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FINAL COUNTDOWN AM 14.5.2006

Episode I: Viele Jahre Aktionen und zwei farbige Vorspiele


1. Justiz, Innenpolitik und Polizei faken Anschlag und lassen Kritiker verschwinden
2. Episode I: Viele Jahre Aktionen und zwei farbige Vorspiele
3. Episode II: Die Federballnacht des 14.5.2006
4. Episode III: Kriminalalltag im Märchenland
5. Episode IV: Nazi-Rechtsanwendung und das Glück des Koch-Rücktritts
6. Was bleibt?

Die Geschichte des 14.5.2006 beginnt viele Jahre vorher, denn ohne die vielen Aktionen ab Sommer 2002 wäre es nie zu dem Konflikt gekommen, der hinter der absurden Mainacht steht. Die Polizeistatistik 2003 für Gießen und Umgebung weist den beeindruckenden Wert einer Steigerung linksextremistischer Straftaten gegenüber dem Vorjahr von 657 Prozent auf. Dabei waren die meisten der Aktionen gar nicht strafbar, aber ordentlich nervig sowie stets gut öffentlich sichtbar. Ab Dezember 2002 eskalierte die Polizei die Lage, einige Monate später stieg die Justiz mit etlichen Strafverfahren in den Ring politischer Meinungsunterdrückung. Als am 3. Mai 2006 die finale Eskalation begann, war der Höhepunkt der vielen Aktionen gegen Abschiebungen, neue Polizeitruppen, Überwachungskameras, Kriegsdenkmäler und Vertreibung unerwünschter Personen aus der Innenstadt allerdings schon vorbei. Aber das wussten die Ordnungshütis offenbar nicht. Daher starteten sie Anfang Mai Aktivitäten, die eine absurde Kette von Ereignissen hervorriefen. Ein richtiges Ende hat all das bis heute nicht wirklich. Es war lange Zeit offen, ob aus der Geschichte mehr würde – ein Untersuchungsausschuss im Landtag oder Strafverfahren gegen die Drahtziehis. Denn was die vier Betroffenen wussten, wussten alle Beteiligten ja auch. Nach ein paar Monaten und der schließlich erfolgreichen Jagd nach den Akten, die die Sache aufklärten, wussten auch alle voneinander, dass alle alles wissen. Darum wagte kaum noch jemand einen Schritt voran. Ganze Gerichts- und Polizeiapparate, Journalistis, Lobbygruppen und mehr gucken auf die vier, die in der denkwürdigen Nacht einfach nur Federball spielten, und wussten nicht, wie weiter. Erst als die NSU-Sache aufflog und die Opposition im Landtag eine – fraglos wichtigere – Sache aufzuklären hatte, verschwand das Thema aus den Schlagzeilen. Aber alle Beteiligten, also Polizei, Gerichte und der jetzige hessische Ministerpräsident mit seinem Umfeld wissen bis heute Bescheid – mit Wirkung. Den Angreifenden der Nacht des 14.5.2006 droht schließlich immer noch, dass die Geschichte größer rauskommt. Sie können ihre Opfer nicht mehr richtig angreifen. Dabei hatten sich viele von ihnen ja gerade gewünscht, sie aus dem Verkehr zu ziehen, sie gerade nicht so schnell wiederzusehen. Sie hatten dafür auch einiges getan, wochenlang vorbereitet – und jetzt müssen sie zähneknirschend alles ertragen, was von dort noch immer an politischem Widerstand kommt. Ihre Gegnis wissen, dass sie von den alten Clans nicht mehr angegriffen werden können, und nutzen das bis heute für viele freche Aktionen.

Genug des Vorgeredes – starten wir mit dem konkreten Bericht. Der beginnt am 3. Mai. Irgendwann an diesem oder dem nächsten Tag, wahrscheinlich während der Dunkelheit, pirschten Unbekannte an ein Haus in der Nordanlage 37 heran. Wie viele, wann genau in der Nacht und wie alles ablief - das weiß bis heute niemensch. Jedenfalls die Polizei nicht. Keine Zeugis, kein Alarm. Nur wie es vorher und hinterher aussah, ist bekannt. Vorher war das Haus eine von einer schlichten geteerten Autostellfläche umgebene Rechtsanwaltskanzlei. Mehr schien damals nicht in dem Haus untergebracht zu sein, jedenfalls wies kein Klingelschild auf anderes hin. Die Anwaltskanzlei aber war keine ganz gewöhnliche. Hier hatten gleich zwei damalige mitteldeutsche Innenminister ihren Sitz und folglich eine gemeinsame berufliche Vergangenheit. Karl-Heinz Gasser heißt der eine, trug einen Doktortitel und gab den obersten Sicherheits- und Ordnungshüter des sich ,Freistaat' nennenden Thüringen. Seinen Hauptaufenthaltsort hatte er folglich nach Erfurt verlegt. Demgegenüber wohnte sein ehemaliger Anwaltskollege, Volker Bouffier, weiterhin in Gießen. Denn er übte das gleiche Amt in Hessen aus und verlies folglich seine Heimatstadt nicht. Dort war er viele Jahre der führende Kopf einer Clique harter Männer an der CDU-Spitze, die schon mal dadurch auffiel, dass sie Bombendrohungen erfanden, mit rassistischen Sprüchen in Schickimicki-Kneipen aufwarteten und nichtdeutsche Angestellte prügelten oder ihre alten Fotos im Internet verschwinden lassen mussten, weil reichlich viele Karriere in politischen Führungsämtern machen wollten, während ihre abgebildeten Freunde als schwere Jungs (Strafttäter) enttarnt wurden.
Da Innenminister und Anwalt Bouffier aus dieser Männerrunde heraus Gießens Geschicke weiterhin lenkte, war sein Bezug zu der in der gleichen Stadt liegenden Anwaltskanzlei direkter als der des ,ausgewanderten' Dr. Gasser. Aber in der Nacht vom 3. auf den 4. Mai ging es den Unbekannten, von der Polizei gern als Tätis betitelt, offenbar vor allem darum, die Politik des thüringischen Law-and-Order-Mannes mit Sitz in der Gießener Anwaltskanzlei aus dem Dunkel des Erfurter Innenministeriums ins Licht der relativen Öffentlichkeit an der Nordanlage zu ziehen. Die kam auch am nächsten Morgen, denn vor dem Haus verläuft eine der Hauptverkehrsstraßen der Stadt. Die Nordanlage ist Teil des dicht befahrenen Innenstadtrings, auf dem sich täglich Blechmassen von Ampel zu Ampel quälen. Darunter befinden sich etliche Buslinien. So gehörten zu den ersten, die nach der farbenträchtigen Nacht das veränderte Aussehen der Anwaltskanzlei bewundern konnten. Einige Busladungen voller Kinder und Jugendlicher stiegen direkt vor dem Haus an der dortigen Bushaltestelle aus, blickten auf die Fassaden der Nordanlage 37 und verschwanden in Richtung des Schulgelände, das passend wie ein Tiergehege eingezäunt ist und bis zur Nordanlage reicht - genau gegenüberliegend der Anwaltskanzlei der beiden Innenminister. Mittags, als in der angrenzenden Schule die Glocke das Ende des Lernzwanges einläutete, standen dieselben nochmals an der Straße und warteten auf die Busse. Das wiederholte sich noch einen weiteren Tage voller Mathe, Englisch und was sonst so das Schulleben bietet, schließlich war der erste farbenfrohe Tag ein Donnerstag und so dauerte es von der Farbnacht bis zum Wochenende noch ein wenig. Die Schülis konnten erst das vollgekleckerte Haus mit den krakeligen Parolen beobachten und dann die verzweifelten Bemühungen, die schönen goldenen Schilder der Kanzlei zu säubern und die Wand mit neuer Farbe überzustreichen. „Polizeimorde vertuschen? IM Gasser + seine Kanzlei“ stand an der Vorderfront, direkt im Blickfeld aller ankommenden Schülis. Wer einen Schritt zur Seite wagte in die neben der Kanzlei auf die Nordanlage treffende Weserstraße, konnte noch mehr Parolen in triefend roter Farbe bewundern – einschließlich eines Schreibfehlers, der sich in das Werk eingeschlichen hatte. Stundenlang spritzen, kratzten und wuschen Männer in Weiß, um den so um Ordnung mit Sauberkeit bemühten Ministern zu einem angemessenen Zweitarbeitsplatz zu verhelfen.
Mag sein, dass ,IM' vielen der Menschen, die ihren Blick auf die Wände richteten, nichts sagte. Und wer kennt in Gießen schon einen Dr. Gasser? Dass Petitionen an den Landtag an diese Kanzlei in Gießen verraten wurden, ist auch nur in Thüringen zu einem kleinen Skandal geworden. In Gießen standen die Medien recht einhellig hinter den großen Law-and-Order-Propheten. Dennoch dürften alle, die ihren Blick auf die Außenwände des sonst hell gestrichenen Hauses richteten, erkannt haben, dass hier keine des grauen Gerichtsalltag überdrüssigen Anwälte selbst von einer bunteren Zukunft geträumt und Hand angelegt hatten. Nein - hier geschah eine Attacke gegen die Kanzlei. Ob Schülis weiter forschten, was hinter den Mauern täglich geschah und warum es auf diese Art angegriffen wurde? Wir wissen es nicht – und auch insgesamt ist wenig bekannt, was die Attacke vom 3. oder 4. Mai so bewirkte. In der Frankfurter Rundschau fand sich ein kleiner Text. Aber die kommt ja auch aus einer anderen Stadt, da wohnt der Innenminister nicht. In Gießen, wo das alles seinen Bezugspunkt hatte, erschien nichts, und im Internet beschränkte sich die Nachricht auf eine Seite, die stets sehr viel Kritik am damaligen Innenminister zusammentrug. Doch "www.volker-bouffier.de.vu" verschwand plötzlich ohne jegliche Vorankündigung oder Begründung aus dem Netz. So erkennt mensch, dass Menschen gleich sind und manche gleicher.
Der Verlust der Seite war bedauerlich, denn die etwas unübersichtlich gestaltete Webseite bot schon deutlich vor den Farbkleksen auf die Anwaltskanzlei viele Informationen darüber, was in der Nordanlage 37 so alles zu finden war. Die zwei Innenminister mit ihrem Anwaltssitz, amtierende Rechtsanwälte, die in der Vergangenheit genau die Polizisten verteidigten, die in Thüringen grundlos Menschen erschossen oder in Hamburg Menschen verprügelten hatten. Sie hatten die für Demonstrantis gehalten - Pech für sie, dass es getarnte Zivilpolizisten waren, die blaue Flecke davontrugen und sich beschwerten. Die thüringisch-freistaatliche Polizeiführung versuchte, das alles zu vertuschen und verteilte kräftig Maulkörbe. Da war ihr oberster Chef sicherlich dankbar, dass bei den unvermeidlichen Strafprozess die Anwälte seiner Kanzlei helfend beiseite standen, um den armen Schlägern in Uniform genauso zum Freispruch zu verhelfen wie vorher den ebenso gekleideten Mördern. Dabei griffen sie tief in die Trickkiste, lancierten Falschaussagen und schließlich ein psychologisches Gutachten, dass sich bei Polizistis in Erregungssituation unkontrolliert der Zeigefinger krümmen könne. Die Mörder in Uniform wurden deshalb freigesprochen – und ich frage mich, wie ich Uniformierten noch angstfrei begegnen kann, wo ich doch weiß, dass sie stets eine Knarre tragen, einen, meistens sogar zwei Zeigefinger besitzen und schnell erregbar sind. Außerdem wissen sie, zumindest in Hessen und Thüringen: Bouffier, Gasser und ihre Mannschaft in der Nordanlage werden sich um sie kümmern, wenn Erregung und daraus resultierende Krümmung mal wieder einen Todesfall verursachen sollten ...
Zurück zur Nordanlage 37: Da begaben sich also Unbekannte in der Nacht vom 3. auf den 4. Mai zum Haus dieser Anwälte und sauten es ein. Die Polizei notierte in ihren Akten: „3.5.2006, 19.00 Uhr bis 4.5.2006, 2.15 Uhr“ und: „Der geschätzte Schaden beträgt 25.000 €“. Schon die Farbe wird die Anwälte also wohl kaum gefreut haben. Noch schlimmer aber muss es gewesen sein, als sie die Haustür öffneten. Von außen war da nichts zu sehen, zu lesen war in den Zeitungen auch nichts. Aufklärung brachten erst die Polizeiakten, aber die Anwälte in der ministeriellen Kanzlei werden es wohl schon am Morgen nach der farbintensiven Nacht gerochen haben. Ins Innere des Gebäudes hatten die Unbekannten stinkendes Zeug gegossen - durch ein Loch, das sie wahrscheinlich selbst in die Tür bohrten. Wie genau, darüber gab keine Akte Auskunft. Schade eigentlich, denn es klang ganz raffiniert. Und symbolisch war es auch: Hier stank jemandem gewaltig, was in diesem Haus vor sich ging.

Ein verärgerter Minister
Das Wetter am Tag danach passte nur wenig zu der Stimmung in der Nordanlage 37. Es war überwiegend sonnig. In Wiesbaden klingelte das Telefon und der hessische Innenminister, dessen Kanzlei so hübsch bunt geworden war, beschwerte sich von München aus. Dort weilte er gerade, um mit seinen Kollegis aus anderen Bundesländern seltsame Fragebögen zu entwerfen, mit deren Hilfe mensch feststellen können sollte, wer ein echter Deutscher ist und wer nicht. Offenbar muss ihm jemand schnell zugetragen haben, was sich in Gießen ereignet hatte. So griff er zum Telefon und schickte das HLKA, ausgeschrieben ,Hessisches Landeskriminalamt' nach ... nein, nicht nach Gießen, sondern gleich nach Saasen in die Projektwerkstatt. Welche telepathischen Fähigkeiten ihn dazu brachten, von Farbe auf seiner Kanzlei auf die, übrigens immer bunt angemalte Projektwerkstatt im kleinen Ortsteil von Reiskirchen zu kommen, ist bis heute unbekannt. Die höhere, vermutlich vom Hass gegen die dortigen ihn störenden, kreativen Geister getriebene Eingebung reichte aber, dass zwei Personen, designed wie ein klassisches Pärchen, eine Weile im Dorf herumschlichen, das Haus der Ministernervensägen umrundeten und mutig zur Haustür der Projektwerkstatt schritten. Es waren zwei Ermittlis des HLKA, im Hintergrund unterstützt von weiteren zivilen Beamtis. Mensch weiß ja nie. Nötig war das jedoch nicht, denn am Haus trafen die zwei auf freundliche Aktivistis, die ihnen sogleich Tee oder Kaffee anboten und sich über die Nachricht von der beschädigten Ministerkanzlei aufrichtig freuten. Schließlich erfährt auch ein Projektwerkstätti nicht jeden Tag, dass es die Kanzlei der beiden Innenminister erwischt hat. Unklar blieb jedoch während des Besuchs, warum die zwei ausgerechnet nach Saasen gekommen seien. Die HLKA-Gesandten ließen sich nur zu der Bemerkung hinreißen, dass der Minister lieber einen „Eimer Alpina weiß“ hätte ordern sollen. Das hätte mehr gebracht. Nach diesem Spruch waren alle schnell wieder verschwunden, während in der Projektwerkstatt ein bisschen gefeiert wurde – Schadenfreude ist oft einfach die beste Freude. Ein Anruf in Gießen sicherte dann auch ab, dass die Oberkriminalen nicht gelogen hatten.
20km westlich wurde geputzt, aber Reinigungs- und Überstreichaktionen halfen dem Haus in der Nordanlage nur begrenzt. Einige Tage machte die Kanzlei eher den Eindruck, als sei sie krank: Vielleicht Masern oder Windpocken, jedenfalls mit Wänden voller Flecken und Ausschläge. Die verordnete Medizin brachte kaum Besserung. Vielleicht war das mit dem Eimer ,Alpina weiß' aber auch einfach keine so gute Idee. Das reine Weiß, mit dem die Farbflecken und Parolen übergestrichen wurden, passte gar nicht zu dem hellgelblichen übrigen Ton der Wand. So sah das Haus ein bisschen nach Bruchbude aus. Doch: schlimmer geht immer ...

Wiederholung
Zunächst kehrte Ruhe ein. Die Polizeiakten geben keinerlei weitere Aktivitäten her. Das LKA fuhr wieder nach Wiesbaden und der Minister kehrte ins Hessenland zurück. Dann aber fiel der Tropfen in das Fass, der nicht mehr hineinpasste. Offenbar überraschte die Ordnungshütis der Stadt, dass am 8. Mai (diesmal zeigte sich die Polizei im Datum sicherer) noch einmal Unbekannte das Anwesen heimsuchten. Waren es dieselben, die sich kaltschnäuzig noch einmal verewigen wollten an dem Gebäude der Minister? Oder schlichen nun andere durch die Gießener Dunkelheit, die sich animieren ließen durch den Farbenfrohsinn der ersten Aktion? Das ist - wie alles rund um diese beiden Aktionen - nie geklärt worden. Für die, die da malten, sprühten oder warfen, ist das sicher besser so, denn es wirkt schon ganz schön mutig, direkt nach einer ersten Aktion noch einmal zuzuschlagen. Der Effekt der zweiten Aktion war dann beachtlich. Weniger optisch, auch wenn diesmal zusätzlich noch Scheiben eingeworfen wurden. Von denen waren am Folgetag jedoch nur noch zugebretterte Fenster sichtbar. Die Polizeiakten hielten einige weitere Details fest: Neue Farbklekse zierten die Wand – als wäre die Hautkrankheit der Kanzlei zurückgekommen, nur diesmal noch schlimmer. Zusammen mit der im falschen Farbton gerade ausgebesserten Wand war das gehobene Design der doppel-ministeriellen Anwaltskanzlei endgültig im Arsch. Alles sah eher wie ein unbewohntes, zum Abriss stehendes Haus aus. Besetzt wurde es allerdings nicht, auch wenn das ein schöner Gag zum Abschluss gewesen wäre. Vielleicht war das aber gut so, denn die Besetzis hätten wahrscheinlich den angestauten Hass der Minister und ihrer Anwälte zu spüren bekommen. So ließ der in Wiesbaden residierende hessische Spitzenmann seine Wut an denen aus, die ihm ohnehin seit Jahren politisch ein Dorn im Auge waren. Bei einem wie ihm, der es gewohnt ist, dass ihm keine Widersprüche entgegenschlagen, wenn er auf Truppenbesuch im Land unterwegs ist, dürfte der hartnäckige Protest gerade in seiner Heimatstadt schon arg am Nervenkostüm genagt haben - seit Jahren. Als es nun seine eigene Kanzlei erwischte und die Gründe, das muss noch nachgetragen werden, auch durch etliche aufgeklebte Zettel im umgebenden Stadtteil kundgetan wurden, sah er offenbar die Zeit reif für ein Ende der politischen Auseinandersetzung - koste es, was es wolle. Und egal wie ...

Die alten Rechnungen begleichen ...
Da der Minister inzwischen wieder im Hessenland weilte, konnte er von Wiesbaden aus die nun folgenden Geschicke seiner uniformierten Armeen und willigen Vollstreckis in Staatsanwaltschaften, Fachbehörden und eigenem Ministerium selbst lenken. Nach der zweiten Attacke blieb es nicht beim Besuch eines freundlichen HLKA-Pärchen zum Guten-Tag-Sagen an der Projektwerkstatt. Stattdessen mobilisierte das Innenministerium Masse und Klasse - jedenfalls soweit eine Befehlsstruktur solches hergibt. Wir wissen das nicht nur aus den üblichen Akten, die dann in späteren Gerichtsverfahren eingesehen werden können. Die bieten oft schon einiges an Aufklärung und schufen auch bei den hier beschriebenen Vorgängen einen ersten Einblick – allerdings erst nach über drei Monaten Ringen mit der in alle Aktionen verstrickten Gießener Justiz um die Herausgabe der Akten. Die eigentlich spannenden Akten bleiben fast immer verschlossen. Sie lagern bei der Polizei und enthalten all das, was die herausgefunden, sich ausgedacht und wie sie selbst agiert haben. Inzwischen aber wissen wir deutlich mehr. Denn das Landeskriminalamt hat, wenn auch Jahre später, die ganzen Abläufe recherchiert, alle Daten selbst polizeiinternen Festplatten ausgewertet und so quasi alles rekonstruiert, was zu kriegen war. Diese Recherche ist das Beste, was ich je gesehen habe aus den Kreisen der Polizei, und es führte zielsicher dazu, dass Staatsanwaltschaften und Justiz sofort alle Verfahren einstellten. Die Alternative wäre gewesen, viele, viele Polizistis, Richtis, Staatsanwaltis, führende Beamtis des Innenministeriums und den Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten selbst anzuklagen und wegen ziemlich erheblicher Verbrechen auch einzusperren. Mit Fakten war das nicht mehr zu verhindern, wohl aber damit, einfach auf weiteres Handeln zu verzichten. Denn wer soll Anklagen erheben, wenn die Staatsanwaltschaften schlicht selbst die Tätis sind?

Das LKA-Gutachten ist aber trotzdem wertvoll. Für den 9. Mai, also den Tag, an dem sie die zweite Attacke auf die Kanzlei der Herren Minister entdeckten, benennt es ein exklusives Treffen. Da saßen in Wiesbaden alle zusammen, die relevant waren: Der Landespolizeipräsident, der Verbindungsmann zum Innenminister (genannt: Inspektor), die Chef der Staatsschutzabteilungen auf Landes- und Mittelhessenebene sowie die Führung der Polizei in Gießen.



Die LKA-Ermittlis machten sich mehrfach eigene Gedanken zu den Abläufen und empfahlen hierzu:

Natürlich geschah nichts – außer der Einstellung des Verfahrens, damit genau das nicht passierte: Weitere Ermittlungen.

Aber es reicht ja auch schon so: Auf höchster Ebene und mit voller Priorität (Einladung und Zusammentreffen erfolgten am gleichen Tag!) wurde ein bemerkenswerter Plan geschmiedet, der nur ein Ziel kannte, wie er in den Anweisungen an die Observationstruppe MEK auch formuliert wurde:

Jörg B., offenbar für den Innenminister und sein Umfeld nicht mehr aushaltbar, sollte weg. Und dazu sollte er eine „relevante Straftat“ begehen. Eine Polizei, die sich Straftaten wünscht. Der Zweck, den politischen Gegner auszuschalten, rechtfertigte jedes Mittel.
Nur: Wie bekomme ich einen Menschen dazu, eine Straftat zu begehen und sich dabei auch noch erwischen zu lassen? Auch das wurde geklärt, denn da war noch eine Haftstrafe offen, die die „ZP“ (= Zielperson, also Jörg B.), anzutreten hatte. Das Urteil war rechtskräftig, aber es lief noch eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Üblicherweise wartet die Justiz das ab – aber sie muss es nicht, und sie tat es nicht. Denn es ging ihr nicht um diese Haft, sondern um eine Provokation der „ZP“ zu einer Reaktion, die dann den eigentlichen Anlass für die angestrebte „beweiskräftige Festnahme der ZP während einer relevanten Straftat“ bilden sollte. Das LKA schreibt:

Und entdeckt sofort wieder eine Merkwürdigkeit, denn tatsächlich wird die Aufforderung zum Strafantritt erst am 10.5.2006 ausgestellt.

Die Antwort auf diese Frage liegt nahe: Justiz und Polizei bastelten an einer kleinen Gießener Verschwörung. Es brauchte eine Provokation, um einen unerwünschten Kritiker zu reizen und dann wegsperren zu können. Daher wusste die Polizei nicht nur, dass die Haftantrittsladung am Folgetag kommen würde, sondern das war Teil des gemeinsamen Plans.
Ein professionell arbeitendes LKA spekuliert so aber nicht, sondern empfiehlt weitere Ermittlungen:

Was selbstredend nie geschah …

Polizeieinheiten und ministerielle Büros brachten eine beachtliche Lawine der Bürokratie ins Rollen. Was davon Bouffier selbst inszenierte und was als vorauseilender Gehorsam oder eigener Beitrag zur Ausschaltung kritischer Stimmen in Polizeiführungen und Staatsanwaltschaften geleistet wurde, wird voraussichtlich für immer im Dunkeln bleiben. Sicher aber ist, dass ein gewaltiger Aufwand betrieben wurde, um den Kritiker des großen Innenministers, am besten mit ordentlich Beifang, zu erlegen. Mehrere mittelhessische Polizeistationen mitsamt deren Operativen Einheiten als zivil gekleidete Fahndungs- und Zugriffskräfte wurden zur Mithilfe bei der großen Entscheidungsschlacht in Alarmbereitschaft gesetzt. Ebenfalls durchgehend mit dabei war die normale Schutzpolizei, also die Beamtis, die in ihren Uniformen oder Streifenwagen durch Stadt und Land stromern. Drei Polizeistationen liegen im Kreis Gießen, zwei in der Stadt Gießen, eine im Osten des Landkreises in Grünberg – nur fünf Kilometer von dem bunten Haus in Saasen entfernt. Dem Minister und seinen Vollstreckis reichte das nicht. Also wurde aufgestockt. Die Bereitschaftspolizei aus Mühlheim und die Autobahnpolizei Butzbach griffen ebenfalls in das Geschehen ein und dokumentierten so auf ihre Art, welch starker Wille zum Vollzug auf Seiten der ordnungsliebenden Führungsetagen in Hessen herrschte. Immerhin, dafür lassen sich in Polizeiakten viele Belege finden, waren diese den Aktivistis aus der Projektwerkstatt schon lange auf der Spur. Zwar wurde nie geklärt, ob die Minister, Polizei und Politik ärgernden, illegalen Aktionen in und um Gießen von ihnen ausgingen, aber für Straßenpolizistis und Führungskader war es eine schwer erträgliche Situation, ständig an der Nase herumgeführt zu werden, bei Aktionen nur zusehen oder mit offensichtlich illegalen Mitteln wie Gewahrsamnahmen ohne Verdachtsmomente bzw. willkürlichen Platzverweisen wenigstens für einige Stunden Ruhe zu schaffen. Seit 2002 kam es zu vielen unterschiedliche Aktionen, aber kaum zu Fahndungsergebnissen der Polizei. Die ermittelte stets Richtung Projektwerkstatt und hielt die dort Aktiven nur für so trickreich und gerissen, dass alle Anstrengung ständig ins Leere lief. Also musste etwas Besonderes her, ein endgültiger Schlag gegen die Nervensägen – geplant und durchgeführt wie ein Film in Hollywood. Und manches sah dann auch so aus …

Gehen wir aber zunächst einmal in der Chronologie weiter. Die Repressionsbehörden bereiteten sich auf den großen Schlag vor. Sie schickten eine der drei hessischen High-Tech-Polizeitruppen, das MEK (Mobiles Einsatzkommando), in die Region. Aufgestellt wurde es aber nicht in Gießen an den Objekten, die geschützt werden sollten, sondern rund um die Projektwerkstatt in Saasen. Es ging eben weder um die Verhinderung von weiteren Aktionen noch um die Aufklärung der vorherigen, sondern darum, endlich Menschen aus dem Verkehr zu ziehen, die den Innenminister und seine Schergen störten.


Die LKA-Ermittlis machen sich wieder eigene Gedanken und ziehen ein erstes Resümee:


Nun, das war einfach unübersehbar – und so formulierte es das LKA auch deutlich in seinen Abschlussbericht hinein. Bewirkt hat es nur die schnelle Einstellung: Bloß nicht genauer hingucken. Der Keller ist voller Leichen …

Die Tage vor dem 14.5.2006
Weiter im Mai 2006.
In der Projektwerkstatt ahnte niemand etwas. Erst im Nachhinein informierten sich die Betroffenen, wie solch eine Spezialtruppe aussehen und wie sie erkannt werden könnte. Im Internet hätte sich einiges über das MEK herausfinden lassen – wenn mensch denn gewusst hätte, dass die sich ein paar Meter weiter aufgebaut hatten: „Das Mobile Einsatzkommando (MEK) ist neben dem Spezialeinsatzkommando (SEK), dem Präzisionsschützenkommando (PSK, nur in Berlin) und der Verhandlungsgruppe (VG, nicht in allen Bundesländern eigenständig) eine weitere Spezialeinheit (SE) der deutschen Landespolizeien. Die vorrangige Aufgabe liegt in der Observation besonders gefährlicher Straftäter. Der Zugriff erfolgt anders als beim SEK meistens in Zivil aus der Observation heraus.“
Die hessische Polizei selbst beschreibt ihre Truppe so: „Das Mobile Einsatzkommando gehört zu den Spezialeinheiten der Hessischen Polizei. Weitere dieser Einheiten existieren beim Polizeipräsidium Frankfurt und dem Hessischen Landeskriminalamt. Die örtliche Zuständigkeit dieser Dienststellen erstreckt sich auf das gesamte Land Hessen, in bestimmten Einzelfällen sind aber auch Grenzüberschreitungen zu benachbarten Bundesländern möglich. Das MEK wird insbesondere bei Entführungen, Erpressungen und Geiselnahmen aber auch in Bereichen der organisierten Kriminalität, politisch motivierten Straftaten sowie im Rauschgift- und Waffenhandel und beim Verdacht auf bandenmäßig begangene Delikte eingesetzt. Beim polizeilichen Vorgehen gegen einen oder mehrere Täter obliegt dieser Organisationseinheit die Aufgabe der Observation, unter Umständen lagebedingt auch der Zugriff. Einsätze dieser Truppe erfolgen in der Regel unauffällig, aber nicht im Verborgenen.“
Für die so umstellten Bewohnis und Nutzis der Projektwerkstatt bedeutete das aber nichts. Denn sie ahnten tagelang nichts. Es ist auch nicht so, dass die Aktivistis mit der sonst oft szenetypischen Paranoiabrille herumlaufen und jede Straßenlaterne mit einer Überwachungskamera verwechseln, in jedem Busch ein Observierungskommando wähnen oder jede Person mit abweichender Kleidung als Spitzel verdächtigen. Die politischen Aktionen aus der Projektwerkstatt waren und sind eher von einem offensiven Umgang mit Repression geprägt. Tritt die auf, gibt es genügend geübte Handlungsmöglichkeiten - vom improvisierten Theaterstück, in dem die Ordnungsmacht zur unfreiwilligen Mitspielerin wird, bis zur Verwandlung einer Verhaftung oder eines Gerichtssaal in eine politische Bühne.
Etwas Aufregung entstand dennoch, denn die Ladung zum Haftantritt flatterte – wie von Polizei und Justiz geplant – in das bunte Haus. Bereits um 9.18 Uhr am Tag der Ausstellung warf ein Kurier der Staatsanwaltschaft den knallgelben Brief in der Projektwerkstatt, gleichzeitig Meldeadresse des Betroffenen, ein. Der vereinbarte Schlachtplan zur Ausschaltung des ungeliebten Jörg B. lief an. Das Dorf und die Umgebung – besetzt von Überwachungseinheiten. Drumherum noch viel mehr Polizei, die dann die Festnahme vornehmen sollte. Denn Innenministerium, Polizei und Justiz hofften ja, dass nun die „relevanten Straftat“ erfolgen würde, bei der die „ZP“ festgenommen werden konnte.
Die wenigen, die sich gerade in der Projektwerkstatt aufhielten, als der fatale Brief ankam, überraschte der Haftbefehl nicht. Das Urteil zu acht Monaten Haft lag schon über ein Jahr zurück und war mittlerweile rechtskräftig geworden. Nur eine Unsicherheit war geblieben, denn der Betroffene hatte Verfassungsklage eingereicht und die vielen Grundrechtsverstöße moniert, die Gießener Gerichte genauso wie Polizei und Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen und im Urteil begangen hatten. Bislang hatte sich das höchste deutsche Gericht noch nicht gerührt. Nach Eingang der Ladung beim Betroffenen ratterte am Sitz des Gerichts in Karlsruhe ein Fax aus der Leitung mit der nochmaligen Bitte, den Vollzug der Strafe bis zur Entscheidung auszusetzen. Doch Karlsruhe blieb zunächst stumm. Alle rechneten damit, dass der Haftantritt unvermeidlich war. Die acht Monate sollten genutzt werden für eine Kampagne gegen Strafe und Gefängnisse. Denn es war nie Stil der radikal herrschaftskritisch denkenden Menschen in und um die Projektwerkstatt, ihre eigene Inhaftierung zu bejammern, sondern das System von Einsperren und Strafen insgesamt in Frage zu stellen. Der eigene Knastaufenthalt bot dafür nur den Anlass. So wurde an Internetseiten, Flugblättern und Aktionen gewerkelt, während die High-Tech-Truppe des MEK rund um die Uhr das kleine Örtchen Saasen bewachte. Mindestens einmal fiel einem Dorfbewohner ein verdächtiges Auto auf. Fernab der Projektwerkstatt stand es öfter vor seinem Haus - auch nachts und länger mit Personen im Auto. Der Beobachter rief nervös die Polizeistation in Grünberg an und erfuhr: Alles hätte seine Richtigkeit und er solle das nicht weiter beachten. Auf die Idee, die Aktivistis in der Projektwerkstatt zu informieren, kam aber niemand. Die verdächtigen Autos standen weit weg vom bunten Haus - außerdem redeten nur sehr wenige der Saasener Einwohnis mit Projektwerkstättlis, die sie für radikal, andersartig und vor allem eine Bedrohung ihrer patriarchalen Dorfhierarchien hielten, was ja auch nicht falsch war.
Nur einmal kam es in dieser Zeit zu einem Kontakt mit den bekannten Gesichtern der Gießener Polizei: Am 11.5.2006 um 12.30 Uhr kreuzte die Führung des Staatsschutzes Gießen mit seinem Leiter Mann und dessen Mitarbeiter Broers in der Projektwerkstatt auf, um die dort aktiven Menschen und insbesondere den zum Haftantritt geladenen Jörg B. davor zu warnen, Straftaten zu begehen. Der Gesuchte wurde allerdings nicht angetroffen. Warum der Staatsschutz kam und was genau er erreichen wollte, wussten die beiden offenbar selbst nicht. Die Akten enthalten einen fünf Tage nach dem Besuch niedergeschriebenen Bericht. Als Grund für die Gefahr, dass Farbattacken die Antwort auf den Haftantritt sein könnten, benannte der Staatsschutzchef einen vermeintlichen Parallelfall: „... kam es am 25.12.2005 zu umfangreichen Schmierereien an den Gebäuden des Land- und Amtsgerichtes Gießen, nachdem bei Herrn Bergstedt der Gerichtsvollzieher eine Schuld durch Pfändung eingetrieben hatte“. Blöd nur: Die Pfändung erfolgte am 25.10.2005, schon einen Tag später konnten die Eigentumsnachweise den Beschwerden hinzugefügt werden und die Vollstreckungsstelle rückte alle Geräte am 1.11.2005 wieder heraus. Die Projektwerkstättis waren jedoch solchen Unsinn gewohnt: Namens-, Datums- und Ortsverwechselungen waren und sind bei Uniformierten Alltag, wenn es darum geht, Tathergänge zu manipulieren.
Ein Tag nach dem Auftritt der beiden Staatsschützis brach das Wochenende an. Am Freitag, den 12. Mai, begann in der Projektwerkstatt Saasen ein Organisierungstreffen zu „Antirepression - offensiv und phantasievoll“ - so der Titel des offen, u.a. im Internet eingeladenen Treffens. Der Einladungstext zeigte deutlich, dass es um Theorieseminar ging. Zu lesen war, dass es Zeit würde, „darüber nachzudenken, wie Antirepressions-Ansätze aussehen könnten, welche die Menschen zu Akteurinnen machen und die weit verbreitete Ohnmacht durchbrechen. Welche Möglichkeiten kreativen Umgangs mit Repression sind denkbar? Was könnten Formen offensiver Nutzung von Rechtsmitteln sein? Ist Konspirativität immer ein Schutz vor Repression - und was ist der Preis? Wie kann Horizontalität zwischen Aktivistinnen und Anwältinnen hergestellt werden? Wie lassen sich Rechtsschutz und Antirepression verbinden?“ Die Ladung zum Haftantritt veränderte erwartungsgemäß die Stimmung auf dem Treffen. Der Betroffene selbst war bei dem Seminar anwesend. Zwar gelang noch eine Konzentration auf das eigentliche Thema, aber alle wussten, dass sie sich wohl für längere Zeit das letzte Mal sahen. Ebenso waren sie sicher, dass rund um sie herum die Polizei in Alarmbereitschaft stand. Zwar ahnten sie nichts von der High-Tech-Überwachungstruppe in ihrer Nähe und erst recht nicht von den zwei Tage später vollzogenen, absurden Plänen, die in den Amtsstuben der Uniformierten bereits geschmiedet waren. Aber sie konnten sich noch gut erinnern, wie es bei ähnlichen Anlässen in der Vergangenheit aussah: Vor großen Politikerauftritten oder politischen Gerichtsprozessen war bei der mittelhessischen Polizei immer Alarmstufe Rot angesagt. Schon Spaziergänge nahe an als gefährdet eingestuften Objekten konnten riesige Polizeieinsätze hervorrufen. Mehr als einmal hatten Aktivistis das schon genutzt, um Polizeikräfte zum Narren zu halten und zu absurden Einsätzen zu bringen. Die bislang heftigste Reaktion rief am 9.12.2003 eine öffentliche Gedichtelesung vor dem hell erleuchteten, völlig frei zugänglichen Eingang der Staatsanwaltschaft hervor: 12 Personen wurden verhaftet und sollten für sechs Tage verschwinden, weil sie einen Anschlag auf das Gebäude geplant hatten. Tatwaffe: Die Gedichtezettel. Doch meist waren die Folgen übersichtlicher, und in allen Fällen blieb der Spaßfaktor auf Seiten der Aktivistis. So lag es nahe, auch diesmal, so kurz vor einem umstrittenen Haftantritt, an solche Aktionen zu denken. Eine Ladung zur Haft könnte ja noch größere Nervosität hervorrufen, argwöhnten und freuten sich gleichzeitig die gut beobachteten Menschen in der Projektwerkstatt – und schlitterten am späten 13.5.2006 in eine Nacht, die alles Bisherige um Längen toppen, das Verhältnis zwischen Aktivistis und ihren Verfolgis grundlegend durchschütteln und so für lange eine neue Lage zwischen Politaktiven und Polizei schaffen sollte.
Dabei müssen wir schummeln. Denn es ist nicht möglich, die absurde Nacht in ihrem Ablauf zu verstehen, ohne bereits zu wissen, was von Seiten der Repressionsbehörden geplant war. Stets sollte beim Lesen aber klar sein, dass diejenigen, die sich am Ende in den Haftzellen befanden, zu keinem Zeitpunkt auch nur den Hauch einer Ahnung hatten, was hinter ihrem Rücken geplant war und dann geschah. Es ist also nicht ganz einfach, sich in die hineinzuversetzen, die um Mitternacht zwischen 13. und 14. Mai, d.h. zwischen Samstag und Sonntag, loszogen in Richtung Gießen …

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