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UTOPIE-CAMP IN GIESSEN

Zwischen Staatsmacht und visionären Ausblicken


1. Zwischen Staatsmacht und visionären Ausblicken
2. Was waren die Ideen?
3. Planung und Berichte: Was ging ab?
4. Was abging ... Das war der Service-Teil
5. Nachbetrachtungen, Berichte, Auswertungen... wie war's für Beteiligte?
6. Kommentare auf Indymedia (unter dem letzten Bericht)
7. So sah's aus ... mehr Bilder auf Indymedia (siehe: Berichte)
8. Widerständiger und kritisch-utopischer Treffpunkt im Gießener Umsonstladen

Kurz zusammengefaßt: Im Frühjahr 2003 entstand die Idee, inmitten von Gießen eine Art "Gegenstadt" aufzubauen - ohne ChefInnen, kooperatives Miteinander vieler bunter Bausteine, offensives Einbinden der Menschen am Platz, in den Wohnungen drumherum. Aber auch aktiv, widerständig gegen die Law-and-Order-Politik der Stadt. In der Vorbereitungsphase entstanden viele Ideen vom Umsonstladen und -essen, einem Umsonst-Frisörsalon und der offenen Bühne, Infozelten und Direct-Action-Plattform, Filmnacht und Kinder-Chaos"zone" ... und viel, viel mehr. Leider mußten wir feststellen, daß viele politische Gruppen, deren Arbeitsstil mehr an "Normalitäten" wie Gremienarbeit oder Demos angelehnt ist, Stück für Stück ausstiegen oder nie richtig dazukamen trotz formulierten Interesses. Ganz überraschend kam das nicht: Utopien sind nicht etwas für "die anderen", sondern kreative, visionäre Politik fehlt gerade in "linken" Zusammenhängen. Das Camp führte zu einem abenteuerlichen Tauziehen mit der Staatsmacht. Nach langem Hinhalten hagelte es kurz vor Beginn ein schmuckes Verbot seitens des Ordnungsamtes, an dem die politische Führung in Gießen sicher nicht unbeteiligt war (archive.ph/http://de.indymedia.org/2003/08/60207.shtml). Trotz Verbot und Mega-Polizeiaufgebot für eine überschaubare Anzahl UtopiecamperInnen wurde einfach losgelegt (Die ersten Tage: archive.ph/http://de.indymedia.org/2003/08/60391.shtml) Skurile Pavillon-Umzüge tags und nachts, Workshops in der FußgängerInnenzone, jeden Tag um 19 Uhr Umsonstessen am Rand des Kirchenplatzes, durchgeknallte Polizei-Angriffe, Antiwahlaktionen und eine NachtTanzDemo prägten die nächsten Tage. An einem Tag konnte am Marktplatz sogar den ganzen Tag über ein Teil des UtopieCamps stehen, weil die PassantInnen offensiv zur Unterstützung gegen die Staatsmacht aufgerufen wurden und selbige dann die Räumung nicht mehr wagte. So gab es einen sehr schönen Tag mit vielen Kontakten zu Menschen rund um den Umsonstladen, Frisörsalon und mehr. So gingen die ersten Tage herum, bis - unglaublich - am vierten Tag ein Verwaltungsgerichtsurteil das Verbot einfach aufhob und das UtopieCamp in begrenztem Umfang stattfinden durfte. (Aufhebung des Verbots und weitere Berichte: archive.ph/http://de.indymedia.org/2003/08/60509.shtml)!

Um 0 Uhr am Sonntag wurde die Fläche dann "erobert". Bis dahin hatten Polizeiwannen den Kirchenplatz rund um die Uhr bewacht - und auch sonst patroullierte ein unglaubliches Aufgebot an Sicherheitskräften durch die Stadt. Das machte das Bild besonders krass - um kurz vor Mitternacht rückte die Staatsstreitmacht ab und ein buntes Leben begann auf dem Platz. So sah es auch den Sonntag über aus. Doch das Ordnungsamt und die Polit-Eliten blieben am Ball: Am 01.09 folgte eine erneute Räumung (de.indymedia.org//2003/09/60698.shtml). Die Polizei baute ein Zelt ab und räumte den Umsonstladen und das gerade gekochte Essen komplett ab - Gemüse, Klamotten, Kochtöpfe ... alles verschwand im großen LKW. Ein zweiter Zug vor's Verwaltungsgericht führte aber zur erneuten Aufhebung der Räumung und der Legalisierung von Umsonst-Laden, -Essen, Lernort. Die Stadt trickste zwar herum, in dem sie nun behauptete, nicht zu wissen, wo der ganze Kram sei - aber am nächsten Morgen sorgte doch ein Besuch beim Fuhramt für Aufklärung. So brachen dann bei gutem Wetter noch zwei schöne Tage an und sehr, sehr deutlich präsentierte sich der Unterschied zwischen Bullenstadt und UtopieCamp. Rundherum gab es einige direkte Aktionen, manchmal auch die eine oder andere Verhaftung, bis alles zuende war und kurz vor Mitternacht am Mittwoch in einer sehr bewegenden Verabschiedung von einigen AnwohnerInnen und BerberInnen Zelte, Kochutensilien usw. abgefahren wurden (archive.ph/http://de.indymedia.org/2003/09/60895.shtml).

Ein Mitwirkender beschrieb seinen Eindruck von Sinn und Unsinn des UtopieCamps so: "Meine Wahrnehmung ist, dass das Zelt mit den einzelnen Umsonst-Elementen und dem Gesamt-Ambiente, die witzigen Pavillon-Aktionen zu Beginn und die tatkräftige "Unterstützung" durch den absurden Polizeieinsatzes und viele Einzelaktionen der Cops (Räumung inklusive Essen und Umsonstladen), die auch BürgerInnen zum Kopfschütteln brachten, das Klima (wenn es überhaupt ein einheitliches Klima gibt) eher zum positiven für kreativ-utopischen Widerstand gewandelt hat. Nach der Medien-Kampagne um den Gülle-Schlag (Anm.: die grüne Bürgermeisterkandidatin schlug einem Polititaktivistin einige Tage vor dem Utopiecamp unter dem Jubel von Grünen und CDUlern und späterer Unterstützungsartikel in den Tageszeitungen mit der Faust ins Gesicht, siehe archive.ph/http://de.indymedia.org/2003/08/60237.shtml) waren Jubel-Rufe über kassierte Prügel ja beim Auftakt des Camps relativ häufig. Leider konnte das eigentliche Camp ja nur zweieinhalb Tage auf dem Kirchplatz stehen und wahrscheinlich nur ansatzweise die Wirkung und Kontinuität ausstrahlen, die ich mir gewünscht hätte. Gerade deshalb finde ich es erstaunlich, dass es in kurzer Zeit auf einige Menschen nachhaltigen Eindruck gemacht hat, darunter wenige AnwohnerInnen, PassantInnen, aber vor allem bei einigen BerberInnen, denen das Camp nach eigenen Aussagen viel Kraft und Mut gegeben hat: Ein spürbar bewegter Berber führte as Utopiecamp mit Umsonstessen symbolisch zwei Tage fort. Inzwischen hat er die drei Schwätzer Skulptur leicht verändert und dort einen Mini-Umsonstladen aufgebaut. Seit Tagen wird er morgens von PolizistInnen geweckt, da er ganz offensiv in der Stadtmitte schläft ... wow. Beteiligte des Camps berichten davon, immer wieder in der Stadt auf das Utopie-Zelt angesprochen zu werden. Das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das Utopiecamp insgesamt sicher wenig bewirkt hat bzw. all das kaum "überprüfbar" ist.

Aber nicht nur mir scheint das Lust zu machen auf weitere konkret-utopische Aktionen und Projekte und neue Versuche, nächstes Jahr wieder so etwas wie ein Utopie-Zelt umzusetzen, das mehr Wellen schlagen könnte. Nun, als ich heute Nacht über den Kirchplatz fuhr, fand ich ihn irgendwie leer, es fehlte was ... Schöne Erinnerungen verbinde ich mit Phasen, wo viele, unterschiedliche Leute (von berberInnen über Arbeitlose, AnwohnerInnen, Jugendliche usw.) das Camp aufsuchten, herum standen, sich mit dem Umsonstladen und -Essen beschäftigten und es viele kleine, intensive Gespräche über die Ideen gab, die sich dahinter verbergen. Es gibt da wenig zu beschönigen oder zu verklären, aber ein Flair von Offenheit war da schon spürbar, den ich gerne ausbauen würde. Also Ideen und konkrete Schritte, um Abgrenzungsgehabe und identitäre Grüppchen aufzubrechen, mit denen Menschen entzweit und in Konkurrenz miteinander gesetzt werden.

Gefallen hat mir, dass es trotz der Menge an zivilen und normalen Einsatzkräften plus einer streckenweise sehr hohen Polizeifrequenz offenbar einige freche Aktionen gab (Copyarts an Bushaltestellen, bunte Schulen mit schulkritischen Grafittis, Enzäunungsaktion, nächtliche Pavillon-Karawanen und veränderte Wahlplakate). Eine der wichtigsten und mitunter persönlich tiefgehenden Erfahrungen war und ist der Kontakt zu den BerberInnen in Gießen - also dass, was eigentlich schon seit langer Zeit immer wieder in Plena zerlabert wurde (als es los ging mit der Abwehr-der-Ordnung) und erst jetzt in die Gänge kommt. Den will ich nicht abbrechen lassen. Wichtig wäre mir dabei, Formen zu finden bzw. darauf hinzuarbeiten, dass dabei nicht so was wie nicht-staatliche, aber dennoch hierarchische Sozialarbeit entsteht, d.h. "wir" Umsonstessen für die BerberInnen organisieren. Sondern dass solche Projekte eben auch von den BerberInnen und Ausgegrenzten getragen werden bzw. sie selbst darin gestärkt und unterstützt werden, eigene Ideen umzusetzen. Das Ganze hat für mich auch neue Ansatzpunkte offen gelegt, wo Widerstand gegen die Stadtpoltik möglich ist, und auch einige Ideen und Lust, den Reigen von Innenstadtaktionen im letzten Jahr nicht versiegen zu lassen. Die Entzäunung bzw. Öffnung des Löbau-Hofes (Abgesperrter BerberInnen-Treffpunkt, siehe: archive.ph/http://de.indymedia.org/2003/09/60895.shtml) fand ich vor diesem Hintergrund sehr cool."

Internetseite zu Law and Order gegen herrschaftsfreie Utopien: www.abwehr-der-ordnung.siehe.website.
(Quelle: FUI - Freches Umwelt Info 4/03)


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