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ANARCHIE UND MORAL: DAS GUTE AUS DEM TRANSZENDENTEN "OFF"

Anarchistischer Gedankenbrei: Religion - nein! Höhere Werte - ja, doch ...?


1. Was ist Moral und wozu dient sie?
2. Die Moralen der AnarchistInnen und Gutmenschen
3. Libertär und brav: Der anarchistischer Knigge
4. Anarchistischer Gedankenbrei: Religion - nein! Höhere Werte - ja, doch ...?
5. Links

Es ist überraschend, wie oft und intensiv sich AnarchistInnen auf unumstößliche moralische Grundwerte beziehen oder universelle Kriterien für richtiges und falsches Verhalten benennen. Dabei ist der Glaube an höhere Quellen für Werte oder Ideologien vergleichbar mit Religionen, die die umfassendsten Systeme dieser Art darstellen.

Im Original: AnarchstInnen gegen Religion
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (mehr Auszüge)
Daß der Anarchismus mit dem Glauben an eine außerhalb der Persönlichkeit wirkende bewußte und willensbegabte Kraft unvereinbar ist, bedarf keiner besonderen Darlegung. Der Begriff der Religion könnte nur insofern mit anarchistischer Denkweise in Übereinstimmung gebracht werden, wie er als Hingebung und Versunkenheit des Ich in seiner Beziehung zu Menschheit und Weltall gemeint wäre. ... (S. 30)
Jede Unterwerfung und Beherrschung führt zu materieller Ausbeutung, jede Ausbeutung zu Autorität, Zentralismus, Staat. Gott und der Staat sind die beiden Pole der Macht, die auf der Verneinung von Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Selbstverantwortung beruht. ...
(S. 32)
Die jüdische Gottvater-Lehre, die den einzigen, allmächtigen, allgerechten, allgegenwärtigen Gott mit dem finster drohenden Verlangen über die Menschen setzt, in unaufhörlichem Gebet angefleht, bewundert, der hingegebenen Verehrung versichert und für alles, selbst für jede Qual und Demütigung bedankt zu werden, schuf den westlichen Völkern die Voraussetzung zur Hinnahme der Vaterschaftsfamilie mit der gottähnlichen Stellung des über die Seinen herrschenden Oberhauptes. Diese autoritären Vorbilder haben auch dem Staat mit seiner nationalistischen Ideologie die Bereitwilligkeit der Menschen zur Untertanschaft unter eine zentralistisch schaltende Macht, zum Verzicht auf Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung in den Dingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erschlossen. Gottvater, Vater, Vaterland - die Einwirkung auf die Gefügigkeit der Menschen geschieht überall auf die gleiche Weise ...
(S. 40)

Aus Bakunin, Michail: Gott und der Staat (Nachdruck 1995 im Trotzdem Verlag, Internet)
Alle Religionen mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Erlösern und Heiligen wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben überspannt, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d.h. vergöttlicht. ...
Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden, und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst erleuchtete, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen unbegrenzten und demütigen Gehorsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur bestimmte und bevorrechtete Völker umfaßten, während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz verkündet und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Religion, und die römischapostolische Kirche die einzig konsequente, rechtmäßige und göttliche.
Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis. Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen wie die Jesuiten, die protestantischen Momiers, Pietisten oder Methodisten, dann können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht das geringste Zugeständnis machen. Denn wer in diesem geheimnisvollen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten. Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen. ...
(S. 58 f.)
Die Tatsache dieses Glaubens erklärt sich übrigens auf natürliche und vernünftige Weise. Das Beispiel von Kindern und Jünglingen, selbst von vielen Erwachsenen, zeigt uns, daß der Mensch seine geistigen Fähigkeiten schon lange gebrauchen kann, bevor er sich darüber Rechenschaft ablegt, wie er sie ausübt, bevor er zum klaren und genauen Bewußtsein dieser Ausübung kommt. In dieser Zeit, in welcher der Geist seiner selbst unbewußt in Tätigkeit tritt, in der die Intelligenz naiv oder gläubig tätig ist, schafft der von der äußeren Welt bedrückte Mensch, von dem inneren Stachel, dem Leben und den vielartigen Bedürfnissen des Lebens getrieben, eine Menge Einbildungen, Begriffe und Ideen, die notwendigerweise zuerst sehr unvollkommen sind und der Wirklichkeit der Dinge und Tatsachen, die sie sich auszudrücken bemühen, sehr wenig entsprechen. Und da er sich seiner eigenen Verstandestätigkeit nicht bewußt ist, da er noch nicht weiß, daß er selbst diese Einbildungen, Begriffe und Ideen hervorbringt und hervorzubringen fortfährt, da er selbst ihren ganz subjektiven, das heißt menschlichen Ursprung nicht kennt, betrachtet er sie natürlich mit Notwendigkeit als objektive Wesen, als wirkliche Wesen, die von ihm selbst ganz unabhängig durch sich selbst und in sich selbst sind.
Auf diese Weise schufen die Naturvölker, die langsam ihre tierische Unschuld verließen, ihre Götter. Nachdem sie sie geschaffen, fiel ihnen nicht ein, daß sie selbst ihre einzigen Schöpfer waren, und sie beteten sie an, betrachteten sie als wirkliche, ihnen selbst unendlich überlegene Wesen, legten ihnen Allmacht bei und erklärten sich als ihre Geschöpfe, ihre Sklaven. Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Ideen idealisierten sich auch die Götter, die, wie ich bemerkte, stets nur der phantastische, ideale, poetische Widerschein oder das verkehrte Bild dieser Ideen waren. Aus groben Fetischen wurden sie allmählich zu reinen Geistern, die außerhalb der sichtbaren Welt existieren, und zum Schluß, als Folge einer langen geschichtlichen Entwicklung, verschmolzen sie in ein einziges göttliches Wesen, den reinen, ewigen, absoluten Geist, den Schöpfer und Herrn der Welten. ...
(S. 92)
Es ist jene ewige Luftspiegelung, welche die Massen auf die Suche nach den göttlichen Schätzen hinreißt, während die herrschende Klasse viel bescheidener sich damit begnügt, die elenden Güter der Erde und das menschliche Hab und Gut des Volkes, seine politische und soziale Freiheit inbegriffen, unter ihre eigenen Mitglieder zu verteilen, auf sehr ungleiche Art übrigens und so, daß der, der mehr besitzt, immer noch mehr erhält.
(S. 103)

Aus Frans de Waal, "Tierische Moralitäten" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 61)
Ich bezweifle, dass die Naturwissenschaft und die naturalistische Weltsicht die Lücke füllen und eine Inspiration für das Gute werden könnten. Jedes Bezugssystem, das wir zugunsten einer bestimmten moralischen Perspektive entwickeln, ist gezwungen, eine eigene Liste von Grundsätzen aufzustellen, eigene Propheten hervorzubringen und eigene ergebene Anhänger um sich zu scharen, sodass es sehr bald die Gestalt irgendeiner beliebigen herkömmlichen Religion annehmen würde.

Dass Religion mit emanzipatorischen und erst recht anarchistischen Ideen unvereinbar sind, darüber herrscht also weitgehend Einigkeit. Doch kaum trägt ein metaphysisches Wertesystem dieses Etikett nicht mehr, bröckelt die Klarheit. Wenn bestimmte Moralvorstellungen als universell angenommen werden - wie an den Beispielen Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit gezeigt -, dann hat das doch eine Ähnlichkeit mit den klassischen Religionen. Gleiches gilt, wenn mensch sich auf über dem Individuum und seinen freien Zusammenschlüssen stehende Quellen bezieht - wie es bei identitären Kollektiven (Volk, Plenum usw.) oder höheren Werten der Fall ist. Als Religion wirkt es nur deshalb nicht, weil die reichlich veraltete, triefend patriarchale Figur des bärtigen Gottvaters eingemottet und durch moderne Bilder ersetzt wurde, ohne dass aber deren Funktion als Quelle externer Autorität in Frage gestellt ist.

Da überrascht es auch nicht, dass andere Strömungen, die sich religionskritisch geben und vermeintlich den Menschen in den Mittelpunkt stellen (also emanzipatorische Ziele verfolgen), ähnliche Probleme haben. Das gilt z.B. für die sich stärker als einheitliche Gruppe organisierenden HumanistInnen. Diese haben, obwohl als Personen überwiegend eher bürgerlicher Sozialisierung, sogar die eine oder andere Überschneidung mit anarchistischen Gedanken und Strömungen - wie im nicht zufällig weit verbreiteten Buchstaben "A" in Verlagsnamen wie Alibri, Alive usw. erkennbar ist.

Im Original: HumanistInnen hetzten gegen Egoismus
Egoismus als Übel
Auszug aus Reichholf, Josef H., "Der Mensch zwischen Natur und Kultur", in: "Der Neue Humanismus", Alibri in Aschaffenburg (S. 132)
In der Überwindung des primären Egoismus des Individuums und des sekundären der Gruppe, zu der es gehört, liegt also die Herausforderung für den Humanismus.

Im alten Humanismus: Erziehung und Kultur als Bändigung des Raubtiers Mensch
Auszug aus Wetz, Franz Josef, "Wie ist Selbstachteung noch möglich? ", in: "Der Neue Humanismus", Alibri in Aschaffenburg (S. 197ff)
Humanistische Bildung ist eine Aufgabe und keine Selbstverständlichkeit! Sie darf als Versuch gedeutet werden, das Raubtier Mensch zu bändigen, für das Unmenschlichkeit der natürliche Normalfall war, wenn tatsächlich Triebe und Leidenschaften statt Geist und Vernunft den Menschen ursprünglich regierten. Hier setzt der Humanismus mit seiner Idee der Menschenbildung als Menschenzähmung an. Denn Humanismus ist immer auch das Unterfangen, die von unersättlichen Begierden getriebene Bestie Mensch aus der Barbarei zurückzuholen, das Rohe, Wilde, Grausame an ihm einzudämmen, hemmungslose Impulse und den Drang nach Gewaltsamkeit zu begrenzen. So wendet sich der Humanismus gegen die unruhige Gärung des Lebens, die durch die Züchtung höherer Anstandsgefühle begrenzt werden sollte. Fassungslose Verzweifung, unbeherrschte Freude, ausschweifende Lach- und Tanzobsessionen, das Vulgäre, Obszöne, Exzessive, die Lust an der Fäkalsprache, die Grimassen der sinnlichen Erregung und die Fratzen des bebenden Fleisches - dies alles wird im Humanismus als ansteckende, Unruhe stiftende Elemente einer inneren und äußeren Zensur unterworfen und wie Exkremente ausgeschieden. ...
Der neue Humanismus geht diesen Weg nicht ...
Sechstens ist der neue Humanismus weniger geist- und vernunftorientiert als vielmehr leib- und lustbetonend. Aufwühlende Reizbefriedigungen, rauschende Erotik und maßlose Feste ermöglichten eine Intensivierung und Bereicherung des Lebens. Hierzu böten Sport, Spiel, Sex, Abenteuer und Musik der unterschiedlichsten Art vielfältig Gelegenheit. In dieser hedonistischen Lebensweise vollziehe sich eine Art existenzieller Wertschöpfung, bei der ein Mehrwert in Form eines gesteigerten Lustgewinns erzielt werde.
Siebtens gilt die Veredelung des Menschen zu einem selbstlosen, wohlwollenden Wesen eher als aussichtsloses Unternehmen, weil menschliches Handeln von Eigeninteresse gelenkt werde. Hinter altruistischem Verhalten steckten egoistische Gene, hinter Kooperation strategisches Kalkül, hinter Mitfreude persönlicher Lustgewinn und hinter hilfsbereitem Mitleid eigenes Schmerzempfinden, die Macht der sogenannten Spiegelneuronen. Dieses empathische Schmerzempfinden reduzierten wir häufig durch Spendenaktionen und Hilfsmaßnahmen, hinter denen gleichfalls eigennütziges Handeln stehe, gehe es doch hierbei letztlich um eine Beseitigung des eigenen Unbehagens angesichts des Elends anderer Menschen.


Zum nächsten Text über Anarchie und Demokratie, dem dritten im Kapitel "Theorien, Lücken und blinde Flecken"

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