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PRAXIS: EXPERIMENT, AKTION UND ALLTAG

Experimente und Anwendungsfelder


1. Einleitung
2. Demaskierung des Herrschaftsförmigen in Verhältnissen und Beziehungen
3. Herrschaft abwickeln
4. Aneignung und Austeilen
5. Beteiligungsmöglichkeiten ausdehnen, Hemmnisse abbauen
6. Alternativen und Gegenkultur
7. Utopien entwickeln, benennen und vorantreiben
8. Experimente und Anwendungsfelder
9. Aktion: Öffentlichkeit und Widerstand
10. Links

Ein zentraler Baustein von Praxis sind konkrete Versuche, es anders zu machen. Dabei kommt es nicht auf die Größe des Projektes an, wohl aber auf seinen utopischen Gehalt. Denn was Experiment sein will, muss über das hinausgehen, was "norm"al ist - und zwar sowohl in Bezug auf den bestehenden gesellschaftlichen Mainstreams wie auch üblich in Sinne politischer Protestformen. Zwar ist nicht falsch, Bewährtes zu wiederholen, als vorantreibend können aber nur solche Versuche bewertet werden, die versuchen, neue Ideen umzusetzen oder neue Erfahrungen zu sammeln (z.B. gleiche Versuche unter anderen Bedingungen).
Es tut aber auch der Theorie- und Strategiediskussion gut, sich auszuprobieren und Erfahrungen aus der Praxis in die Überlegungen einfließen zu lassen. Etliche theoretische Verwirrungen der Vergangenheit und Gegenwart entspringen dramatischen Abgehobenheiten, wenn z.B. Intellektuelle, überwiegend im Staatsdienst, über Bedingungen der ArbeiterInnenklasse und deren Einheit fabulieren, wenn dunkel gekleidete, sportliche Jungerwachsene - frisch aus der Fürsorge durch die eigene Mami entlassen - über Autonomie oder Radikalität mitsamt ihren Folgen diskutieren, wenn privilegierte BürgerInnenschichten, die weder selbst noch in ihrer Verwandtschaft je mit Zwangspsychiatrie, Knast oder Strafjustiz in Berührung gekommen sind, den Rechtsstaat und die Garantie der Grundrechte loben, oder wenn NGO-FunktionärInnen zwischen ihren Anträgen auf Zuschüsse von Papi Staat Zeit finden, sich selbst als unabhängige Zivilgesellschaft zu inszenieren.
Es lohnt immer, die Auseinandersetzung da draußen zu suchen, um die Suche nach Wegen und Möglichkeiten aus der Praxis heraus zu forcieren. Außerdem bieten konkrete Projekte die Chance, Menschen und ihre Ideen mit in die Diskussion aufzunehmen, die zu einem reinen Theoriezirkel niemals dazustoßen würden (vielleicht schon allein, weil sie andere Gastwirtschaften besuchen ...).

Neben dem Impuls für die eigene und allgemeine Theorie- und Strategiediskussion bieten praktische Anwendungen weitere Chancen:
  • Propaganda der Tat: Die Existenz von konkreten Projekten kann öffentlich sichtbare Orte der Kritik und Veränderung schaffen. Alles, was konkret und greifbar ist, schafft Kontaktmöglichkeiten - vor allem wenn das Projekt verbunden wird mit offensiver Öffentlichkeitsarbeit aller Art, also von Nachbarschaftsfesten bis zu Medienarbeit.
  • Umleitung von Ressourcen: Land, Gebäude, Produktionsmittel und Wissen können über Projekte den AkteurInnen autoritärer Gesellschaft, z.B. Konzernen oder Staat, entzogen und öffentlich zugänglich gemacht werden.
  • Üben, aneignen und verbreiten: Jedes praktische Projekt ist Übung, z.B. zur Selbstorganisierung, in konkreten Aktionstechniken, im öffentlichen Auftreten oder in handwerklichen Bereichen. Das nützt den Beteiligten. Das Wissen lässt sich dann aber auch weitergeben, so dass eine öffentliche Wirkung entstehen kann.

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 233)
Einige Anarchisten plädierten dafür, die Vorstellungen eines besseren Lebens im hier und jetzt zu realisieren. Dies soll Schritt für Schritt außerhalb der staatlich-kapitalistischen Strukturen geschehen in "anarchistischen Inseln", in den "Nischen des Systems", in Siedlungsgenossenschaften oder in Produktions- und Konsumgenossenschaften. Durch solche Alternativen zum Bestehenden wollen einige Anarchisten "in Konkurrenz treten" zu Staat und Kapitalismus. Derartige Organisationsformen erlauben es, "aus dem Kapitalismus auszutreten", wie Landauer sagt, ohne zuvor das Gesamtsystem revolutionär zu zerschlagen: "Wir wollen nach Möglichkeit aus dem Kapitalismus austreten; wir wollen sozialistische Dörfer gründen; wir wollen Land- und Industriearbeit vereinigen ... und bald auf unserem neuen, dem sozialen Markt tauschen und den kapitalistischen vermeiden." (1977, 109)
Da Staat und Kapitalismus mit einer solchen Gegengesellschaft und Gegenökonomie wohl kaum "niederzukonkurrieren sind", läßt ein solcher Ausstieg aus den etablierten Strukturen und der Neuaufbau von dezentral-selbstverwalteten "Alternativen" nur als Teilstrategie sinnvoll erscheinen.


Im Folgenden sollen Praxisversuche, wie es sie schon gegeben hat und wie sie aktuell auch vielerorts laufen, kurz erwähnt werden. Mitunter erfolgt ein Hinweis auf weiterführende Literatur oder schon bestehende Texte in anderen Schriften oder im Internet, um hier nicht mit Wiederholungen zu arbeiten.

Wohnen
Weit verbreitet sind alternative Wohnprojekte. Allerdings haben sich die Formen im Verlauf der letzten Jahrzehnte stark zu einer hohen Kompatibilität mit den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen entwickelt. Was heute als alternatives Wohnprojekt startet, bildet in der Regel Eigentum - wenn auch gemeinsames -, schafft Eigentumsbehälter für alle Beteiligten sowie höchstens noch einige Gemeinschaftsflächen und finanziert sich aus ganz üblicher Lohnarbeit oder staatlichen Transferleistungen. Das war nicht immer so - besetzte Häuser oder selbstorganisierte Kommunen schufen z.B. in den 68er-Kämpfen und später bis in die 80er Jahre Raum für politische Aktion oder für freie Kunstprojekte. Diese eckten mitunter an. Je weniger Nähe zur "Norm"alität entstand, desto eher blieb der Wille zum Anderssein erhalten. Staatliche Repression und fehlende Legalisierung von Häusern und Wagenplätzen erhöhten die Chance, sich weiter als gegenkulturelles Projekt zu begreifen. Die Geschichte des alternativen Wohnens hat deutlich belegt, dass bessere Bedingungen nicht zum Ausnutzen des größeren Freiraumes führten, sondern eher zu einer beschleunigten Änderung der Persönlichkeiten. Aus der Mitte der Protestkultur ist die neue bürgerliche Bildungsavantgarde geworden. Oder anders ausgedrückt: Die WählerInnen der Grünen sind durchschnittlich reicher, konsumieren mehr und reisen öfter als die anderer Parteien. Ihre Wohnungen sind schick, teuer eingerichtet und hermetisch von der Außenwelt abgeschottet.

Im Original: Kritik an Überhöhung des Privaten
Aus Wicht, Cornelia (1980): "Der Ökologische Anarchismus Murray Bookchins", Verlag Freie Gesellschaft in Frankfurt (S. 61 f.)
Der Plan berücksichtigt, dass mit der "Frauenbefreiung und neuer kommunardischer Moral die Kleinfamilie sich geschichtlich überholt". Deswegen werden Flurpläne entworfen, die multifunktionale Räume zulassen, die mehr Interaktion begünstigen - "wie gemeinsame Speiseräume, Treffpunkte und Arbeitsplätze". Methoden werden diskutiert, wie die Dächer und Außenwände in kommunikative Verbindungsglieder mit den Nachbarhäusern und ebenso zwischen Räumen und oberen Stockwerken verwandelt werden können. Blueprint schlägt vor, Hinter- und Nebenhöfe zu entfrieden und das Land für Parks und Gärten zu öffnen, Brücken zwischen den Häusern werden vorgeschlagen, um die Trennung zwischen Innen und Außen aufzuheben. Der Zweck dieses Vorschlages ist, nicht nur die Natur in den Horizont des Stadtbewohners zu bringen, sondern intime Wege der Kommunikation zwischen Menschen zu schaffen.

Ein Zwang dazu besteht nicht - es ist die kulturelle Entwicklung der Personen. Zu erwarten ist zumindest im deutschsprachigen eine Fortsetzung dieser Geschichte, denn die politisch Aktiven in diesem Land sind fast ausschließlich bildungsbürgerlicher Herkunft. Unabhängigkeit, Experiment und Aneignung von Fähigkeiten spielen dort keine große Rolle.


Lernorte
Um selbstorganisiert leben zu können und seine Möglichkeiten zu entfalten, braucht es Wissen. Nicht solches, wie in den bevormundenden Schulen und Universitäten oder den entsprechenden Lehrbüchern vermittelt wird. Sondern etwas Lebendiges, was Wissensaneignung und -weitergabe nach den konkreten Bedürfnissen möglich macht. Menschen, die nicht im Strom mitschwimmen und so vorstrukturierte Lebensphasen mit Lernzeit, Arbeitsphase, Lebensendphase verbringen, werden immer lernen wollen, denn das Aneignen von Wissen erweitert die Möglichkeiten. Sie werden aber nach ihren Interessen lernen wollen, also jeweils das, was ihnen praktische Vorteile verschafft oder sie aus anderen Gründen gerade interessiert. Ein zeitlich vorgeplanter Stundenplan wird diesem nicht gerecht. Er schafft Einheitsbildung für Menschen, die lernen sollen, als Rädchen in einer großen Maschine zu funktionieren. Sie lernen nicht, sich selbst zu organisieren, eigene Interessen zu entwickeln und dann dafür die passenden Wissensquellen zu finden.
Genau so aber müssen emanzipatorische Lernorte aussehen. Nach Suche/Biete-Logik bilden sich dort Lerngruppen - ob aus 2 Menschen oder 100 ist Sache der Menschen selbst. Der Lernort ist zum einen Speicher an Informationen, d.h. er enthält Bibliotheken, Archive, Datenbanken, Anschaungsmaterial und Übungsgeräte, aber ebenso Platz für alle Arten von Wissensvermittlung - ob nun als frontale Vorlesungen, Workshop oder Austausch im Gespräch. Das Lernen wäre aber nicht auf solche Orte beschränkt, sondern findet überall in der Gesellschaft statt. Denn wo lässt sich Kochen besser lernen als in Küchen? Wo Holzarbeiten besser als in den Schreinereien? Wo Lebensmittelanbau und -verarbeitung anschaulicher als auf den Höfen?


Im Original: Kooperations- und Kommunikationsanbahnung
Aus P.M. (2012): "Kartoffeln und Computer", Nautilus in Hamburg (S. 31f.)
Kooperatorien sind Orte, an denen Wissen mitgeteilt und miteinander geteilt wird. Wissen wird ein Gemeinschaftsgut, das allen zur Verfügung steht, und es ist für alle eine Grundlage, auf der sie aufbauen können. Das Internet kann als globales "online" Kooperatorium das weltweite Netzwerk aus "offline" Kooperatorien unterstützen. Allerdings würde ausschließlich virtuelle Kooperation nie gut funktionieren, da reale Kommunikation von Mensch zu Mensch viel mehr Informationskanäle benutzt, wie z. B. die Körpersprache. Ideen sind nicht einfach Ideen wir müssen auch sehen, wie jemand aussieht, wenn er eine Idee hat. Die Nutzung des Internets und reale Begegnungen von Angesicht zu Angesicht können einander ergänzen.


Fußball ohne Schiedsrichter
Im Parteiorgan der Ökologisch-Demokratischen Partei namens „ÖkologiePolitik“ (Ausgabe Aug. 2016, S. 18) schrieb der langjährige bayrische Landesvorsitzende Bernhard Suttner einen Text, der für den Ordoliberalismus, eine staatlich regulierte Marktwirtschaft werben soll. Die Grundaussagen des Textes sind wenig neu und basieren auf der durch stetige Wiederholung nicht richtig werdenden Behauptung, dass radikale Marktwirtschaft und Planwirtschaft zwei Pole bilden, zwischen denen ein Aus- und dritter Weg gefunden werden sollte. Tatsächlich sind sich die beiden vermeintlichen Pole in vielen Punkten sehr ähnlich. So brauchen beide eine machtvolle Institution wie den Staat, um die Menschen davon abzuhalten, einfach selbst ihre Bedürfnisse zu befriedigen und dafür ihre Belange zu koordinieren, sei es in Abgrenzung oder Kooperation.
Der Text von Bernhard Suttner ist aus einem anderen Grunde interessant – nämlich hinsichtlich der vier Thesen am Anfang. Wie aus der Formulierung „relativ leicht als absurd zu erkennen“ hervorgeht, hält Suttner alle Aussagen der Thesen für unsinnig und glaubt, dass auch die Leser_innen ihm dort folgen – bei den ersten drei Thesen sofort und bei der vierten spätestens nach seinen Erläuterungen. Doch schauen wir uns die Thesen mal genauer an. Es ist nämlich ganz anders. „These 1: Verkehrsteilnehmer wollen ihre Ziele schnell erreichen. Das geht am besten, wenn die Straßenverkehrsordnung weitgehend abgeschafft wird.“ Suggerieren will Suttner, dass stattdessen ein geregelter Verkehr sinnvoller ist. Aber schon bei dieser These zeigt ein genauerer Blick, dass das nicht stimmt. Regeln und Verkehrsschilderwald tragen wenig zu mehr Verkehrssicherheit und schnellem Vorankommen bei. Im Gegenteil sind die Unfallzahlen niedriger, wenn die Fahrer_innen mehr aufeinander achten. Verkehrskreisel sind z.B. günstiger als Ampelkreuzungen. Hier liegt Suttner aber immerhin noch nicht ganz daneben, auch wenn vieles dafür spricht, dass er die These formuliert hat, ohne sich wirklich zu informieren. Sehr viel deutlicher wird das bei „These 2: Sportler wollen Wettkämpfe gewinnen und Freude erleben. Deshalb sollte es keine einengenden Vorschriften wie z.B. das Dopingverbot geben.“ Es gibt ein spannendes, seit Jahren andauerndes Experiment, was eigentlich eher aus der Not geboren wurde, nicht genügend Schiedrichter_innen zu haben. So wurden in einigen Ligen des Jugendfußballs Spiele ohne solche ausgetragen. Die Mannschaften mussten sich einigen. Das Beeindruckende: Die Spiele verliefen harmonischer – störend waren nur die Eltern am Rande, die für Regelgenauigkeit statt Vereinbarung eintraten und immer wieder die gute Stimmung versauten. Das ist ein beeindruckender Beleg, dass Regeln und vor allem Kontrolle nicht immer oder vielleicht auch nie die Lage verbessern, sondern dass die Menschen in freien Vereinbarungen besser miteinander klar kommen. Gesetz dem, dass niemensch über die_den anderen herrscht. Ähnlich zweifelhaft ist auch die „These 3: Menschen wollen angenehm wohnen. Aus diesem Grund sollten alle Hausbewohner ohne Hausordnung tun und lassen können, was ihnen gefällt.“ Hausordnungen werden von jemensch erlassen, die_der Abweichungen auch sanktionieren kann. Das verlagert Verstöße ins Geheime, fördert falsche Darstellungen und gegenseitiges Misstrauen. In den 70er Jahren gab es gute Erfahrungen mit regellos gemeinsam gestalteten Innenhöfen. Bleibt „These 4: Die Wirtschaft funktioniert dann am besten, wenn das freie Spiel der Marktkräfte ungehindert ablaufen kann.“ Die ist aus einem ganz anderen Grund falsch, wie auch der nachfolgende Satz: „Einflussreiche Teile der internationalen Wirtschaftswissenschaft plädieren für eine weitgehende De-Regulierung.“ Die behaupten das zwar, aber tatsächlich fordern sie eine Veränderung staatlichen Handelns, nicht dessen Rückzug. Denn der sogenannte freie Markt braucht eine stark und, wenn nötig, brutal agierende Macht. Sie muss das Eigentum sichern gegen die, es zum Leben brauchen. Sie muss Privilegien sichern, u.a. den Zugang zu Produktionsmitteln (Maschinen, Boden, Wasser, Luft, Energie, Patente usw.). Deshalb ist De-Regulierung kein weniger an Regulierung, sondern nur eine, die sich mehr gegen die Ausgebeuteten richtet, Sie ist stets verbunden mit mehr Kontrolle, Strafen, Druck auf Arbeitnehmer_innen und Arbeitslose usw. Der Satz „Ohne Regeln oder ohne Sanktionen bei Regelverletzung würde aber z. B. beim Fußball unweigerlich das Chaos ausbrechen“ ist purer Unsinn – herrschaftstheoretisch nicht haltbar und in der Praxis widerlegt.
(Der Text ist ein Leserbrief von Jörg Bergstedt, Autor von „Freie Menschen in freien Vereinbarungen“, siehe www.herrschaft.siehe.website)


Straßenverkehr
Es gibt viele Experimente damit, statt starrer Regeln mehr auf Kommunikation und gegenseitige Rücksicht zu setzen. Fast immer geben diese Versuche und Anwendungen die gleiche Antwort: Je weniger Vorgaben, desto besser. So sind Kreisverkehre leistungsfähiger als Ampeln, bieten verkehrsberuhigte Zonen Platz für alle. Ohnehin sind solche "shared spaces" ein klares Beispiel, dass die absurde Beschleunigung und Bevorzugung des Autos einschließlich der Verbannung der Fußgänger*innen auf abgetrennte, schmale Gehwege oder der Kinder auf eingezäunte Spielplätze die Lebensqualität gesenkt hat. Auf mittelhessen.de stand deshalb am 26.10.2023 unter der Überschrift "Moment Mal: Anarchie auf der Straße" auch der - für ein bürgerliches Medium überraschende - Satz: ",Ein Stück Anarchie schadet nie', wäre ein tolles neues Motto für die städtische Straßenverkehrsbehörde."

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