkte Herrscher_innen in einem Mikrokosmos der Hierarchien. Einzelne, inzwischen bekannt gewordene Fälle zeigen das. Die Dokumentation des gesamten Grauens steht noch aus.
Einen überraschend ehrlichen Einblick aber bieten bereits Lehr- und Grundlagenbücher zum Thema, z.B. aus der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft (Berlin) oder dem Thieme-Verlag in Stuttgart. Wir haben einige unter die Lupe genommen und waren überrascht, wie offen zum Teil willkürliche, folterähnliche und zum Teil klar rechtswidrigen Praxen dort als Standardverhalten hinter Mauern und Stacheldraht propagiert werden - wenn auch mit interessanten Unterschiedenen im Detail. Als Ausgangspunkt wählten wir zwei Grundlagenwerk mit zum Teil gleichen Autoren (bemerkenswerterweise alle männlich). Das erste heißt „Praxishandbuch Forensischer Psychiatrie des Kindes-, Jugend und Erwachsenenalters“ (MWV, 99,95 €) und wurde herausgegeben im Jahr 2011 von Frank Häßler, Wolfram Kinze und Norbert Nedopil. Auf 741 Seiten werden alle wesentlichen Fragestellungen und Arbeitsbereiche dargestellt. Etliche Autor_innen haben an dem Werk mitgearbeitet. Älter und eher im Ruf als Klassiker zum Thema ist das Werk „Forensische Psychiatrie“ (4. Auflage 2012, Thieme, 129,99 €). Die 533 Seiten der Hauptautoren Norbert Nedopil und Jürgen Leo Müller sowie ihrer vier Unterstützer kommt es nicht ganz so dick daher, aber durch das enge Schriftbild bietet es mindestens genauso vielen Informationen Platz. Die streng systematische Ordnung mit z.T. vierstufigen Gliederungszahlen verpasst dem Buch einen lexikalischen Eindruck. Das umfangreiche Stichwort- und Literaturverzeichnis hilft ebenfalls dafür. Beide Bücher sind geeignet, einen ausreichend genauen Einblick in rechtliche Grundlagen, Begutachtung Behandlungsziele und –formen zu verschaffen. Sie gehen systematisch auf alle Fragestellungen ein und behandelt diese präzise, immer wieder auch mit Beispielen, Zahlen und Tabellen, unter Quellennennung und Verweise auf Gesetze und Urteile. Die Patient_innenperspektive und noch mehr deren Rechte kommen in beiden Büchern jedoch recht knapp daher – aber immerhin: Sie und ihre Rechtsgrundlagen werden erwähnt. Das ist in Lehrbüchern zur Zwangspsychiatrie nicht selbstverständlich, wie die anderen Titel zeigen.
Zum Teil fehlen sie sogar ganz. Das gilt z.B. für das wesentlich smarter daherkommende, aber ähnlich den beiden dicken Werken betitelte „Praxishandbuch Maßregelvollzug“ mit Rüdiger Müller-Isberner und Sabine Eucker als Herausgeber daher (MWV, 2013, 301 S., 59,95 €). Beide Bücher schildern den Klinikalltag aus der Perspektive derer, die dort Menschen festhalten, behandeln und begutachten – allerdings sehr unterschiedlich. Das „Praxishandbuch Maßregelvollzug“ ist oberflächlicher, mitunter wirken die Sätze wie persönliche Äußerungen der Autor_innen. Der Nutzen für die Praxis ist daher eher gering, während das das 741-Seiten-Buch eine Art Enzyklopädie der forensischen Praxis ist. Beide haben allerdings etwas gemeinsam, was beklemmt: Die Patient_innen und ihr Blickwinkel kommen kaum oder gar nicht vor. Beeindruckend zeigt sich das an der konsequenten Nichterwähnung im Buch von Müller-Isberner/Eucker. Das zentrale Steuerungsinstrument der Selbstbestimmung von Psychiatrisierten findet nicht einmal den Eingang in das Stichwortverzeichnis. Im Werk von Häßler/Kinze/Nedopil findet sich ein Eintrag. Obwohl sogar die gesetzliche Grundlage angegeben ist, in der die durchgreifende Wirksamkeit der „PatVerFüs“ garantiert ist, steht im Buch nur, seien durch diese „auch Wünsche des Betreuten zu berücksichtigen“ (S. 536). Wenige Zeilen vorher klingt es noch deutlicher: „Das Wohl des zu Betreuenden hat Vorrang vor seinen Wünschen.“ Den aber definieren dann die Ärzt_innen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist glatter Rechtsbruch, wie im dritten Buch aus dem gleichen Verlag zu lesen ist. Dort behandeln die Herausgeber_innen Michael Mauer, Matthias Lammel, Steffen Lau und Stephan Sutarski die „Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung“ (MWV, 2011, 143 S., 29,95 €). Danach „muss der Arzt in eigener Verantwortung eine ihm bekannte Patientenverfügung beachten und umsetzen“ (S. 11). Existiert zudem eine bevollmächtigte Person, so ist diese bei Interpretationsfragen entscheidungsbefugt. Doch auch dieses Stichwort kommt in den anderen beiden Büchern nicht vor. Das erschreckt, denn die in führenden Positionen tätigen Autor_innen scheinen Patient_innenrechte entweder nicht zu kennen oder für so vernachlässigbar zu halten, dass sie diese in einem Grundlagenbuch nicht einmal erwähnen. Die Erfahrungen mit der Praxis von Willkür hinter den Mauern forensischer Psychiatrien passen zu diesem Denken. Dass niemand hinguckt, geben Müller-Isberner/Eucker sogar offen zu: „Die Notwendigkeit solcher Evaluationen ist evident und wurde beschrieben (…), gleichwohl fehlen sie“ (S. 139). Und: „Empirisches Wissen darüber, wie sich Größe und Organisationsform kriminaltherapeutischer Institutionen auf therapeutische Effizienz und Wirtschaftlichkeit auswirken, fehlt weltweit“ (S. 87). Keine Hinweise gibt es auf Experimente, auf geschlossene Psychiatrien zu verzichten. Im Werk von Häßler/Kinze/Nedopil hätte es nahegelegen, im Kapitel über andere Länder z.B. auf Italien hinzuweisen. Dass es unterblieb, passt zum Gesamteindruck. Wem Zweifel bleiben, wie (Zwangs-)Psychiatrie im deutschsprachigen Raum ausgerichtet ist (z.T. wird in den Bücher auch die Lage in Österreich und in der Schweiz gesondert behandelt), kann das Buch von Helmfried E. Klein und Frank-Gerald B. Pajonik (3. Auflage 2011, Thieme, 59,99 €) als Beleg nehmen. Es stellt unter dem Titel „Facharztprüfung Psychiatrie und Psychotherapie“ eintausend Prüfungsfragen vor – und keine beschäftigt sich mit Patent_innenperspektive, -rechten oder –verfügungen. Wer so lehrt und lernt, produziert Verwahranstalten und Folterhäuser.
Hinsichtlich kompakter Wissensvermittlung sei noch die Reihe „Basiswissen“ aus dem Psychiatrieverlag in Köln) erwähnt. Die kleinen Taschenbücher behandeln jeweils ein konkretes Thema und verschaffen dabei einen guten Rundumblick mit Schwerpunkt auf die rechtlichen Bedingungen und konkreten Abläufe. Die Autor_innen stammen aus der Praxis, was ihnen einerseits hilft, die Dinge sehr praxisnah zu schildern. Andererseits führt das zu einem Blickwinkel aus der Sicht der Psychiatrie. Politische und ethische Erwägungen spielen z.B. im Buch „Maßregelvollzug“ von Cornelia Schaumburg (2010, 137 S., 16,95 €) kaum eine Rolle. Verfolgungsbehörden wie die Staatsanwaltschaft werden zur Vertretung der Bürger_innen verklärt (S. 21) verklärt. Dennoch bleibt: Wer über die formalen und organisatorischen Abläufe der forensischen Psychiatrie einschließlich der Gerichtsverfahren Informationen sucht, ist hier genau richtig.

Patient_innenverfügung und Rechtshilfe
Wer sich mit dem bei Psychiater_innen offenbar unbeliebten und daher verschwiegenen Mittel der Patient_innenverfügung zumindest teil-schützen will, kann das über die Internetseite www.patverfue.de oder mit Hilfe des „Handbuch der Patientenverfügung“ tun. Dort gibt es praktische Tipps, die geeigneten Formulare und politische Hintergrundtexte. Die Internetseite und das Buch sind erste Wahl.
Nützlich ist auch der Ratgeber „Patientenverfügung“ der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen (17. Auflage 2014, 168 S., Buch: 9,90 €, eBook: 6,49 €, www.vz-ratgeber.de). Er verzichtet auf politische Texte, stellt dafür aber praktische Hilfen in sehr anschaulicher Form zur Verfügung. Checklisten, Formulare zum Ausfüllen und abreißbare Hinweiskarten sind dabei besonders hilfreich.

„Selbstbestimmung und Solidarität“
Was wären die Alternativen zu Einweisung, geschlossenen Kliniken und Heimen, Fixierung und unfreiwilliger Medikamenteneinnahme? Längst gibt es eine Debatte und Experimente für eine Psychiatrie ohne Zwang. In ganzen Regionen Italien wird seit den 70er Jahren auf große, geschlossene Anstalten verzichtet – und auch Deutschland hat einige Häuser, die weitgehend auf das Abschließen von Türen und den Einsatz von Zwang verzichten. Ihre Erfahrungen sind sehr positiv – und solche gibt es auch in anderen Bereichen der psychiatrischen Praxis. Statt Druck und Bevormundung fordern Klinikleiter Martin Zinkler, Psychologin Candelaria Mahlke und der Anwalt Rolf Marschner „unterstützende Entscheidungsfindung“ und haben einen Kreis von Menschen, die in beteiligten Institutionen, an Universitäten, in politischen Gremien, Arztpraxen arbeiten oder selbst betroffen sind, eingeladen, aus ihren Tätigkeiten zu berichten. Aus den Texten ist das Buch „Selbstbestimmung und Solidarität“ (2019, Psychiatrie-Verlag in Köln, 240 S., 35 €). Es vermittelt eindrucksvoll, dass Zwang nicht alternativlos ist – auch wenn diejenigen, die ihn anwenden, dass immer wieder behaupten und viele Gerichte ihnen dabei folgen.

Heißes Eisen „Pädophilie“
Die populistische Entgegnung auf Kritik an Gefängnissen und Zwangspsychiatrie verweist auf sexuelle Übergriffe an Kindern. „Wollen Sie denn Kinderschänder frei rumlaufen lassen“, ist eine noch harmlose Formulierung. Eine faire Antwort muss, soll die Ablehnung an Mauern und Stacheldraht ernst gemeint sein, doppelt ausfallen. Zum einen: Ja – und das wäre besser für alle, insbesondere sicherer für die Kinder. Zum anderen: Es muss aber mehr passieren als nur das Ende von Knast und Klapse. Besser für alle wäre, wenn Menschen mit pädophiler Präferenz, also dem – auch – sexuellen Interesse an Kindern, gefahrlos darüber sprechen und andere Menschen um Unterstützung bitten könnten. Zur Zeit können sie das nicht, weil die Gefahr der sozialen Ausgrenzung bis zum Lynchmord besteht. Pädophilie sucht sich aber kein Mensch aus und sie führt dazu, dass die/der Betroffene ein ganzes Leben seine Sexualität unter Kontrolle haben muss und nicht ausleben kann. Das ist bereits ein erhebliches Handicap – es zusätzlich zu bestrafen, folglich absurd. Nur wenn es normal wird, dass Menschen anderen von ihrer Neigung erzählen und dann darum bitten können, nicht z.B. mit Kindern allein gelassen zu werden usw., könnten tatsächliche Übergriffe, die heute meist in der Verschwiegenheit von Familie und Freundeskreisen stattfinden, vermieden werden. Zusätzlich sollte es aber nicht beim Absehen von Strafe oder der noch grausameren Zwangseinweisung in Psychiatrien bleiben. Stattdessen sollte es mehr offen zugängliche Beratung und Selbsthilfe geben. Auch das setzt voraus, dass die Stigmatisierung pädophil ausgerichteter Menschen endet.
Ein wertvolles Buch zum Umgang mit Menschen, die pädophil veranlagt sind (wofür niemensch etwas kann), haben Claudia Schwarze und Gernot Hahn unter dem Titel „Herausforderung Pädophilie“ (2. Auflage 2019, Psychiatrie-Verlag in Köln, 214 S., 20 €) herausgebracht. Es enthält neben vielen Kurztexten von Betroffenen auch viel Material für alle, die Kinder attraktiv finden, aber nicht übergriffig werden wollen.

Weitere Bücher zur Zwangspsychiatrie
Nellie Bly
Zehn Tage im Irrenhaus
(2. Auflage 2012, AvivA in Berlin, 192 S., 18,50 €)
Der Text stammt aus dem Jahr 1887. Es war eine mutige Entscheidung der Journalisten, sich „undercover“ über mehrere Stationen auf die Irrenhaus-Insel „Blackwell’s Island“ bringen zu lassen. Ihr Buch ist nichts als die Erzählung der Geschehnisse – in einfacher Sprache ohne weitere Bewertungen. Die Abläufe sprechen auch so für sich: Der Umgang mit den Ausgesonderten der Gesellschaft würde jedem noch so schlechten Tierschutzgesetz widersprechen. Physische und psychische Demütigung ist Alltag – und die Autorin resümiert: Wer hier zwei Monate aushält, ist danach reif für diese Insel. Die meisten aber bleiben für ewig dort. Rund um den historischen Text finden sich Ergänzungen, welche Wirkung der Bericht damals erzeugte. Das Buch kann aber auch die aktuelle Debatte befeuern: Immer noch sind Zwangspsychiatrien unbekannte Flecken, auf denen Willkür und Vernebelung herrschen. Immer noch sind Ärzt_innen und Pfleger_innen oft mehr das Gesetz als dass sie sich daran halten.

Rolf Marschner
Psychisch kranke Menschen im Recht
(2015, Balance im Psychiatrieverlag, 255 S., 19,95 €)
„Ein Ratgeber für Betroffene, Angehörige und Mitarbeiter in psychiatrischen Einrichtungen.“ So steht es im Untertitel. Das Autor führt durch alle wichtigen Bereiche der Psychiatrie und beschreibt, was dort erlaubt ist und was nicht. Eher dürftig kommt die Forensik weg, was leider typisch ist für viele Abhandlungen zur Psychiatrie. Die Zahl der Betroffenen dort mag kleiner sein als in anderen Bereichen, aber die Durchgriffshärte ist wesentlich heftiger. Daher wäre eine intensivere Betrachtung wünschenswert. Ebenso fehlen im Buch meist Hinweise auf die Wirksamkeit rechtlicher Regeln. Nur kurz geht es um Beschwerdemöglichkeiten. Jenseits dieser Lücken ist das Buch aber eine gute Einführung in die relevanten Fragen – ohne im Detail in die Tiefe zu gehen.

Walter Röchling
Betreuung
(2009, Verbraucherzentrale in Düsseldorf, 158 S., 9,90 €)
Wer eine Betreuung hat oder bekommt, verliert die Kontrolle über das eigene Leben. Das kann bis zu Entscheidungen über ein Einsperren, Festbinden, Verabreichung oder Entzug von Medikamenten gehen, Geld und Vermögen betreffen oder sogar die Frage, ob das Leben weiter künstlich aufrechterhalten wird oder nicht. Zwar ist all das in den meisten Lebenslagen nicht bedeutend, wenn es aber wichtig wird, wäre es zu spät, dann noch selbst festlegen zu wollen, welche Wünsche beachtet werden sollen. Daher ist es nötig, sich rechtzeitig mit der Frage zu beschäftigen, um mit Patient_innenverfügung und Vorsorgevollmacht festzulegen, wer wie über das eigene Leben entscheiden soll. Das Buch gibt dafür die nötigen Informationen. Bestellmöglichkeit online (zzgl. 2,50 € Porto) über www.vz-ratgeber.de.

Arno Deister/Bettina Wilms
Regionale Verantwortung übernehmen
(2014, Psychiatrieverlag in Köln, 280 S., 34,95 €)
Das Buch startet mit einem Schrecken. Schon im Vorwort steht, dass „der Mensch im Allgemeinen (und natürlich auch der im Gesundheitswesen) geneigt“ ist, „primär das zu tun, wofür er Geld bekommt“. So richtig der Satz ist, wer beschreibt kein Naturgesetz, sondern einen politischen Zustand der aktuellen Welt. Wenn das Buch eine solche Annahme als Voraussetzung wählt, muss es in einem sehr engen Korridor des Üblichen und Machbaren verbleiben. Ein Ausbruch aus festgefahrenen Denkmustern fällt das schwerer. Dennoch lohnt die Lektüre auch für alle, die aus einer überzeugten Ablehnung der großen Verwahranstalten nach dezentralen Wegen suchen. Sie, und alle anderen ohnehin, können von den praktischen Hinweisen profitieren, wie die finanziellen, formalen und organisatorischen Anforderungen zu meistern sind.

Peter C. Gøtzsche
Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität
(2014, riva in München, 512 S., 24,99 €)
Ein dicker Wälzer voller brisanter Informationen – das Buch lohnt die Lektüre, egal ob als erschreckender Eindruck aus der Praxis einer profitgetriebenen Branchen oder auf der Suche nach konkreten Zahlen und Beispielen. Übersichtlich sortiert zeigt der Autor, „wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert“ (so der Untertitel). Viele, viele Quellenangaben machen das Werk zu einer Art Lexikon des Grauens hinter den Kulissen vermeintlicher Wissenschaftlichkeit und Fürsorge. Zwei Kapitel sind der Psychiatrie und speziell den Psychopharmaka für Kinder gewidmet, der Rest beleuchtet die Medizin als Ganzes: Interessenskonflikte von Ärzt_innen, Verkaufsstrategie für Medikamente, Vertuschung und Fälschung, verfilzte bis korrupte Behörden. Gøtzsche, selbst Professor am Rigshospitalet Kopenhagen, erinnert all das an kriminelle Vereinigungen oder gar eine Mafia – nur das es deutlich mehr Tote gibt als bei den von der Justiz verfolgten statt gedeckten Verbrechen.

Udo Sierck
Budenzauber Inklusion
2013, AG Spak in Neu-Ulm, 147 S., 16 €)
Ein kleines, aber bitteres Buch: Es berichtet vom Schein der guten Vorsätze – und aus der Realität. Denn vom in politischen Programmen geäußerten, hehren Anspruch, Menschen mit sogenannten „Behinderungen“ in den Alltag, z.B. in Schulen, zu integrieren, ist draußen im „realen Leben“ noch nicht viel angekommen. Viele Beispiele illustrieren das. Durch die große Schrift ist das Buch auch mit für augenschwache Menschen zu lesen. Der hohe Preis für das kleine Buch wird allerdings abschrecken.

Gerhard Strate
Der Fall Mollath
(2014, OrellFüssli in Zürich, 271 S.)
Dieses Buch könnte einem richtig Freude machen – trotz der bedrückenden Geschichte, die es beschreibt. Denn der Autor hat die Abläufe um Verfolgung, Verurteilung und Inhaftierung des inzwischen bekanntesten Zwangspsychiatrisierten in Deutschland minutiös aufgelistet. Er zitiert dabei sehr viele der offiziellen Unterlagen und hat diese zu großen Teilen als Original ins Netz gesetzt. Das ist richtig gute Recherchearbeit. Dennoch bleibt ein beklemmendes Gefühl nach: Held des Buches ist nicht Mollath, sondern der Autor selbst. Das Titelbild zeigt ihn, nicht die Figur des Titels. Es hätte also auch „Der Anwalt Strate“ heißen können. Das ist schade, aber trübt den positiven Gesamteindruck nur in einem Nebenaspekt.

Erlebte Psychiatrie 1946-1986
(2016, Schwabe AG in Basel, 269 S., 48 €)
Insgesamt ist die Psychiatrie, vor allem die von Mauern und Stacheldraht umgebene, ein eher dunkler Fleck der Gesellschaft. Nur wenige Bücher berichten aus Sicht von Betroffenen. „Erlebte Psychiatrie“ ist aus dem gegenteiligen Blickwinkel verfasst. Der Autor war lange Zeit Psychiater, dabei auch viele Jahre Chef psychiatrischer Einrichtungen. Sein Buch schildert sein Berufsleben. Dabei geht es überraschend selten um Patient*innen, viel öfter um seine Karriere, Vorgesetzte oder Auftraggeber, Umzüge oder Urlaube. Insofern ist der Titel etwas verfehlt, das Buch aber entlarvend für Einrichtungen, bei denen Betroffene immer wieder den Verdacht äußern, dass es um alles Mögliche geht, nur um sie nicht. Im Buch kommen sie nur dann und auch nur kurz und stets als verwirrte Kranke vor, wenn sich der Autor unberechtigt kritisiert fühlte.

Markus Drechsler
Maßnahmenvollzug
(2016, Mandelbaum in Wien, 363 S., 24,90 €)
Ein Buch aus und über Österreichische Verhältnisse rund um die Zwangspsychiatrisierung und Sicherungsverwahrung nach Strafrecht. Der Untertitel „Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt“ macht klar, dass es kritische Blicke sind. Fast die Hälfte des Buches beschäftigt sich mit den rechtlichen Bedingungen, die hinsichtlich Zwangsmaßnahmen kaum Grenzen stecken. Ein Vergleich mit der ebenfalls menschenverachtenden Rechtslage in Deutschland zeigt, dass Österreich noch stärker Menschenrechte einschränkt. Der zweite Teil enthält Analysen von Gutachtenqualitäten und etliche Interviews mit Betroffenen bzw. Beobachter*innen.

Julia Dragosits/Tobias Batik
Das Volk will es so
(2017, Mandelbaum in Wien, 82 S., 14,00 €)
Über das Leben als »geistig abnormer Rechtsbrecher«, so der Untertitel, will das Buch informieren. Aufgemacht ist es weniger als Lesebuch, sondern eher wie der Katalog einer Ausstellung. Selbst die Seitenzählung ist zum visuellen Erlebnis gewandelt. Der Inhalt wird durch Fotos, graffiti-ähnlichen Überschriften und am stärksten mittels einiger Interviews transportiert.

Thomas Szasz
Geisteskrankheit – ein moderner Mythos
(2013, Carl Auer in Heidelberg, 331 S., 44 €)
Das Werk ist die aufgefrischte, d.h. ergänzte und überarbeitete Auflage eines Klassikers, der schon 50 Jahre auf dem Buckel hat und damals den herrschenden Diskurs über die scheinbar diagnostizierbaren, d.h. „wahren“ Krankheiten des Geistes in Frage stellte. Auch wenn heute so einiges neu und anders gedacht wird – der Mythos der sauberen Unterscheidbarkeit von „krank“ und „gesund“ lebt immer noch, wenn auch modernisiert. Dem tritt Szasz nun erneut entgegen – mit brillanter Sprache und Argumentation. Nur einen Fehler macht er: Er glaubt, dass die diskursive Steuerung des Wahrheitsregimes in der Gesellschaft, zu der der Glaube an die Einteilbarkeit von „krank“ und „gesund“ gehört, nur für „seinen“ Bereich existiert, während es andernorts sauber zugeht. Explizit nennt Szasz die Frage der körperlichen Gesundheit und den Strafvollzug – und irrt dort genau so, wie die irren, die Geisteskrankheit als etwas Eindeutiges annehmen.

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