Ende Gelände

1. MAI 2001: POGROMARTIGER ANGRIFF AUF DIE PROJEKTWERKSTATT

Walpurgisnacht-Vorfälle in Saasen haben Nachspiel


1. Einleitung zur Attacke auf die Projektwerkstatt am 1.5.2001
2. Vorgeschichte: Acht Jahre Ausgrenzung und Angriffe
3. Zwei Tötungsversuche, mehrere Brandattacken, endlos viel Sachbeschädigung: Die ersten zehn Jahre
4. Was ist ein Pogrom?
5. Der "Mitte"-Mob* greift an: Bericht vom 1. Mai
6. Die Mitte setzt ihre Institutionen ein: Politische Äußerungen zum Geschehen
7. Walpurgisnacht-Vorfälle in Saasen haben Nachspiel
8. Das Trauerspiel geht weiter
9. Links zu 2001
10. Die Vorphase 2002 und das Verhalten verschiedener Teile der Gesellschaft
11. Berichte
12. Gegendarstellung (aus dem Dorf)
13. Die Monate danach
14. Scharmützel nach 2002
15. 2014 und 2015: Nazistress
16. Ende 2015: Eine Flüchtlingsunterkunft nach Saasen ...

Gießener Anzeiger berichtet (Artikel vom 19.05.2001)
Ortstermin vor attackierter Projektwerkstatt – Grüne Europa-Abgeordnete will OSZE-Beobachter, Döring eine Aufarbeitung

SAASEN (ib). Die verbalen und handgreiflichen Attacken von wenigstens 20 Einwohnern Saasens gegen die alternative Projektwerkstatt in dem Reiskirchener Ortsteil werden ein Nachspiel im Europäischen Parlament haben. Die Europa-Abgeordnete der Grünen, Ilka Schröder, hat den Vorfall in Saasen als Beispiel für einen neuen „Sozial-Rassismus“ vor vier Tagen im zuständigen Ausschuss in Straßburg auf die Tagesordnung für die nächste Parlamentssitzung gebracht. Gestern bereits hatte sie Reiskirchens Bürgermeister Döring, Vertreter aller in Reiskirchen vertretenen Parteien, sowie den Ortsvorsteher Kurt Klös und den Ortsbeirat zum Ortstermin nach Saasen geladen. Gekommen waren Döring, Klös, dessen Stellvertreter Manfred Schmitt, SPD-Bürgermeister-Kandidat Holger Sehrt und Gemeindevertreter der SPD und der Grünen. Auch einige Anwohner der Projektwerkstatt gesellten sich zu der von einem Kamera-Team des hr befragten Runde. Hier prallten wie schon unmittelbar nach dem 1. Mai unterschiedliche Bewertungen der Vorfälle aufeinander. Während der SPD-Abgeordnete und Nachbar Ewald Kutscher die Vorfälle als hochgespielten Dorfstreich bezeichnete und den Bewohnern der Projektwerkstatt vorwarf, die Dorfjugendlichen provoziert zu haben, sprach der Sprecher der Bewohner, Jörg Bergstedt, von einem pogromartigen Angriff. „Pogromartiger Angriff“Ilka Schröder kritisierte nach dem Ortstermin Bürgermeister Döring, der nur gesagt habe, dass er die Gewalt an diesem Abend verurteile. Wer nicht klar Stellung beziehe, bagatellisiere und legitimiere damit solche Ausschreitungen.
Döring wies diese Vorwürfe später zurück und kündigte ein kommunalpolitisches Nachspiel der Walpurgisnacht an. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Michael Seipp, habe einen dies betreffenden Antrag für die nächste Parlamentssitzung gestellt. Zudem, so Döring, habe er Jugendpfleger Matthias Lotz angewiesen, mit den namentlich genannten Jugendlichen, die an den Vorfällen beteiligt waren, zu sprechen und die Ereignisse aufzuarbeiten. Auswüchse, die laut Döring so früher nicht möglich waren, würden in jedem Fall ein politisches Nachspiel haben, um eine Wiederholung zu verhindern.
Döring bestätigte im Gespräch, dass es bereits früher Zwischenfälle gegeben habe. So sei ein Anwohner gewaltsam mit einem Benzinkanister auf das Gelände der Projektwerkstatt vorgedrungen. Döring warnte aber davor, Saasen unter Generalverdacht zu nehmen: „Ich halte die Dorfgemeinschaft hier für eine gute Gemeinschaft, aber sie muss auch Minderheiten, die anders leben wollen als die Mehrheit. akzeptieren.“ Die Toleranz ist nach Ansicht seiner Parteifreunde allerdings auch bei der Minderheit nicht sehr ausgeprägt. SPD-Abgeordnete warfen beim Ortstermin den Bewohnern der Projektwerkstatt vor, ihre Mitbürger mit einem „Habitus der Arroganz“ als dumpfe Dörfler abzuqualifizieren. Die grüne Europa-Abgeordnete Schröder ordnete die Ereignisse der Walpurgisnacht vor dem Hintergrund der von ihrem Namensvetter im Kanzleramt verursachten Faulenzer-Debatte in einen größeren Zusammenhang ein. Überfälle von Nazis auf Flüchtlingsheime, Obdachlose oder Behinderte gehörten, so Schröder, in Deutschland zum Alltag. Bisher unbekannt seien allerdings Ausschreitungen aus der Mitte der Gesellschaft, wie in Saasen. Die in der Projektwerkstatt wohnenden und arbeitenden Menschen würden als „Sozialschmarotzer“ diffamiert, obwohl sie keine Unterstützung des Staates erhielten.
Wie ernst Schröder den Vorfall nimmt, zeigt, dass sie in Folge des ersten Berichts über die Lage der Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union vorschlagen will, eine OSZE-Beobachtergruppe nach Saasen zu schicken. Schröder:
„Wir sind immer schnell dabei, in Staaten außerhalb der EU die Menschenrechte anzumahnen. Wie können wir uns dieses Recht anmaßen, wenn solcher Vorfälle wie in Saasen innerhalb unserer Gemeinschaft möglich sind?“

Aus der Allgemeine vom gleichen Tag

...was war in der Nacht zum Maifeiertag geschehen? Jugendliche waren durch das Dorf gezogen und hatten vor der Projektwerkstatt in der Ludwigstraße 11 lautstark gegen die damals acht dort feiernden Bewohner demonstriert. Schließlich eskalierte die Situation: Schüsse aus Schreckschußpistolen hallten durch die Nacht, zu Wurfgeschossen umfunktionierte Bierflaschen flogen und Morddrohungen wurden ausgesprochen. "Das war schlimm", erinnert sich die Anwohnerin Marie Döring. "Die haben einfach nicht aufgehört und weiter randaliert".
... Bürgermeister Klaus Döring (SPD) und der SPD-Bürgermeisterkandidat Holger Sehrt fanden die Abwesenheit der anderen Parteien enttäuschend (Anm: Ein grünes Vorstandsmitglied war auch anwesend). Dabei schien die Situation erneut zu eskalieren. Lautstark diskutierten Ortsvorsteher Klös, Jörg Bergstedt, ein häufiger Besucher der Werkstatt und dereinst auch ihr Begründer, sowie der Anwohner Ewald Kutscher miteinander. "Ihr Alternativen habt doch die Jugendlichen erst provoziert - mit Eurem Lebenstil", rief Kutscher. Woraufhin ihm der stets streitbare Bergstedt "geistige Brandstiftung" vorwarf: "Hier werden Opfer zu Tätern gemacht."
Klös meinte zwar, dass die Gewalt zu verurteilen sei, aber der Lebensstil des "Herrn Bergstedt und seiner Partner" store in Saasen schon einige Bürger. Ferner warf er "der Presse" eine einseitige Berichterstattung vor. Hingegen fand Bürgermeister Döring beschwichtigende Worte: "Wir müssen alle miteinander im Gespräch bleiben, um solch eine Eskalation nicht mehr vorkommen zu lassen. Wir brauchen eine wechselseitige Toleranz." ...
Ilka Schröder konnte dem Gespräch trotz der energischen Diskussion und zahlreicher erhitzter Gemüter etwas Positives abgewinnen: "Die Leute reden endlich miteinander, das ist positiv." Sie sehe aber die Gefahr eines schleichenden "Sozialrassismus", da andere Lebensauffassungen nicht toleriert würfen.
Ergebnis des Gesprächs war letztendlich, dass Gemeindevertretung wie Ortsbeirat nach Lösungen des Konfliktes suchen wollen.


Während der Diskussion am 18.5.2001 erwähnte der Bürgermeister ein Schreiben, in dem dem Dorf Saasen Faschismus vorgeworfen wird. Er unterstellte, daß dieses Schreiben aus dem Umfeld der Projektwerkstatt kommen solle. Dazu eine Erklärung von dort Aktiven:

Abgesehen davon, daß es nicht unser Stil ist, anonyme Briefe zu verschicken, ist auch der Inhalt nicht unsere Bewertung des 1. Mai:

Wir haben immer darauf hingewiesen, daß keine Rechtsradikalen beteiligt gewesen seien. Das unterscheidet rassistische Pogrome und Übergriffen von sozialrassistischen. Erstere erfolgen aus einer nationalistischen Hetze gegen Menschen aus anderen Ländern, anderer Hautfarbe oder Kultur und gehen meist aus rechtsradikalen Kreisen aus. Zweitere bedrohen Menschen, die nicht willens oder fähig sind, sich den Leistungsanforderungen der auf Profit und totale Vermarktung ausgerichteten Gesellschaft zu unterwerfen - also die Armen, Obdachlosen, sogenannten Behinderten über die vielen Sozialhilfebedürftigen, Arbeitslosen usw. bis hin zu denen, die bewußt ein selbstorganisiertes Leben jenseits der Lohnarbeit führen. Dieser Sozialrassismus unterscheidet Menschen danach, was sie leisten - nicht für ein besseres Leben, für Kinder, Kranke, NachbarInnen, Hilfebedürftige oder das Allgemeinwohl, sondern für die Profite der Konzerne oder die Macht des Staates. Die Debatte dazu führen Staat und Konzerne mit ihrem Geschwafel von "Leitkultur", "Kein Recht auf Faulheit" oder "Deutschland hat viele schöne Plätze. Die schönsten sind Arbeitsplätze" (Wahlplakat der SPD 1998). In dieser Debatte sind ComputerprogrammiererInnen aus Indien erwünscht, während Obdachlose am liebsten dorthin gewünscht werden. Der Sozialrassismus stammt nicht aus rechtsradikalen Kreisen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, besonders aus den Kreisen, die für sich die "Neue Mitte" besetzt haben. Besonders hart ist getroffen, auf wen beides zutrifft: Ausgegrenzte, mittellose Nichtdeutsche. Die Pogrome von Hoyerswerda, Rostock usw. waren solche Mischungen aus sozialrassistischen und rassistischen Motiven - entsprechend auch eine Mischung der Angreifenden aus Faschisten und bürgerlicher Mitte.

Zum zweiten haben wir immer darauf hingewiesen, daß es für uns nicht "das Dorf" gibt. Wir wissen sehr genau, daß es in Saasen wie auch anderswo viele unterschiedliche Menschen gibt. Was wir kritisieren, ist eine ca. 20 Personen starke Männerriege mit ihrem Umfeld, die Vereine, Kirche, Ortsbeirat und darüber das dörfliche Geschehen kontrollieren. Ihr Begriff davon, was im Dorf erlaubt ist und was nicht, stellt den Rahmen dafür, was möglich ist und was ausgegrenzt wird. Diese 20 Wichtig-Männer reden bei Kritik an ihnen immer von "Angriffen auf das Dorf". Sie verwechseln sich ständig mit dem Dorf, nehmen für sich das Recht heraus, für "das Dorf" zu reden. Tatsächlich aber stellen die, die im Dorf wenig oder nichts zu sagen haben, sich nicht einbringen mögen oder können, am Rand unauffällig leben usw., die deutliche Mehrheit.

Aus beiden Gründen können wir nur sagen, daß es nicht sein kann, daß der Text mit den Aussagen, ganz Saasen sei faschistisch gar nicht von uns stammen kann. Wir fordern aber die Personen, insbesondere den Bürgermeister, zu Aufklärung auf, woher das Schreiben stammt. Solange können wir nicht ausschließen, daß er von denen selbst geschrieben wurde, die ihn jetzt benutzen, um eine Empörung "des Dorfes" gegen uns zu organisieren und von den eigenen Verhaltensweisen abzulenken. Dieser Verdacht erhärtet sich noch, weil im Abstand weniger Tage Drohbriefe und Anmachen (siehe hier) in der Projektwerkstatt eingehen - und zwar mit wechselnden Phantasienamen ... ähnlich dem Absender des Briefes, den der Bürgermeister zitierte!

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