Ende Gelände

SAASEN AM 1. MAI 2002 UND DANACH ...

Die Vorphase 2002 und das Verhalten verschiedener Teile der Gesellschaft


1. Einleitung zur Attacke auf die Projektwerkstatt am 1.5.2001
2. Vorgeschichte: Acht Jahre Ausgrenzung und Angriffe
3. Zwei Tötungsversuche, mehrere Brandattacken, endlos viel Sachbeschädigung: Die ersten zehn Jahre
4. Was ist ein Pogrom?
5. Der "Mitte"-Mob* greift an: Bericht vom 1. Mai
6. Die Mitte setzt ihre Institutionen ein: Politische Äußerungen zum Geschehen
7. Walpurgisnacht-Vorfälle in Saasen haben Nachspiel
8. Das Trauerspiel geht weiter
9. Links zu 2001
10. Die Vorphase 2002 und das Verhalten verschiedener Teile der Gesellschaft
11. Berichte
12. Gegendarstellung (aus dem Dorf)
13. Die Monate danach
14. Scharmützel nach 2002
15. 2014 und 2015: Nazistress
16. Ende 2015: Eine Flüchtlingsunterkunft nach Saasen ...

In den letzten Wochen vor dem 1. Mai entstanden sehr unterschiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen des Konfliktes. Teile wurden in die Hintergrundseite zu den sozialrassistischen Angriffen integriert (siehe dort ...), viele andere aber nicht veröffentlicht, da Diskussionsprozesse liefen und eine Auswertung weder möglich noch sinnvoll erschien. Zudem ging es darum, die eigenen Überlegungen nicht alle öffentlich zu machen, um zusätzliche Gefährdungen auszuschließen. Das soll nachgeholt werden, um Transparenz zu schaffen. Statt eines chronologischen Ablaufs sollen verschiedene beteiligte Gruppen und ihr Verhalten benannt werden. Die Vereinheitlichung auf diese Gruppen mag dabei individuelle Unterschiede verwischen - das ist aber kaum anders denkbar, da wir von außen nicht wissen, welche Auseinandersetzungen z.B. innerhalb von Polizei, SPD, Vereinen, Antifa-Gruppen, bei Jugendlichen aus Saasen u.ä. liefen. Daß wir kaum überhaupt mitbekamen, daß es Diskussion gab, sondern alles sehr vereinheitlicht wirkte, ist aber bereits eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, die auch in politischen Gruppen nachvollzogen werden.

Polizei
Noch im Sommer 2001 waren alle Verfahren eingestellt. Das demokratische Regime zeigte sich, wie es eben ist: Wer bürgerliche Verregelungen und Kapital-/Machtverhältnisse angreift, wird bestraft, wer sich gegen antibürgerliche Strömungen wendet, hat nichts zu befürchten. Demokratie ist eine Verteidigungsstrategie von Kapital- und bürgerlichen Mehrheiten gegen die anderen. Hätten antistaatliche und herrschaftskritische Gruppen wie "wir" irgendwelche Einrichtungen bewaffnet und organisiert angegriffen mit Verletzten (z.B. eine Militäreinrichtung - und das wäre mehr als begründet gewesen!), unter ein paar Tagessätzen bis Jahren Knast wären "wir" wohl nicht weggekommen. Nun gut ... erst kurz vor dem 1. Mai rief der Staatsschutz Gießen bei uns an, um uns zu informieren, daß die Polizei dieses Jahr keinerlei Aggressionen akzeptieren würde, "egal von welcher Seite" (klingt so, als hätten "wir" in den neun Jahren Projektwerkstatt in Saasen schon jemals EinwohnerInnen angegriffen (während es umgekehrt ja ständig passiert). Gerüchte aus dem Dorf sprachen von "Polizeieinheiten, die stationiert würden" und auch die Aussage eines Grünen-Funktionärs (der aber insgesamt eine der widerlichsten Rollen spielte - Bericht folgt) schien das zu bestätigen.
Am 25. April gab es einen weiteren Anruf, weil die Polizei Hinweise erhalten hatte, daß am Wochenende vor dem 1. Mai anti-sozialrassistische Aktionstage in Saasen geplant seien (wäre ja durchaus angemessen, war aber nicht).
In der Nacht zum 1. Mai kontrollierten wir die Aktivitäten der Polizei recht genau. Staatsschutz Gießen und Marburg (? jedenfalls war ein Marburger Wagen dabei) waren in qualitativ hoher Besetzung kontinuierlich vor Ort. Einheiten wurden aber offenbar nirgends fest stationiert. Stattdessen bewegten sich ständig Streifenwagen und die Zivilfahrzeuge in der Nähe der verschiedenen im Dorf präsenten Gruppen (Feten, Jugendtreffs usw.). Diese Taktik war offenbar durchaus wirkungsvoll. Allerdings, so unser Eindruck, verpaßte die Polizei den entscheidenden Moment, als gegen 2.30 Uhr DorfbewohnerInnen (ca. 20) vor die Projektwerkstatt zogen, darunter auch einzelne Schläger des letzten Jahres. Erst nach 30-45min tauchte das Gießener Zivilfahrzeug auf, kurz darauf auch eine offenbar dann schnell herbeigerufene Streife.

SPD
Wie alle Parteien und Vereine brach auch die SPD ihr Versprechen, bis zum 1. Mai 2002 u.a. über runde Tische eine Deeskalation zu erreichen. Allein die ProjektwerkstättlerInnen brachten diesen Vorschlag immer wieder ein - meist ohne jegliche Resonanz (Briefe, Mails wurden gar nicht beantwortet. Die Gemeindeverwaltung weigerte sich sogar, Briefe an die Parteien in deren Fächer zu legen bzw. weiterzuleiten (mehr ...). Die SPD bzw. der Bürgermeister wurden auch aus SPD-Kreisen angeschrieben, was sie zu tun gedenken - in der Antwort wurde diese Frage nicht beantwortet.
In der Nacht zum 1. Mai zeigte sich aber, daß die SPD sich sehr intensiv vorbereitet hatten. Zweifelsfrei ging es ihr um den sozialen Frieden und das Image von Saasen bzw. Reiskirchen - und nicht um gesellschaftliche Offenheit und Vielfalt. Sie hatte aber in der Nacht fast ständig mehrere Menschen im Dorf präsent, die auch sehr schnell weitere mobilisierten. Sie stellten sich in die Nähe möglicher Konfliktorte oder -gruppen - allein ihre recht demonstrative Anwesenheit dürfte deeskaliertend gewirkt haben. Fern jeglicher politischer Nähe muß also zur SPD ähnlich wie zur Polizei gesagt werden: Die haben ihr Ding überzeugend umgesetzt. Und sie versagten offenbar taktisch auch am gleichen Punkt wie die Polizei - nämlich um 2.30 Uhr, als niemand mehr mit Scharmützeln rechnete, aber eine Konfrontation möglich gewesen wäre, fehlte auch die SPD.

Grüne
Zu den Grünen wird es noch einen weiteren Bericht geben - denn der Vorgang vom 30.4. ist fast unglaublich: Ein Grüner, der bei anderen Grünen in Saasen zu Besuch war, versuchte eine Person davon abzuhalten, die Projektwerkstatt zu sichern, weil die Projektwerkstatt selbst schuld hätte und es daher eigentlich nicht wert wäre, verteidigt zu werden. Zudem entstand noch der Eindruck, daß die der Saasener Grüne andere Grüne, zu denen teilweise ein guter Kontakt besteht und die auch bei der Vorbereitung des 30.4. halfen, über seinen Unwillen zum Kontakt mit der Projektwerkstatt im Unklaren ließ. Das ist ein Problem, mit dem die Grünen auch intern umgehen müssen, daß die Person, die sich am deutlichsten gegen die Projektwerkstatt geäußert hat, gerade aus ihrer Partei stammt. Danke an die, die uns halfen!

Bericht eines Besuchers (gekürzt um persönliche Diffamierungen)
Auf meinem Weg vom Bahnhof zur Projektwerkstatt wurde ich auf der Straße unmittelbar vor dem Gemeindehaus der ev. Kirchengemeinde von Herbert Schlosser aufgehalten. Er fragte mich, wo ich hin wolle und verwickelte mich in eine längere Diskussion in deren Verlauf er die folgenden stichpunkthaft notierten Punkte anführte:
  • Jörg B. habe den Samen für die Situation (Eskalation) an diesem ersten Mai und davor selbst gesät. Es sei kein Wunder, daß das Dorf nun so reagiere, da es sich ja nun angegriffen fühle.
  • Jörg habe damit die jetztige Eskalation sich selbst verdient
  • Er habe es ja oft versucht, mit Jörg klar zu kommen, aber das mache keinen Sinn, denn Jörg wolle ja mit gar niemandem klarkommen, er nutze die Leute eher nur aus, für seine Ziele. ...
  • Als Jutta und die alte Crew noch dagewesen wäre, da sei alles viel besser gewesen, da hätte Jutta ja noch viel Kontakt zum Dorf gehabt, aber Jörg sei es ja nie darum gegangen, er sei von Anfang an mit dem Dorf nur auf Konfrontationskurs gewesen. Selbst mit den paar Linken im Dorf habe er es sich ja versaut.
  • Dabei mache der Jörg ja eigentlich inhaltlich gute und interessante Arbeit, die er auch gerne unterstützen wolle.
  • Eigentlich hätten sie ja eine Mauer zwischen den beiden Konfliktparteien bilden wollen, am 1. Mai, aber nun habe er sich das anders überlegt, wo Jörg nun den Konflikt so aufpuste und mit seinen Artikeln im Internet und so noch anheize. Da wollte sie nicht mehr dazwischen stehen.
  • Offenbar seien wir ja auf Gewalt aus, wie wir provozieren würden. Da sei es auch kein Wunder, wenn jetzt womöglich wirklich die Nazis kommen würden. Wir hätten dies ja quasi provoziert, durch diese Eskalation. ...
  • Fazit: Man müsse das Dorf ja auch verstehen, wo es sich nun so provoziert sehe, wir dürften das nicht so einseitig sehen. Er rede mit allen und könne auch die unterschiedlichen Meinungen der anderen akzeptieren.

Diese und die diffamierenden Angaben hat Herbert Schlosser auch anderen Personen gegenüber im Vorfeld gemacht. Er hinterließ dabei auch die Telefonnummer von Dunja, eine der AutorInnen des bundesweiten Sexismusvorwurfs, die damit als Art Kronzeugin gegen die Projektwerkstatt auftrat.

Angestachelte Jugendliche aus Saasen
Drei AffenBemerkenswert war in den letzten Wochen vor dem 1. Mai eine stark steigende Pöbelmentalität bei Jugendlichen im KonfirmandInnenalter und knapp drüber. Üblich war, bei einem Gang von Projektwerkstatt z.B. zum Bahnhof mehrfach angepöbelt zu werden - aus Angst offenbar immer nur, wenn "wir" schon weiter entfernt waren. Das ist interessant u.a. vor dem Hintergrund, daß der Pfarrer schon um den 1. Mai 2001 herum jeglichen Kontakt zur Projektwerkstatt abgelehnt hatte und gegenüber Dritten ankündigte, "seine" KonfirmandInnen ansprechen zu wollten. Das Ergebnis beeindruckt - unklar ist zudem, warum die Kirche auch nach der Nazisprüherei auf das Kirchengemeindehaus die Drei-Affen-Strategie weiterführte.
In der Nacht auf den 1. Mai waren die beschriebenen Jugendlichen aber an keinerlei Aggressionen beteiligt. "Wir" beobachteten aber vor allem Dorfplatz Gruppen, die dort ausharrten, um zu gucken, ob "noch was ginge" - wenn Polizei und SPD weg wären. Das waren aber ältere Jugendliche (am 4.5. erfuhren wird, daß auch Saasener Vereine mitaufpaßten, daß es keine Eskalation gab).
"Uns" bewegte aber die Frage, warum Jugendliche so ablehnend agieren, mit denen "wir" keinerlei negative Vergangenheit haben und die auch nichts wissen darüber, was in unserem Haus abgeht, was wir so machen, wo wir herkommen und ob nicht vieles dabei ist, was ihnen sogar deutlich mehr Spaß machen oder eigene Freiräume bieten könnte als das Vereinseinerlei. Ein Mädchen, daß wir fragten, warum es uns beschimpfte und woher sie hätte, daß wir doof seien, antwortete offen: "Meine Eltern". Diskriminierung und Ausgrenzung wird über Generationen getragen - auch das ist nichts Neues.

Weitere aggressive Aktionen aus dem Dorf
In den Wochen vor dem 1. Mai gab es (wie im ganzen Jahr) Sachbeschädigungen gegen das Grundstück der Projektwerkstatt. Hinzu kommen permanente, u.a. faschistische Anmachen ("vergasen müßte man Euch") vom SPD-Paar, das in der Ludwigstr. 10 wohnt (weißes Haus gegenüber) und die Drohmails (siehe hier ...)

Weitere Menschen aus dem Dorf
Auch in einem Dorf mit so gut erhaltener patriarchaler Männer-Clandominanz gibt es eine Mehrheit, die sich raushält. Die Vorgänge haben nicht gereicht, um diese Lethargie und das Drei-Affen-Verhalten zu durchbrechen. Selbst (oder gerade!) Menschen, die sich für "gebildet", "reflektiert", "kritisch" oder manchmal sogar "links" halten, haben eine unglaubliche Gleichgültigkeit gezeigt. Sich zeigen damit denen, die ganz bewußt eine Verschärfung gesellschaftlicher Machtverhältnisse wollen, auch hier: Wir werden Euch nicht stören ...
Nur zwei Menschen haben nach unserem Eindruck selbstbestimmt agiert und mit ihren Ideen in der Nacht das gemacht, was sie für richtig und angemessen hielten. Es war nicht mit "uns" abgesprochen, aber solche Selbstbestimmtheit ist der Schritt raus aus der Drei-Affen-Gesellschaft. Der Mut, selbst zu handeln, ist das wirksamste Mittel gegen Diskriminierung - die nicht nur am 1. Mai gegen die Projektwerkstatt läuft, sondern ständig und alltäglich gegen Menschen anderer Hautfarbe und Nationalität, gegen sog. "Minderjährige" (der Begriff ist schon zum Kotzen ...), sozial konstruierte Gruppen wie Frauen, Behinderte, Ungebildete, LohnarbeiterInnen usw. Eine gleichberechtigte Welt kann dort entstehen, wo viele (alle?) es als ihre eigene Sache ansehen, Diskriminierung abzuwehren.
Vier EinwohnerInnen aus der Großgemeinde Reiskirchen verteidigten die Projektwerkstatt direkt - wäre schön, wenn daraus und mit weiteren Menschen aus der Umgebung mehr geschieht, als den eigenen Freiraum zu verteidigen, sondern auch Ideen von selbstorganisierter Kultur und Politik, Leben und Alltag umzusetzen. "Wir" sollten mehr zusammen machen ...

Vereine usw.
"Wir" haben mehrfach Vereine, Kirche usw. angesprochen, um Gespräche gebeten, auch Kooperationsideen vorgeschlagen (z.B. ein gemeinsames Saasen-Internetportal (so dolle funktionieren die bisherigen Versuche ja nicht ...). Reaktionen gab es meist nicht. Mitte April entstand die Idee zu einem Fußballspiel, wir fragten die 1. Herrenmannschaft des SV Saasen und gingen dafür dreimal zum Training. Es gab einige nette Gespräche vor allem mit dem Trainer, der "uns" sehr offen gegenübertrat - leider aber kam es nicht zum Spiel, da zu wenig Spieler an dem Abend konnten. Wäre schön gewesen ... vielleicht ein andern Mal?

Nazis
Völlig unklar ist, wieweit Nazis einen Blick auf die Szenerie geworfen haben. Die beschriebenen Plakatkleibereen und Schmiereien sind recht eindeutig Nazis zuzuordnen, kleine Kritzeleien z.B. am Jugendzentrum eher unreflektieren Jugendlichen. Nazis mögen es, sich mit sozialrassistischer Bevölkerung zu mischen (siehe Rostock und Hoyerswerda). Zum 1. Mai hin gab es keine Naziaktivitäten mehr, was geschah, ist auf der Chronologieseite beschrieben.

Antifa- und einige andere "linke" Strukturen im Raum Mittelhessen
Sehr unterschiedlich reagierten "linke" Gruppen im Raum Gießen. Fast 60 kreative, überwiegend aus herrschaftsfeindlichen, widerständigen Gruppen stammende Menschen waren vor Ort. Das war schön. Doch etliche Gruppen aus der Region verweigerten jegliche Unterstützung. Ihr Haß richtete sich u.a. gegen die herrschaftsfeindlichen Positionen, die immer wieder aus der Projektwerkstatt heraus formuliert werden und auch Dominanzverhältnisse in "linken" Gruppen angreifen. Daß es die gibt, wurde offensichtlich auch darin, daß z.B. in Marburg zwei "linke" Zentren Infoveranstaltungen zum Saasener 1. Mai in ihren Räumen verboten, andere Gruppen die Unterstützung ablehnten. Mindestens eine Person mischte sich sogar direkt in Saasen ein, um zu vermitteln, daß es um die Projektwerkstatt nicht schade wäre ...
Diesem "Vorspiel" stand dann am 30.4. aber doch eine überraschend breite Unterstützung auch aus der Region entgegen - auch von Einzelpersonen aus Gruppen, die ansonsten keine Solidarität zeigten.

Presse
Die regionale Presse schwieg komplett - das paßt zu dem offensichtlichen Gesamtkonzept, Ruhe durchzusetzen und Eskalation zu verhindern. Der ganze Vorgang, tatsächlich ja gegenüber anderen Presseartikeln von hohem Nachrichtenwert, blieb ungenannt. "Linke", überregionale Zeitungen weigerten sich ebenfalls, im Vorherein zu berichten oder den Termin aufzunehmen - auch das ist ein Zeichen für die Dominanzverhältnisse. Aktivität in linken Zusammenhängen dient meist dem Ausbau oder der Sicherung von Einfluß, Geldquellen usw. und nicht gesellschaftlicher Einmischung. Die Trostlosigkeit setzte sich hier nur fort ...

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