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ZWISCHEN EHESAKRAMENT UND LIEBESBEZIEHUNG

Zur Geschichte der Ehe in der Schweiz

Einleitung
Die Institution der Ehe erfüllte von Beginn an gesellschaftliche Ordnungs- und Schutzfunktionen: Erstens wurde mit Hilfe der Ehe, das Verhalten junger Frauen kontrolliert. Gleichzeitig war die Ehe eine Einrichtung zur Kanalisierung männlicher Sexualität. Vor- und ausserehliche Sexualität waren lange verpönt. Bis zu Beginn des 20. Jh. galt die Norm, dass zumindest die Frau als Jungfrau in die Ehe eintrat.

Zweitens war die Ehe die Institution zur Regelung von Geburten und Kindererziehung. Lange Zeit wurden nur ehelich geborene Kinder anerkannt. Unverheiratete Mütter blieben stigmatisiert. Gleichzeitig half die Institution der Ehe, die väterliche Verantwortung für die Nachkommen festzuschreiben. Bis heute gelten alle innerhalb einer Ehe geborenen Kinder automatisch als Kin-der des Ehegatten.

Drittens regelte die Ehe das häusliche Zusammenleben von Mann und Frau. Vor Einführung des Wohlfahrtsstaates waren Ehe und Familie die wichtigste Not- und Solidargemeinschaft. Im Rahmen der Ehegemeinschaft wurden Arbeits- und Rollenteilung zwischen Ehemann und Ehefrau streng festgelegt.

Die Bedeutung der Ehe wie auch das konkrete Zusammenleben der Eheleute haben sich allerdings im Verlaufe der Zeit enorm gewandelt. Von explosiver Kraft erwies sich vor allem der Versuch, Ehe und Liebe bzw. Institution und Gefühl in der bürgerlichen Liebesehe zu vereinigen.

Ehe im Mittelalter - Ehesakrament versus Priesterzölibat
Ordnungspolitische Gesichtspunkte des christlichen Ehemodells waren von vornherein Monogamie und Unauflöslichkeit. Dagegen fand das persönliche Verhältnis der Ehegatten in der mittelalterlichen Theologie kaum Aufmerksamkeit. Der primäre Zweck der Ehe lag in der Erzeugung von Kindern (connubium sine prole est quasi dies sine sole).

Das Christentum - als Gemeindereligion - brach radikal mit allen früheren Haus-, Familien- und Ahnenkulten. Dadurch erhielt die europäische Ehe ihre spezifische Prägung. Im Gegensatz zu vielen aussereuropäischen Kulturen wurde die Beziehung zwischen den Ehegatten - und nicht die Beziehung zur Sippe oder zum Clan - ins Zentrum gerückt. Die Betonung der Ehe als Zweierbeziehung stärkte die Stellung junger Eheleute gegenüber der älteren Generation. Zudem wurde damit die nachfolgende Entwicklung zur Kernfamilie gefördert.

Das Verhältnis der mittelalterlichen Kirche zur Ehe war allerdings durch und durch zwiespältig:

Einerseits galt die Ehe gegenüber einem keuschen Leben als minderwertig. Im Vergleich zum Zölibat - einem nur Christus verpflichteten Leben - galt die Ehe bestenfalls als 'etwas Zweitbestes'. Die religiöse Minderwertigkeit der Ehe wurde vor allem nach dem 11. Jh. betont, als sich das Klerikerzölibat innerkirchlich durchgesetzt hatte. Die mittelalterliche Gesellschaft war aufgeteilt in einen ehelosen Stand von Kleriker (Mönche, Nonnen, Priester) und einen weniger vollkommenen Stand verheirateter Laien. Diese Zweiteilung hat in der katholischen Kirche bis heute überlebt.

Andererseits wurde die Ehe als unauflösliches Sakrament ("..bis das der Tod Euch scheidet") definiert, und die Eheschliessung wurde schon früh der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt. Ab dem 9. Jh. wurde verstärkt gefordert, nur eine kirchliche Eheschliessung zu akzeptieren. Die christliche Heirat und mit ihr das kirchliche Eherechtsmonopol setzten sich - gegen Widerstand lokaler Traditionen - allerdings erst im 12. Jh. durch. Die Idee der Unauflösbarkeit der Ehe sowie das Prinzip, dass nur eine kirchliche Heirat gültig sei, gehören in der katholischen Kirche bis heute zur kirchliche Doktrin.

Ab dem 12. Jh. setzte sich in Westeuropa allmählich das Konsensprinzip durch: Ehewillen bzw. Verlobung waren Beginn der Ehe, und eine Ehe ohne Einwilligung beider Ehepartner wurde zur Ausnahme. Damit gewannen junge Frauen gegenüber ihren Eltern mehr Selbstständigkeit, etwa einen unliebsamen Heiratspartner zurückzuweisen. Während in vielen anderen Kulturen die Eltern bis heute den Ehepartner bzw. die Ehepartnerin ihrer Kinder bestimmen, gewannen junge Männer und Frauen in Westeuropa relativ früh die Freiheit, bei der Wahl eines Ehepartners bzw. einer Ehepartnerin mitzuentscheiden; sachgemäss innerhalb der gegebenen Heiratsmöglichkeiten (gleiches Dorf, gleicher Stand). Das Konsensprinzip schloss ein, sich gegen die Ehe entscheiden zu können. Seitens der Kirche ging esdarum, 'religiöse Berufungen zu schützen', bzw. Eltern daran zu hindern, Kinder gegen deren Willen in den unauflöslichen Ehestand zu nötigen.

Faktisch musste die mittelalterliche Kirche immer wieder gegen lokale Traditionen (z.B. Heirat unter Blutsverwandten, Brautkauf) und Formen ausserehelicher Sexualität ankämpfen. Angesichts der häufigen Todesfälle - speziell während Pestzeiten - blieb die durchschnittliche Ehedauer gering. Wiederverheiratungen waren häufig, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Speziell für Frauen war und blieb die Ehe die einzige wirtschaftliche Absicherung. So machten viele Zünfte jüngeren Witwen die Auflage, sich innerhalb eines Jahres mit einem Mann desselben Handwerks zu verheiraten.

Am Ende des Hochmittelalters hatte sich das kanonische Eherecht (Ehe als unauflösliches Sakrament, kirchliches Heiratsmonopol) durchgesetzt. Aber der grundlegende Zwiespalt zwischen Priesterzölibat und verheirateten Laien blieb bestehen und beschäftigt die katholische Kirche bis heute.

Aufwertung von Ehe und Familie durch die Reformation
Die Reformatoren, und dabei namentlich Calvin und Zwingli, haben den mittelalterlich-kirchlichen Zwiespalt gegenüber der Ehe grundsätzlich aufgelöst. Zum einen wurde das Priesterzölibat kurzerhand abgeschafft, und zum anderen wurde der sakramentale Status der Ehe verneint. Diese beiden Reformen führten allerdings nicht zur Abwertung, sondern im Gegenteil zur Aufwertung von Ehe und Familie.

Durch die Priesterehe wurde die Trennung zwischen Kleriker und Laien aufgehoben. Die Pfarrfamilien wurden zum lebendigen und sichtbaren Vorbild christlicher Eheführung. Dass die Reformatoren Haus und Familie ins Zentrum der christlichen Lebensführung rückten, stärkte die Ehe ebenfalls. Durch die Streichung des sakramentalen Charakters der Ehe - die zu einem 'eusserlich weltlich ding' (Luther) wurde - entkrampfte sich hingegen das Verhältnis der Kirche zur ehelichen Sexualität. Schon bei Calvin ist die Einstellung zur ehelichen Sexualität positiver (was auf der anderen Seite die Abwertung ausserehelicher Sexualität und nichtehelicher Geburten verschärfte).

Während in den katholischen Orten der Alten Eidgenossenschaft weiterhin das kanonische Eherecht gültig blieb, setzten die protestantischen Gebiete der Schweiz ein gemeinsames reformiertes Eherecht durch. Gemäss dem Zürcher Ehegesetz von 1524 wurden Eheversprechen und Verlobung als Eheschliessung betrachtet. Eine kirchliche Trauung war damals noch nicht unbedingt nötig, da sie nach Ansicht der Reformatoren nichts Neues schaffte, sondern die Ehe - die mit dem Eheversprechen begann - lediglich legitimierte. Neu war, dass Männer ab 20 Jahren und Frauen ab 18 Jahre auch ohne Einwilligung der Eltern heiraten durften. Neu war die Möglichkeit einer Ehescheidung im Falle eines Ehebruchs. In späteren Gesetzen des 17. Jh. wurden auch böswilliges Verlassen und Impotenz als Scheidungsgründe akzeptiert.

Auch bei den Reformatoren stand allerdings der institutionelle Charakter der Ehegemeinschaft im Vordergrund. Hauptzweck der Ehe war und blieb die Zeugung und Aufzucht von Kinder. Mit der religiösen Aufwertung der Familie wurde zudem die Stellung des Hausvaters - verantwortlich für die religiöse Hauszucht - hervorgehoben. Die patriarchale Arbeitsteilung zwischen Ehemann und Ehefrau hielt der Reformator Bullinger in seiner 1547 erschienenen Schrift 'Der Christlich Eestand' wie folgt fest: "Waz ussethalb dem huss zehandeln ist/ als hin und här reisen/ gwün und gwärb fertigen/ kauffen und verkauffen/ und der glychen eehaffte stuck/ ist des manns arbeit. Der sol glych wie ein empsiger vogel hin und här fliegen/ die narung und notturfft samlen und flyssig zuo näst tragen. Und alles was also in daz huss gebracht wirt/sol das wyb samlen/ordnen/nüt zuo verlieren gon lassen/und alles was in huss zethon ist flyssig und fruotig ussrichten."

Diese Rollenverteilung (Mann sichert Existenz der Familie, Frau kümmert sich um Haushalt und Kinder) blieb bis zur Einführung eines partnerschaftlichen Eherechts im Jahre 1988 im Prinzip unverändert.

Zur Kontrolle der Ehe, als Institution auf die der paternalistische und obrigkeitliche Staat ruhte, wurden in den reformierten Orten spezielle Ehegerichte eingesetzt. So führte Zwingli schon 1525 in Zürich ein eigenes Ehegericht ein. Andere protestantische Orte übernahmen diese Einrichtung, die bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft überlebte. Aufgabe der Ehegerichte war die Durchsetzung und Bewahrung guter ehelicher Sitten. So bestimmt die Helvetische Konfession von 1723: "Es sollen in der Kirche gesetzt und geordnet werden fromme, redliche Richter zu einem Ehegericht, welche die Ehen schirmen und erhalten, und aller Unzucht und Unverschamtheit wehren: Und vor denen alle Streitigkeiten, die sich von der Ehe wegen erheben, verhört und gerichtet werden." Die Eherichter hatten weiter über strittige Eheversprechen zu entscheiden, und sie konnten - um dem 'Laster der Unzucht' vorzubeugen - Eheverfügungen erlassen. Die Ehegerichte mussten zudem Vaterschaftsklagen beurteilen oder vorehelichen Beischlaf büssen. In einigen Fällen waren die Eherichter auch für den Landesverweis unehelicher Mütter zuständig.

Vor allem im 17. Jh. verstärkte sich in den protestantischen Gebieten - und als Folge der Gegenreformation auch in den katholischen Kantonen - die ethische Reglementierung des Ehelebens. Der Zugriff der Kirche auf das Sexualverhalten der Bevölkerung steigerte sich. Gleichzeitig kam es jedoch zu einer vermehrten Betonung der ehelichen Gemeinschaft und Liebe. Gegenseitige Hilfe und Beistand als Ehezwecke wurden vermehrt hervorgehoben. Die Ehe wurde somit einerseits ein Instrument zur sexuellen Disziplinierung der jungen Generation. Andererseits begann eine 'Ethisierung der Ehe', indem etwa das Schlagen der Ehefrau nicht mehr länger gutgeheissen wurde. Mit der zuerst religiös begründeten Betonung der Gattenliebe setzte der grundlegende Wandel zur Liebesehe ein.

Die Erfindung der bürgerlichen Liebesehe- Wunsch und Wirklichkeit
Im Grunde genommen ist die bürgerliche Liebesehe - die das heutige Eheverhalten bestimmt - ein Versuch, 'Feuer und Wasser' zu mischen. Die Idee, die Ehe - als Institution - mit der Liebe - als Gefühl - zu koppeln, war insofern erfolgreich, als sich dieses Modell im 20. Jh. voll durchsetzte. Es war jedoch ein Prozess, der langfristig zur institutionellen Entwertung der Ehe führte.

Bis ins 18. Jh. hinein wurde die Liebe mit der Ehe, zum Teil aber auch die Liebe mit Sexualität als unvereinbar erklärt. Tatsächlich standen etwa in der Aristokratie bei der Heirat immer dynastische Ueberlegungen im Zentrum. Sexualität und Liebe wurden ausserhalb der Ehe gesucht. Bei den bäuerlichen oder städtischen Unterschichten war die Ehe primär eine wirtschaftliche Not- und Zwangsgemeinschaft, in der für Liebe kaum Raum blieb. Das aufstrebende Bürgertum des 18. Jh. versuchte erstmals, Liebe, Sexualität und Ehe (inkl. häusliches Zusammenleben) zu einem Gesamtpaket zu schnüren. Genau dies war das Neue am bürgerlichen Ehemodell, das in der Romantik seine klare Fassung erhielt und das in einer ganzen Flut von Eheratgebern ausgeführt und vermittelt wurde. Die (romantische) Liebe wurde allmählich zum einzig gültigen Anlass und Motiv einer Ehe. Damit verknüpft war die Betonung eines häuslichen Ehe- und Familienlebens im Rahmen gutbürgerlicher Sittlichkeit. Dies verstärkte den häuslichen Charakter der Kleinfamilie, und führte in der Folgezeit vielfach zur Entwertung der Ehefrau zur reinen Hausfrau. Andererseits zielte die bürgerliche Häuslichkeit auch darauf, den Ehemann zu disziplinieren, und ihn etwa von Müssigang, Schankwirtschaften und Prostitution fernzuhalten.

In jedem Fall wurden Eheglück und eheliche Liebe ab dem späteren 18. Jh. immer mehr zum Leitmotiv eines bürgerlichen Ehe- und Familienlebens. Erstmals sprachen sich die Ehegatten mit 'Du' an, was später auch für die Kinder galt.

Es dauerte allerdings seine Zeit, bis sich das bürgerliche Ehemodell - gegenüber aristokratischen Ehenormen oder bäuerlichen Eheformen - durchsetzen konnte. Die verbreitete wirtschaftliche Armut der damaligen Zeit war ein bedeutsames Hindernis in der Entwicklung der Liebesehe. Selbst im Bürgertum standen die neuen Vorstellungen von häuslichem Glück und gegenseitiger Rücksichtnahme oft in Konflikt mit patriarchalen Eheregelungen. Die Idee der ehelichen Liebe war zudem eingebettet in eine strenge moralische Ordnung.

Bis weit ins 19. Jh. übten Kirche und weltliche Obrigkeit eine straffe Kontrolle aus, und teilweise verstärkten sich im 18. und frühen 19. Jh. die Eingriffe der Obrigkeit weiter. Mit der Entwicklung des Absolutismus wurde die Eheschliessung vermehrt unter staats- und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten geregelt. Auch in der damaligen Eidgenossenschaft nahmen die obrigkeitlichen Eingriffe zu. So wurden Heiraten mit Ortsfremden oder Nichtansässigen behindert oder gar verboten. Vielerorts wurde eine Heirat vom Nachweis eines Mindestvermögens abhängig gemacht, mit der Absicht, die Vermehrung von Armengenössigen zu verhindern. Wohnungsnot, aber auch das Warten auf das väterliche Erbe und der Niedergang der Handwerke waren weitere Ehehindernisse.

Wirtschaftliche und staatliche Ehebeschränkungen führten im 18. und 19. Jh. zu zwei Tendenzen: Zum einen blieben viele Frauen und Männer zwangsweise ledig, und zum anderen wurde meist spät geheiratet. Im 18. und 19. Jh. lag das mittlere Erstheiratsalter von Männern in der Schweiz zwischen 27 und 29 Jahren (was angesichts der damalig tiefen Lebenserwartung schon ein recht hohes Alter darstellte).

Der Weg zu einer liberalen Ehegesetzgebung war in der Schweiz sehr langwierig. Erst 1821 schlossen zehn Kantone ein Konkordat ab, das den Abschluss konfessionell-gemischter Ehen erlaubte. Gesamtschweizerisch fiel das Verbot von konfessionellen Mischehen jedoch erst 1850. Noch länger, bis 1874, dauerte es bis das Recht auf Eheschliessung voll verankert war (und die Zivilehe eingeführt wurde). Das Eherecht blieb allerdings weiterhin einer patriarchalen Ordnung verpflichtet. Auch gemäss revidiertem Eherecht von 1912 war und blieb der Ehemann das Oberhaupt der Familie, der z.B. das Recht besass, seiner Frau eine ausserhäusliche Erwerbstätigkeit zu verbieten.

Durchbruch der Liebesehe und das goldene Zeitalter der bürgerlichen Ehe
Auch wenn es lange dauerte, bis sich die 'bürgerliche Liebesehe' (mit ihrer Dreieinigkeit von Liebe, Ehe und Sexualität) tatsächlich in weiteren Bevölkerungskreisen durchsetzte, hatte dieses Ehemodell dennoch einige unwiderrufliche Konsequenzen:

Die erste Konsequenz war, dass der Einfluss der Eltern und übrigen Verwandten auf die Partnerwahl weiter abnahm. Liebe lässt sich nicht befehlen, und wenn eine Ehe auf Liebe begründet wird, muss die Wahl des Ehepartners der jungen Generation überlassen werden. Die Eheschliessung, aber auch das Eheleben wurden immer mehr zur 'Privatsache' der Beteiligten. Damit ging auch der Einfluss der Kirchen immer stärker zurück.

Eine zweite Folge der Liebesehe bestand darin, dass die Stellung junger Frauen gegenüber jungen Männern gestärkt wurde. Die Männer mussten um die Frau 'werben' (um ihre Liebe zu gewinnen). Auch nach der Heirat musste sich der Mann um die Zuneigung seiner Gattin 'bemühen'. Eine Liebesehe ist immer auf Gegenseitigkeit aufgebaut, und im Grunde waren die herkömmlichen patriarchalen Ehevorstellungen mit dem Prinzip einer Liebesehe unvereinbar. Mit der Erfindung der bürgerlichen Liebesehe wurde langfristig das Ende des Patriarchat eingeläutet.

Eine dritte Konsequenz der Liebesehe lag darin, dass damit auch eine Eheauflösung in Frage kommt. Wenn die eheliche Liebe Fundament und Sinn einer Ehe sind, wird die Ehe sinnlos, wenn die gegenseitige Liebe verschwunden ist. Gemäss dem Ideal der Liebesehe ist eine Ehe ohne Liebe sinnlos. Weshalb also eine sinnÐentleerte Beziehung weiterführen? Mit dem Durchbruch des Prinzips der Liebesehe musste schlussendlich die Legitimität einer Ehescheidung akzeptiert werden. Die zunehmende Scheidungshäufigkeit lässt sich deshalb als sozio-logische Konsequenz des Sieges der Liebesehe interpretieren.

Erster Weltkrieg und wirtschaftliche Krisen führten allerdings auch zu Beginn des 20. Jh. dazu, dass viele Frauen und Männer erst spät heiraten konnten oder ledig blieben. Das Ideal der bürgerlichen Liebesehe war zwar weit verbreitet, aber die wirtschaftlichen Hindernisse behinderten ihre Verwirklichung. Manche junge Dienstmädchen und manche junge Arbeiter mussten sich mit dem Lesen romantischer Liebesgeschichten begnügen.

Erst die wirtschaftliche Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg erleichterte es jungen Leuten, den Wunsch nach einer Ehe zu verwirklichen. Entsprechend sank das Heiratsalter deutlich ab, und der Anteil der Ledigen sank auf historische Tiefstwerte. Gleichzeitig blieb die Ehe vorläufig die einzig akzeptierte Form heterosexuellen Zusammenlebens, da sowohl voreheliche Sexualität als auch nichteheliches Zusammenleben ('wilde Ehe' genannt) verpönt waren. Die klassische Arbeitsteilung (Mann sichert Existenz der Familie, Frau arbeitet im Haushalt) wurde erst selten hinterfragt, und dank steigenden Löhnen konnten sich mehr Männer eine vollberufliche Hausfrau leisten.

Die ersten Nachkriegsjahrzehnte waren sozusagen das 'Goldene Zeitalter der bürgerlichen Ehe': Die Wünschbarkeit dieser Lebensform war nahezu unbestritten, und Alternativen gab es kaum. Dank wirtschaftlicher Konjunktur standen einer frühen Heirat jedoch keine wirtschaftlichen Hindernisse mehr im Weg.

Allerdings erwies sich dieses 'goldene Zeitalter' als vorübergehend, da die bürgerliche Liebesehe - mit ihrer Kombination von Gefühlen und institutioneller Ordnung - eine grundsätzlich widersprüchliche Konstruktion ist.

Ent-Institutionalisierung der Ehe
Gegen Ende der 60er Jahre und vor allem ab den 70er Jahren fiel die bürgerliche Ehekonstruktion (mit ihrer Einheit von Sexualität, Zusammenleben und Ehe) sozusagen auseinander. Zum ersten wurden voreheliche sexuelle Erfahrungen bei der jungen Generation populär, und auch die Diskriminierung ausserehelicher Kinder und lediger Mütter erwies sich als unhaltbar. 1978 wurden eheliche und nichteheliche Kinder im Rahmen des neuen Kindsrechts gleichgestellt, auch was Erbansprüche betrifft. In den 70er Jahren gewannen nichteheliche Lebensformen bei jungen Leuten rasch an Verbreitung, und die Heiratsraten sanken entsprechend. Gleichzeitig setzten sich partnerschaftliche Ehevorstellungen immer stärker durch; eine Entwicklung, die mit dem Inkrafttreten des neuen Eherechts 1988 ihre rechtliche Verankerung fand. Ab 1966/67 kam es zudem zu einem rasanten Anstieg der Scheidungshäufigkeit, was die Idee der Ehe als unauflösliche Institution grundsätzlich erschütterte. In den 70er Jahren wurde deshalb das kurz bevorstehende Ende der Ehe prophezeit.

Diese Voraussagen erwiesen sich jedoch rasch als voreilig. Ab Mitte der 80er Jahre erfuhren Heirat und Ehe eine gewisse Wiederaufwertung. Dank dem Durchbruch partnerschaftlicher Ehevorstellungen bzw. durch den Abwurf traditionellen 'Ballasts' wurde die Ehe wieder attraktiver (und die Heiratszahlen stiegen zeitweise wieder an). Gleichzeitig trugen die wirtschaftlichen Unsicherheiten dazu bei, dass die Bedeutung der Ehe als private Solidargemeinschaft erneut hervorgehoben wurde.

Die Geschichte der Ehe ist keineswegs zu Ende geschrieben. Die Ehe hat allerdings ihre Monopolstellung als einzig legitime Lebensform endgültig verloren.
  • François Höpflinger

Benützte Quellen und Literatur
  • Goody, Jack (1983) The Development of the Family and Marriage in Europe, Cambridge: University Press.
  • Helvetische Confession, oder Bekanntnus des wahren Glaubens (1723), neu aufgelegt 1775 in Chur bei Bernhard Otto.
  • Hofer, Roland E. (1993) 'Ueppiges, unzüchtiges Lebwesen'. Schaffhauser Ehegerichtsbarkeit von der Reformation bis zum Ende des Ancien Régime (1529-1798), Bern: Lang.
  • Höpflinger, François (1986) Bevölkerungswandel in der Schweiz, Grüsch: Rüegger.
  • Mahlmann, Regina (1991) Psychologisierung des 'Alltagsbewusstseins'. Die Verwissenschaftlichung des Diskurses über Ehe, Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Reynolds, Philip Lyndon (1994) Marriage in the Western Church. The Christianziation of Marriage during the Patristic and Early Medieval Periods, Leiden: E.J.Brill.
  • Süssmilch, Johann Peter (1765) Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, Berlin.
  • Tyrell, Hartmann (1982) Familie und Religion im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung, in: Volker Eid; Laszlo Vaskovics (Hrsg.) Wandel der Familie - Zukunft der Familie, Mainz: Grünewald-Verlag: 19-74.

Weitere Literatur zur Geschichte von Ehe und Familie:
  • Ariès, Philippe (1977) Die Geschichte der Kindheit, München: Hanser.
  • Ariès, Philippe, Béjin, André, Focault, Michael (Hrsg.) (1984). Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt: Suhrkamp.
  • Hareven, Tamara K. (1999) Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt: Campus.
  • Mitterauer, Michael; Sieder, Rolf (1991) Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München: Beck.
  • Mitterauer, Michael (1983) Ledige Mütter: Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa, München: Beck.
  • Möhle, Sylvia (1999) Nichteheliche Lebensgemeinschaften in historischer Perspektive, in: Thomas Klein, Wolfgang Lauterbach (Hrsg.) Nichteheliche Lebensgemeinschaften. Analysen zum Wandel partnerschaftlicher Lebensformen, Opladen: Leske & Budrich. 183-204.
  • Pfister, Ulrich (1985) Die Anfänge der Geburtenbeschränkung. Eine Fallstudie (ausgewählte Zürcher Familien im 17. und 18. Jahrhundert), Bern: Lang Verlag.
  • Pretzschner, Heidrun (1997) Vormoderne Frauenbilder und die Familialisierung des Frauseins in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Lothar Böhnisch, Karl Lenz (Hrsg.) Familien - eine interdisziplinäre Einführung, Juventa: 65-79.
  • Rosenbaum, Heide (1982) Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt: Suhrkamp.
  • Schnell, Rüdiger (2002) Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln: Böhlau-Verlag.
  • Shorter, Edward (1975) Der Wandel der Mutter-Kind-Beziehungen zu Beginn der Moderne, Geschichte und Gesellschaft,1,2-3: 257-287.
  • Shorter, Edward (1975). The Making of the Modern Family. New York: Basic, deutsche Uebersetzung: Die Geburt der modernen Familie, Reinbeck: Rowohlt 1977.
  • Sieder, Rolf (1987) Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt: Suhrkamp.
  • Tyrell, Hartmann (1982), Historische Familienforschung und Familiensoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,29: 677-701.

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